HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Organisationseinheit: 39 Reihe: Zeitfragen - Literatur Kostenträger: P.3.1.25.0 Titel: Aphrodite muß warten - Paphos ist Kulturhauptstadt Europas 2017 Autorin: Barbara Spengler-Axiopoulos Redakteur: Carsten Hueck Sendetermin: 02.06.2017 Ton: Andreas Narr Regie: Beatrix Ackers Besetzung: Meriam Abbas, Monika Oschek, Karim Charif, Timur Isik, Tilmar Kuhn Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Sprecherin: Die Mandelbäume blühen zuversichtlich. Der eisige Wind, der vom Meer kommt und ihm Schaumkronen aufsetzt, scheint ihnen nichts auszumachen. Der ockerfarbene Boden ist steinig und rings um das Heiligtum der Aphrodite in Koúklia stehen lehmfarbene Häuschen, wie es sie heute nur noch selten auf Zypern gibt. Man müsse nur ein wenig mit den Händen das Erdreich aufwühlen und schon fördere man Terrakottafigürchen zutage, pflegte der griechische Lyriker und Nobelpreisträger Giorgos Seféris zu sagen. Opfergaben für die kultisch verehrte Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit Aphrodite. Sprecher: Die "Aphrodite Cultural Route" führt quer über die geteilte Insel und bezieht alle wichtigen Stationen des Göttinnen- Kultes ein: ihren sagenhaften Geburtsort am Meer, ihre Tempel, und die Orte, an denen sie der Legende nach erschienen sein soll. 220 Kilometer lang ist diese Strasse der Aphrodite, vom Südosten Zyperns zum Nordwesten, vorbei an Paphos und Koúklia, den wichtigsten Stationen im mythischen Dasein der Göttin. Weit über tausend Jahre, bis zum 4. Jahrhundert nach Christus, war Koúklia der Mittelpunkt des Aphrodite-Kults. An der Pétra tou Romioú, einem Felsblock im Meer bei Paphos, soll die Göttin der Legende nach aus dem Meer gestiegen sein. Zitator: Ich habe Aphrodite gesehen Der halb zur Seite gestürzte Fels Scheint zu stöhnen Unter dem Gewicht, das ihm die Zeit ungefragt auf die Schultern legte. Die Schwäne schlüpften aus Poseidons geheimem Versteck Und reglos blickten sie auf die Welle, und jenseits der Welle auf die sich wiegende Meerjungfrau in der Weite der See. Da schwang sich einer nach dem andern davon, anderswohin, den Morgen mit lichthellen Wassertropfen besprengend. Es war, als trügen sie den brennenden Vorhang des Sommers die heiße Meeresbrise hielt inne, für einen Augenblick, und verlor sich im Wind, während aus dem schmächtigen Abbild des Mondes, aus der aufgehenden Sonne, aus der See, von überallher Aphrodites nackte Trauer stieg. 0-Ton Giorgos Christdoulidis: Ich erinnere mich daran, dass ich bei der Petra tou Romioú an der Stelle stand, wo Aphrodite dem Mythos nach geboren ist. Und obwohl ich oft dort war, hatte ich nie das Bedürfnis,ein Gedicht über sie zu schreiben. Als dann aber die Sonne unter ging und ihr Licht auf den Wellen tanzte, kam mir plötzlich eine Eingebung - das Gedicht ist dann Jahre später erst entstanden. Aphrodite ist ein Symbol für Zypern. Aphrodites Geburtsort bedeutet für mich Unendlichkeit, denn wenn man von oben schaut, sieht man hinter den Felsen das Meer - das sich bis zum Horizont ausdehnt. Sprecherin: Giorgos Christodoulidis ist ein scheuer Dichter. Zu unserem Treffen in einem Café hat er sich lange bitten lassen, denn hauptberuflich ist der 1968 in Moskau Geborene Journalist einer Nachrichtenagentur in Nicosia. Weil Paphos, die viertgrößte Stadt Zyperns,in diesem Jahr neben dem dänischen Aarhus Kulturhauptstadt Europas ist, hat die Literarische Gesellschaft von Paphos einen Lyrikband heraus gegeben, der Gedichte über Paphos von der Antike bis heute versammelt. Griechische Lyriker haben darin zumeist Aphrodite, die lange Geschichte der heute geteilten Insel und deren Eroberungen thematisiert. Während ihre türkischen Kollegen sich mit der aktuellen politischen Situation befassen. Der vielfach in seiner Heimat ausgezeichnete Giorgos Christodoulides, dessen Gedicht auch in der Anthologie zu finden ist, nippt an seinem Cappuccino: O-Ton Giorgos Christodoulides: Ich glaube, dass dieses Jahr nicht nur für Paphos sehr wichtig ist, sondern für ganz Zypern, denn es geht um Kultur. Etwas ist in Bewegung geraten, etwas Lebendiges ist entstanden. Ich weiß von anderen internationalen Lyrik- und Literaturfestivals, dass eine besondere Atmosphäre entstehen kann. Es ist wie in einem Treibhaus. Dein Rhythmus verändert sich und du bist wie in Trance, wenn du an solchen Veranstaltungen teilnimmst. Alle strahlen und versuchen, ihr Bestes zu geben. Also, das ist schon ein wichtiges Ereignis! Sprecher: Dass ausgerechnet das an der griechisch-zyprischen Südküste gelegene Paphos mit seinen 33.000 Einwohnern Kulturhauptstadt Europas wurde, verärgert die Städte Nicosia und Limassol. Sie halten sich für bedeutender als ihre kleine Schwester. Der Kinderarzt Dr. Andreas Petridis, Vorsitzender der Literarischen Gesellschaft von Paphos, begrüßt aber die Entscheidung. Obwohl schon im Pensionsalter, betreibt er noch seine Arztpraxis und sagt, fast jeden zweiten Tag fänden dort leidenschaftliche Debatten über Literatur statt. Petridis hat in Deutschland studiert. 1980 ließ er sich hier in der Provinz nieder und pflegt seitdem auch seine große Liebe, die Literatur. Er ist Herausgeber, Übersetzer und Dichter. Dr. Andreas Petridis: Paphos hat einen großen Vorteil auf der Waage und das hat eine Rolle gespielt für die Einschätzer. Es hat eine sehr lange Geschichte. Archäologisch ist das der reichste Bezirk hier. Paphos war einmal die Hauptstadt Zyperns in der römischen Zeit. Hier war die Aphrodite geboren nach der Mythologie. Das hat alles eine Rolle gespielt, dass Paphos als Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas diesen Titel gewonnen hat. Sprecherin: Paphos besteht aus zwei Teilen. In Kato Paphos unten am Meer finden sich beeindruckende Zeugnisse der Antike. Die römischen Mosaike und ptolemäischen Königsgräber gehören seit 35 Jahren zum Weltkulturerbe der UNESCO. Hierher zieht es die Touristen. Ein paar Kilometer weiter oberhalb, in Ktíma oder Ano Paphos, sind die Einheimischen unter sich. Im Shelley-Haus, einer alten Villa in der Nähe des Archäologischen Museums, herrscht rege Betriebsamkeit. In hohen Räumen sitzen junge Leute an ihren Rechnern, lesen Computerausdrucke, nehmen Telefonanrufe entgegen und bitten Besucher, sich noch ein wenig zu gedulden. Ich bin im Organisationsbüro der künstlerischen Leitung der Kulturhauptstadt. O-Ton Georgia Doetzer: Paphos wurde Kulturhauptstadt, weil es das beste Programm hatte! Und wir haben hier auch das größte Engagement seitens der Bevölkerung. Das Programm von Paphos - die Open Air Factory - ist von Offenheit geprägt. Den Bezug auf beide Bevölkerungsgruppen der geteilten Insel gab es nur in unserem Konzept. Ich glaube, das hat die Verantwortlichen in Europa überzeugt. Und wir machen die Schwächen der Stadt zu etwas Besonderem. Es gibt hier keine geeigneten Gebäude für Veranstaltungen. Daher lassen wir sie im Freien stattfinden. Wir nutzen einfach das gute Wetter aus. Sprecher: Georgia Doetzer,eine erfahrene Kulturmanagerin, ist die künstlerische Leiterin von Paphos 2017. Ein Arbeitstag von 17 Stunden, sagt sie, sei für sie die Regel, dieses Projekt übertreffe alle bisherigen. Hier müsse alles neu entwickelt werden, sie könne auf keine bestehenden Netzwerke zurückgreifen. Doetzer, eine zierliche Fünfzigerin mit schicker Kurzhaarfrisur, ist zu jeder Tageszeit bereit, ihr Konzept zu vermitteln. Sie atmet kurz durch, spricht mit einer Mitarbeiterin und wendet sich wieder dem Besuch aus Deutschland zu. O-Ton Georgia Doetzer: Wir erinnern uns nur allzu gut daran, wie im Jahr 2013 die große Finanzkrise Zypern heimsuchte und ein Teil unserer Spareinlagen verloren ging. Das künstlerische Programm von "Paphos 2017" sollte 15 Millionen ? kosten. Heute müssen wir es mit knapp 5 Millionen ? hinkriegen. Dass das gelingt, glaube ich, hängt von der Einstellung ab, die man hat und dem Rahmen, den man sich setzt. Sprecherin: Georgia Doetzer blättert im knapp zweihundert Seiten starken Katalog von "Paphos 2017". Sie deutet auf einige Veranstaltungen, Kunstausstellungen, Konzerte und Inszenierungen, auf die sie besonders stolz ist. Am meisten erfreut sie, dass etliches über das Kulturjahr hinaus Bestand haben wird. Die Oberstadt zum Beispiel wird im Rahmen von "Paphos 2017" von Grund auf saniert. Sprecher: Auch der Platz des 28. Oktober im Zentrum von Ano Paphos bekommt ein neues Gesicht. Der 28. Oktober 1940 war der Tag, an dem sich griechische Truppen erfolgreich dem Einmarsch Mussolinis widersetzten. Er wurde zum griechischen Nationalfeiertag. Von den Baustellen ringsum ist gedämpfter Lärm zu hören, aber auch Vogelstimmen sind vernehmbar. Dem Rathaus gegenüber ist ein riesiger Kreis aus hellem Marmor in den Boden eingelassen. In verschiedenen Sprachen sind hier Liebesgedichte zu Ehren der Aphrodite eingraviert. Die meisten von ihnen sind verblasst oder vom Regen ausgewaschen. Ein kleiner älterer Mann mit orangefarbener Baseballkappe kniet andächtig am Boden und zeichnet mit einem feinen Pinsel die Buchstaben in schwarz nach. Bereits aufgefrischt hat er Verse der Sappho, Zeilen von Jaques Prévert, ein Gedicht von Robert Frost und die "Geburt der Venus" von Rainer Maria Rilke: Zitator: Von erster Sonne schimmerte der Haarschaum der weißen Wogenscham, an deren Rand ein Mädchen aufstand, weiß, verwirrt und feucht. O-Ton Gedichteausmaler: Ich male. Ich zeichne hier die Buchstaben nach, die unlesbar geworden sind. Das sind alte Gedichte, erotische Gedichte. Diese erotischen Lieder sind sehr wichtig für Paphos. Bis morgen Mittag werde ich damit fertig sein. Sprecherin: Auf dem Untersuchungstisch seiner Arztpraxis breitet derweil Andreas Petridis seine Schätze aus: seine Rilke-Übersetzungen, daneben zwei Bände, in denen es um Literaturtheorie und Ästhetik geht und "in focus", die Literatur- und Kunstzeitschrift, an der er mitwirkt. Dass Paphos Kulturhauptstadt wurde, hat ihm die Chance gegeben, auch eine Anthologie mit Gedichten über die Stadt und ihre Legenden herauszugeben. Er streicht vorsichtig mit der Hand über die glatte Oberfläche der Gedichtsammlung: O-Ton Dr. Andreas Petridis: Wir haben ein gutes, ein großes Album mit dem Titel "Poesie für Paphos von der Antike bis heute" vorbereitet und realisiert, das ist veröffentlicht. Das ist ein Album in zwei Sprachen, Griechisch und Englisch, multikulturell oder multinational, kann man sagen, wir haben auch die türkischen Zyprioten drinnen. Sprecher: Heute kann der Besucher den türkischen Teil der Insel bequem erreichen, er muss nur einen Reisepaß vorlegen. Einen Steinwurf entfernt vom Checkpoint in der Ledrastrasse im Herzen der Altstadt von Nicosia liegt in Lefkósa, im türkischen Teil, das Café Lorenza. Die Holzeinfassungen der lila Ledersofas sind mit goldener und silberner Farbe bemalt, die Musik ist griechisch und die Begrüßung herzlich. Das Lorenza ist ein beliebter Treffpunkt von Künstlern und Bohemiens. O-Ton Gürgenc Korkmazel: Ich denke, dass im Programm von "Paphos 2017" die Literatur nicht genügend beachtet wurde. Es gibt viel Visuelles, Musik und Theater. Mehr Literatur hat anscheinend nicht ins Programm gepaßt. Es ist nicht Ausschlag gebend, ob im Programm genügend türkische Zyprer vertreten sind - ich hätte mir einfach insgesamt mehr Literatur gewünscht, auch internationale Schriftsteller, nicht nur zyprische. Sprecher: Der Dichter Gürgenc Korkmazel wartet schon seit einer Weile, denn die Gäste aus Deutschland haben die Zeitverschiebung nicht einkalkuliert; hier im türkischen Teil der Insel geht die Uhr nun eine Stunde vor. Sprecherin: Seit der türkischen Invasion 1974 trennt die Green Line Nordzypern von Südzypern auf einer horizontalen Achse von 270km Länge. Sie wird von 900 UN-Soldaten bewacht. 1/3 der Inselbewohner wurden über Nacht zu Flüchtlingen; 160.000 griechische Zyprer wurden aus dem Norden der Insel vertrieben und etwa 40.000 türkische Zyprer aus dem Süden. Die Familie von Gürgenc Korkmazel stammt aus Paphos. 3.000 türkische Bewohner mussten die Stadt damals verlassen. Korkmazel und sein Bruder, ein Photograph, sind bekannte Persönlichkeiten im Kulturleben der Insel. Korkmazel, ein sympathischer Endvierziger, unrasiert, mit langen Haaren und grünem Anorak, setzt sich seit Jahren für einen unvoreingenommenen Dialog beider Bevölkerungsgruppen ein: O-Ton Gürgenc Korkmazel: Denke ich an Kunst oder Literatur, würde ich gerne mehr Arbeiten sehen, in denen auch Selbstkritik und Selbstreflexion eine Rolle spielen. Davon lese ich bisher fast nichts, aber ich denke, jeder Schriftsteller und Künstler sollte sich damit auseinandersetzen. Hier bei uns pflegt man den traditionellen Standpunkt, immer die anderen für alles verantwortlich zu machen. So kommen wir nicht weiter! Wir sind eine kleine Insel, hierher paßt keine Grenze, das ist unnatürlich! Sprecher: In seiner Prosa und seinen Gedichten setzt sich Korkmazel mit der besonderen Situation Zyperns auseinander; er urteilt nicht, er beobachtet still, mit poetischem Blick. Sein Gedicht, das für den Band über Paphos ausgewählt wurde, lautet: "Wasser... keine Dichtung mehr." Zitator: Seit den Zeiten der Aphrodite War diese Insel eine Müllhalde der Liebe Unsere Füsse gefangen in Wurzelschlingen In den Überresten aus der Herrschaft der Eroberer..... Auch Wasser bringt Erlösung nicht nur die Dichtung... So viele Gedichte über einen so winzigen Ort. Bitte hört auf zu schreiben, genug. Pflanzt einen Baum, grabt nach Wasser. Sprecherin: Besonders für die türkischen Zyprer ist die Verbindung zum griechischen Teil von elementarem Interesse - wegen der Nähe zu Europa und zur Europäischen Union. Man schätzt, dass 80.000 türkische Zyprer den begehrten Pass der Republik Zypern besitzen. Vielleicht, meint der Arzt und Literaturfreund Andreas Petridis, bringt"Paphos 2017" mit seinem internationalen Ansatz eine weitere Annäherung der geteilten Bevölkerung. O-Ton Andreas Petridis: Das Multinationale und das Multikulturelle ist ein Hauptfaktor in der Vorbereitung von Paphos als Kulturhauptstadt Europas. Nationalismus ist nicht die Gegenwart hier auf Zypern. Das ist selbstverständlich, dass wir mit unseren türkischen Kompatrioten auch eine friedliche, gute Zukunft schaffen. Sprecher: Zurück in Paphos, braucht der Besucher in diesen Tagen Geduld. Große Teile der Innenstadt sind zum Verdruß der ortsansässigen Autofahrer im Umbau, wichtige Verkehrsstrassen aufgerissen und Umleitungen verwirren vor allem Ortsunkundige. Am Abend aber kehrt magische Stille ein. Wenige Fußgänger sind in der kleinen Stadt unterwegs und die Fremden unter ihnen setzen ihre Schritte vorsichtig, um Baugruben und Erdhaufen auszuweichen. Sprecherin: Biegt man links um die Ecke der Makaríoustrasse, landet man in verwunschenen, unbewohnten Strässchen. Erdhügel sind ausgehoben, um Glasfaserkabel zu verlegen. Die blinden Fenster der alten Häuser werden neu gerahmt. Das ehemals türkische Handwerkerviertel Ibrahim's Khan soll zu neuem Leben erweckt werden. Sprecher: Die Sanierung und Revitalisierung der ehemals von Türken bewohnten Quartiere gehört zu den Lieblingsprojekten Georgia Doetzers: O-Ton Georgia Doetzer: Im Oktober wird es an zwei Orten, der Gemäldegalerie von Paphos und in ein Treffen griechischer und türkischzyprischer Schriftsteller geben. Ibrahim's Khan wurde wegen seiner symbolischen Bedeutung ausgewählt. Darüber hinaus gibt es unter dem Titel "Zurück in Moúttalos" weitere Veranstaltungen. Moúttalos ist das Quartier von Paphos, in dem vor 1974 hauptsächlich Türken lebten. Dieses Viertel blieb über all die Jahre völlig unberührt, da die Griechen, die diese Häuser nach 1974 bezogen, das Gefühl hatten, nicht hierher zu gehören. Die, die heute hier leben, möchten gern in ihre Heimat zurück und die, die eigentlich hier leben sollten, können nicht da sein. Wir haben das Gefühl, dass hier etwas unerledigt geblieben ist. Und deswegen wird Moúttalos ein wichtiger Bezugspunkt in einer Reihe von Veranstaltungen und Aktivitäten sein. Sprecherin: Der Architekt und Dramatiker Giannis Agisiláou ist ein schmaler, dunkelhaariger Mann mittleren Alters mit Brille. Seinen grauen Kapuzenpullover hat er heute über den Kopf gezogen. Er bespricht mit den Bauarbeitern die Fortführung der Sanierung des Platzes des 28. Oktober. Die schon monatelang währenden Baumaßnahmen im Stadtzentrum von Paphos erleben viele Bürger als Zumutung. Es ist, als solle die Provinzstadt mit Macht aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen werden. O-Ton Giannis Agisilaou: Das gesamte Ensemble hier besteht aus dem Platz des 28. Oktober mit der Siegessäule und dem Kostis-Palamás-Platz, in dessen Mitte ein Pavillon mit einer kleinen Statue der Aphrodite steht. Dies sind die beiden Hauptelemente und im Dialog mit ihnen werden die beiden Plätze vereint und saniert. Sprecher: Der Platz, auf dem der Pavillon steht, ist nach dem griechischen Nationaldichter Kostis Palamás genannt. In seiner Nähe grüssen die aufgefrischten Liebesgedichte zu Ehren der Aphrodite. Der Platz des 28. Oktober gegenüber erscheint wie ein weltentrückter Ort aus fernen Zeiten. Man fühlt sich in ein Gemälde Giorgio de Chiricos hineinversetzt. Wenn alles fertig ist, wird hier eine große Fußgängerzone entstehen. O-Ton Giannis Agisilaou: Wie Sie sehen, hat dieser Platz Charakteristika, die ihn einzigartig machen. Die Gebäude, die ihn einrahmen, sind neoklassizistisch. Als man in europäischen Städten schon in modernem Stil baute, waren die Bürger von Paphos noch eine englische Kolonie und wollten beim Städtebau ihre griechische Identität hervorheben. Als wir zu planen begannen, spürten wir die architektonische Notwendigkeit, alle Elemente dieses Platzes miteinander verbinden: im Zentrum die Säule des 28. Oktober, eine Säule im ionischen Stil, gegenüber die Dimitrios-Grundschule, auch ein neoklassizistisches Gebäude, rechts von mir das Rathaus im dorischen Stil, gegenüber die Stadtbibliothek wieder im ionischen Stil und daneben, die Léschi Efsewía, ein Herrenclub, der auch Anfangselemente dieses Baustils aufweist. Sprecherin: Fast alle Geschäfte am Platz sind gerade geschlossen. Nur die Buchhandlung von Frau Iró ist an diesem Morgen geöffnet. Die Jalousien sind heruntergelassen, in einer Ecke sitzt ihr Mann und liest Zeitung. Sie selbst hat sich eben beim Friseur um die Ecke die Haare schneiden lassen. O-Ton Buchhändlerin Frau Iró: Leider haben wir wegen der Bauarbeiten alle unsere Kunden verloren, es ist für sie schwierig, jetzt hierher zu kommen. Die sind ganz schön im Verzug mit den Bauarbeiten! Dennoch ist es gut, dass umgebaut wird. Im Moment sind wir nur noch ein Papierwarenladen, seit fast einem Jahr bestelle ich keine Bücher mehr nach. Es kommt ja niemand mehr in meinen Laden, warum sollte ich also welche besorgen? Sprecher: Die Verantwortlichen der Kulturhauptstadt wissen, was sie ihren Mitbürgern zumuten. So bemühen sie sich um eine positive Stimmung - und nehmen die Zukunft in den Blick. O-Ton Georgia Doetzer: Wir, die hier leben, sehen nicht, dass die Stadt aufgerissen, sondern dass sie wieder hergerichtet wird! Wir sehen die positive Entwicklung, dass diese Stadt bis Ende 2017, weil sie Kulturhauptstadt Europas wurde, eine schön restaurierte Stadt sein wird. Paphos war unterschätzt. Ich würde sogar sagen, dass die Welt sie ein wenig vergessen hatte. Besucher sehen Baustellen und aufgerissene Strassen. Wer aber hier lebt, sieht, dass dies ein notwendiger Prozeß ist, damit die Stadt schöner wird! Sprecherin: Unten am Meer schlagen die Wellen im Rhythmus der Jahrtausende an den Strand; hier in Kato Paphos reiht sich ein Fastfoodlokal an das andere, eine Cafeteria an die nächste. Riesige Discounter laden zum Einkaufen ein und russische Boutiquen, Schönheitssalons und Pelzgeschäfte warten auf Kunden. Immobilienbüros bieten in russischer, chinesischer und arabischer Sprache Eigentumswohnungen in "Gated Communities" an. Sprecher: Nicht weit entfernt befinden sich die berühmten archäologischen Stätten von Paphos, die Überreste römischer Villen mit ihren Mosaiken und die Königsgräber. Für Giannis Agisiláou haben sie eine besondere Bedeutung: O-Ton Giannis Agisilaou: Paphos ist eine kleine Stadt mit einer Wahnsinnsgeschichte und wenn man bewußt lebt, spürt man das. Als wir noch Kinder waren, spielten wir in diesen archäologischen Stätten, zwischen dieser Geisterstadt und unserer Stadt oben aus dem Mittelalter. Dann war da noch Koúklia, das antike Paphos, wo das Heiligtum der Aphrodite liegt. Alles das fängt irgendwann an, in dir zu arbeiten. Sprecherin: Agisiláou ist nicht nur Architekt, sondern auch ein erfolgreicher Stückeschreiber. Das Theater, sagt er, sei für ihn die ideale Literaturform, denn wie bei der Architektur müsse alles einen funktionalen und einen ästhetischen Bezug haben. In Nicosía wird derzeit sein neues Stück "Die Einsamkeit des Königs" aufgeführt. Es ist ein Spiel im Spiel. Der König der Makedonier, Alexander der Große, fühlt sich von einem General verraten. Die Schauspieler und der Regisseur des Stückes reflektieren diese Problematik. Sprecher: Auch die junge Dichterin Maria Mitletton arbeitet mit Figuren aus der Antike. Sie spricht langsam und tastend auf der Suche nach den richtigen Worten. Schwarz ist der Minirock, schwarz das Jäckchen und schwarz sind ihre Stiefel. Soeben erschien ihr erster Lyrikband, "Frauenstimmen". In ihm verleiht sie weiblichen Gestalten aus der Mythologie Gehör wie in "Iphigenie, Klage einer geopferten Priesterin": Zitator: Die Priesterin der Artemis wollte sie nicht sein, nicht schwarze Opferkleider tragen, die schwarzen Handschuhe der Opfertat.... in bunten Kleidern wollte sie Weit weg von Minenfeldern tanzen.... In das Bett des Geliebten sinken. Sie wollte Priesterin der Aphrodite sein. Sprecherin: Im Brotberuf ist Maria Mitletton Lehrerin, denn wie ihre Kollegen, die als Journalisten, Ärzte oder Architekten arbeiten, kann auf Zypern niemand vom Schreiben allein leben. Es gibt keine Stipendien oder Förderprogramme und so ist es notwendig, einen zweiten Beruf auszuüben. Sprecher: Die Lyrikerin und Lehrerin liebt ihre Stadt. Seit Paphos Kulturhauptstadt wurde,ist der Provinzalltag zwar in Bewegung geraten, ihre Geheimnisse aber bleiben bestehen: O-Ton Maria Mitletton: Es gibt noch ein unterirdisches Paphos im Tiefschlaf - die archäologischen Stätten, die noch nicht ausgegraben sind. Da ruhen die Geschichten, die noch nicht geschrieben wurden, die es aber vielleicht im Gedächtnis der Menschen gibt. Ich sehe eine Stadt im Wandel, die trotzdem ihre ursprüngliche Schönheit behalten hat. Sprecherin: Wie wird der Titel Kulturhauptstadt Europas Paphos verändern? Und was haben haben Organisatoren, Bewohner und Künstler in Zukunft davon? O-Ton Giannis Agisiláou: Nach den offiziellen Veranstaltungen wird etwas bleiben. Wir sprachen von der Vergangenheit, jetzt leben wir in der Gegenwart: in Bezug auf die Zukunft ist sehr wichtig, was in diesem Jahr hier passiert. O-Ton Maria Mitletton: Bisher gab es hier keine Orte, an denen sich Künstler treffen konnten, es gibt hier keine Avantgarde. Es wäre schön, wenn ich in Paphos Künstler auf den Straßen sehen könnte, die Musik machen oder die ihre Bilder ausstellen. Dass Kultur selbstverständlich zum Alltag gehört, hat mir hier immer gefehlt. Ich glaube, dass die Open-Air-Factory das Aussehen der Stadt verändern wird: dass überall etwas Kreatives geschieht, dass die Veranstaltungsorte draußen sind und man so leichter miteinander in Kontakt kommt. O-Ton Georgia Doetzer: Die Stimmung ist gut. Vieles, was geschieht wie die Sanierung der Stadt und der menschliche Zusammenhalt, der dabei entstanden ist, werden zur höheren Wertschätzung der Kultur in unserer Stadt beitragen. **************************** 1