DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 04.03.2014 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 - 20.00 Uhr "You are not a loan!" Oder: Kapitalismus als Schuldenökonomie Von Barbara Eisenmann URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - MUSIK (Stromae. Alors on danse, der Geräuschbüroatmoanfang) SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Man sagt uns, es sei unsere eigene Schuld. 76% der US-Amerikaner sind Schuldner. MUSIK (Thilges 3, Deaf is not the end) ÜBERSETZER 1 Der verschuldete Mensch steht für eine neue Form von Herrschaft im gegenwärtigen Kapitalismus. MUSIK (Stromae. Alors on danse, der Geräuschbüroatmoanfang) SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Wie kann es möglich sein, dass drei Viertel von uns, was unsere Gelddinge angeht, versagt haben. MUSIK (Thilges 3, Deaf is not the end) ÜBERSETZER 2 Womit wir es zu tun haben, ist eine Regierung der Schulden. MUSIK (Stromae. Alors on danse, der Geräuschbüroatmoanfang) SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Warum schulden wir dieses Geld überhaupt? MUSIK (Thilges 3, Deaf is not the end) O-TON Der offizielle Diskurs ist ein Diskurs der Vermögenden, und auf jeden Fall ist die Geschichte, die uns da erzählt wird, die Geschichte der Vermögenden, die ihr Geld zurückhaben wollen. MUSIK (Stromae. Alors on danse) Qui dit argent dit dépenses Qui dit crédit dit créance. Qui dit dette te dit huissier. oui dit assis dans la merde. MUSIK (Thilges 3, Deaf is not the end) SPRECHER (auf Musik) Wer Geld sagt, sagt Ausgaben, Wer Kredit sagt, sagt Schuld, Wer Schulden sagt, sagt Gerichtsvollzieher, Wer ja sagt, sitzt in der Scheiße. MUSIK (Stromae. Alors on danse) Qui dit argent dit dépenses Qui dit crédit dit créance. Qui dit dette te dit huissier. oui dit assis dans la merde. MODERATORIN 1 3 kritische Forscher. 3 Sprachen. 3 Herangehensweisen. MODERATORIN 2 Der italienisch-französische Forscher Maurizio Lazzarato. O-TON La personne indettée c´est une nouvelle forme de domination dans le capitalisme contemporain. ÜBERSETZER 1 Der verschuldete Mensch steht für eine neue Form von Herrschaft im gegenwärtigen Kapitalismus. MODERATORIN 1 Der spanische Forscher Emmanuel Rodríguez. O-TON Al fin y al cabo lo que tenemos es un mecanismo de gobierno a través de la deuda. ÜBERSETZER 2 Womit wir es zu tun haben, ist eine Regierung der Schulden. MODERATORIN 2 Der deutsche Forscher Stefan Heidenreich. O-TON Der offizielle Diskurs ist ein Diskurs der Vermögenden, und auf jeden Fall ist die Geschichte, die uns da erzählt wird, die Geschichte der Vermögenden, die ihr Geld zurückhaben wollen. MODERATORIN 1 Alle 3 schauen sich an, wie der Kapitalismus heute funktioniert und was sich seit den siebziger Jahren geändert hat. MODERATORIN 2 Alle 3 nehmen die ökonomische und die politische Dimension der gegenwärtigen Schuldenökonomie in den Blick. MUSIK (Thilges 3, Deaf is not the end) SPRECHER (auf Musik) You are not a loan! Oder: Kapitalismus als Schuldenökonomie. Ein Feature von Barbara Eisenmann SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Remember: You are not a loan! MODERATORIN 1 (buchstabiert deutsch) a l - o - a - n: a loan. Bedeutet: ein Darlehen a - l - o - n - e: alone. Bedeutet: allein You are not a loan! ist ein Wortspiel: "Du bist nicht allein" beziehungsweise "Du bist kein Darlehen". MODERATORIN 2 Der Slogan ist von Strike Debt, einer Initiative von Occupy Wallstreet. Sich den Schulden zu widersetzen, ist ihr Ziel. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Weil Schulden von soviel shame, frustration und Angst umgeben sind, sprechen wir selten offen mit anderen darüber. O-TON ÜBERSETZER 1 Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus steht das Verhältnis Kapital/Arbeit, der Kapitalist auf der einen und der Arbeiter auf der anderen Seite, nicht mehr im Zentrum der politischen Ökonomie. Es wird heute überlagert vom Gläubiger/Schuldner-Verhältnis. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Der erste Schritt beim Aufbau einer Schuldenwiderstandsbewegung ist, uns openly über die vielen Formen auszutauschen, in denen Schulden uns direkt und indirekt betreffen. MODERATORIN 1 Aus: The Debt Resistors´ Operations Manual. MODERATORIN 2 Im Internet kann man sich das Schuldenwiderstandshandbuch von Occupy Wallstreet, Strike Debt, herunterladen. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) We have only one thing to say: We owe you nothing. Wir schulden euch nichts. MUSIK (Jingle für alle Zwischentitel, Thilges 3, Deaf is no the end) SPRECHER (auf Musik) Eins: Der Anfang der Krise. MODERATORIN 1 Rodríguez geht in die siebziger Jahre zurück. O TON ÜBERSETZER 2 Zunächst einmal hatte man es ab den siebziger Jahren mit einer globalen Überproduktion in den Schlüsselindustrien zu tun. Die USA war nicht mehr die unumstrittene Industrienation, als die sie aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangen war. Inzwischen gab es auch einen europäischen Block mit Produktionskapazitäten vergleichbarer Industriegüter, die den Amerikanern die Marktquoten streitig machten. Auch Japan trat damals in Erscheinung. Und das alles hat sich in einer Überproduktion ausgedrückt und hat zu einem Fall der Gewinne in den damaligen Schlüsselindustrien geführt: der Automobilindustrie, der Konsumgüterindustrie usw. Und deshalb ist dann ein Druck auf die Löhne entstanden, die ziemlich hoch waren. Selbst in Spanien waren die Löhne in den sechziger und siebziger Jahren jährlich um 20, 25, 30% gestiegen. Der Lohn ist damals ein Faktor der Nachfrage gewesen, war an die Produktivität gekoppelt. Man kann sagen, dass wir es bis in die siebziger Jahre hinein mit einem kapitalistischen Akkumulationsmodus zu tun hatten, den man als fordistischen Keynesianismus kennt. Und dieses keynesianisch-fordistische Modell ist in die Krise geraten. MODERATORIN 2 Im fordistischen Modell des Industriekapitalismus, etwa von 1945 bis 1973, wanderte das Geld noch in die Fabrik, um sich zu vermehren. Um zu mehr Geld zu werden. Zu Kapital. Das dann wieder in die Fabrik geht. Um sich weiter zu vermehren. Um zu noch mehr Kapital zu werden. Und immer so weiter. MODERATORIN 1 Man nennt das auch Wachstum. MODERATORIN 2 Oder Akkumulation. MODERATORIN 1 Seit gut 30 Jahren sinken die Wachstumsraten in den Industrienationen nun schon. MODERATORIN 2 Inzwischen sind bereits für die Hälfte der weltweiten Produktion die Schwellenländer verantwortlich. MODERATORIN 1 Und trotzdem steigen die Profite der Industriestaaten, weil Geld sich heute anders vermehrt. MODERATORIN 2 Die Löhne sinken aber. O-TON ÜBERSETZER 2 Weil der Lohn sich von einem Nachfragefaktor in einen Kostenfaktor verwandelt hat. Um eine Wirtschaft wachsen zu lassen, muss es aber Nachfrage geben. Nachfrage entsteht entweder durch Export - das chinesische Modell, auch das deutsche innerhalb der EU - oder durch öffentlichen Konsum und durch privaten Konsum. Was nun den privaten Konsum der Haushalte angeht, wird die Sache interessant, denn er war an die Löhne gekoppelt: je höher die Löhne desto höher der Konsum. Das ist im Wesentlichen das fordistische Gleichgewicht gewesen. Und solange dieses Gleichgewicht, hergestellt über gewerkschaftliche Kontrolle, also eine politische Kontrolle, noch funktioniert hat, war alles in Ordnung. Als das aber nicht mehr funktioniert hat, brach das Modell zusammen. MUSIK SPRECHER Zwei: Der Aufstieg der Schuldenökonomie. MODERATORIN 1 Immer mehr Geld entsteht inzwischen ohne den Umweg über die Fabrik. MODERATORIN 2 Außerhalb der Warenproduktion. MODERATORIN 1 Die Banken stellen es selber her, indem sie Geld verleihen, das es vorher noch nicht gegeben hat. MODERATORIN 2 Sie sind jetzt die neuen Fabriken, die aus Geld mehr Geld machen. MODERATORIN 1 Banken müssen heute in der Eurozone nur mehr 1% der von ihnen verbuchten Gelder bei der Europäischen Zentralbank als Bargeld deponieren. MODERATORIN 2 Die restlichen 99% können sie ihren Kunden als Kredite gutschreiben. MODERATORIN 1 Je mehr Kredite, desto mehr Geld. MODERATORIN 2 Indem Banken Schuldner produzieren, schöpfen sie Geld. MODERATORIN 1 Und so entstehen Geldvermögen buchstäblich aus dem Nichts. MODERATORIN 2 Als Zahlen auf einem Konto. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Trotz aller Anstrengungen in den letzten 40 Jahren sind die ninetynine, die 99% von uns, immer noch tiefer in die Falle der Schulden bei dem 1% der Vermögenden hineingerannt. O-TON Das wird uns tatsächlich systematisch vorenthalten, dieses Wissen, dass die Vermögen des einen immer die Schulden des anderen sind. Aber das ist ja ganz klar: Wenn jemand anderes irgendein Vermögen haben soll, dann hat er das deswegen, weil es eben jemand schuldet. Das ist das Vermögen. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) In den letzten 40 Jahren haben wir immer longer and longer gearbeitet, um die steigenden Lebenshaltungskosten bezahlen zu können: Wohnen, Gesundheit, Bildung. Aber ohne plastic, ohne Plastikgeld, würde uns das nicht gelingen. MODERATORIN 1 Plastikgeld heißt Kredit. MODERATORIN 2 Man musste den Leuten, die nicht mehr genug Geld verdienten, Kredit geben. MODERATORIN 1 Zum Wohnen, zum Studieren, für Krankheitskosten, zum Überleben. MODERATORIN 2 Auch um den Konsum bzw. die Nachfrage in Gang zu halten. MODERATORIN 1 Das alte Fabrikmodell: Geld geht in die Fabrik, vermehrt sich, wird Kapital usw. O-TON Du hast, um einen Kredit zu vergeben, 3 Möglichkeiten. Du vergibst den Kredit an jemanden, von dem du weißt, von dem krieg ich des Geld zurück und ich krieg auch noch die Zinsen zwischendurch gezahlt. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Mit beinahe 700 Millionen Kreditkarten im Umlauf kann man sagen, dass einen Geldbeutel full of Plastikgeld zu besitzen, zum American way of life geworden ist. Da ist unser plastic Sicherheitsnetz. O-TON Oder du vergibst den Kredit an jemanden, ok du weißt, der kann zwar mir die Zinsen bedienen, aber des Geld seh ich von dem nicht unbedingt wieder, das ist ein Problem, aber du vergibst den Kredit trotzdem, weil du dann die Zinsen kassierst, was auch immer in der näheren Zukunft passiert. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Kreditkartenunternehmen machen in den USA das meiste Geld mit Leuten, die disconnected sind. Sozial, emotional, auch wohnungsmäßig ausgegrenzte Menschen. Weil sie von ihnen die höchsten Zinsen kassieren können, wegen des Risikos. O-TON Das dritte ist, du vergibst den Kredit an jemanden, von dem du weißt, er kann dir den nicht zurückzahlen und er kann die Zinsen nicht bedienen. Des ist in der amerikanischen Häuserkrise massiv passiert. MODERATORIN 2 Das Geldfabrikmodell hat sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausgedehnt. MODERATORIN 1 Stefan Heidenreichs 3 Möglichkeiten zeichnen einen historischen Verlauf nach, aber auch eine zunehmend riskanter operierende Geldfabrik. MODERATORIN 2 Die Kreditvergabe an mittellose Leute funktioniert nur, solange es einen materiellen Gegenwert gibt. MODERATORIN 1 Beispielsweise Häuser, deren Preise steigen, weil staatliche Anreize die Nachfrage erzeugt haben. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Obwohl ihr bei ownership society, bei "Eigentümer-Gesellschaft", bestimmt an George W. Bush denkt, stammt das Konzept actually aus der Clinton-Ära. Sein Programm der "Nationalen Hauseigentümer-Strategie: Partner für den American Dream hat aus 8 Millionen Niedriglöhnern Immobilienkäufer gemacht. Es war ganz klar die Politik, die der Subprime-Industrie die Tür aufgemacht hat. O-TON Angenommen, du willst ein Haus für 100.000 kaufen, hast aber Einkommen null, ich geb dir den Kredit, du musst mir in 10 Jahren die 100.000 zurückzahlen, plus du zahlst mir so und so viele Zinsen, wenn die Spekulation so aussieht, dass der Wert des Hauses auf 200.000 steigt in den 10 Jahren, dann kannst du des Haus pfänden und bist raus. MODERATORIN 2 Das neoliberale Versprechen, alle zu Eigentümern zu machen, ist 2006 mit der amerikanischen Häuserkrise geplatzt. MODERATORIN 1 Aufgebläht hatte man die Immobilienblase mit außerordentlich günstigem Kreditgeld. MODERATORIN 2 Alan Greenspan, damaliger US-Notenbank-Chef, hatte die Banken mit billigem Geld versorgt. MODERATORIN 1 Und die Banken haben das billige Geld an mittellose Leute verliehen. MODERATORIN 2 In dem Wissen, dass die Geldhäuser selber die Risiken nicht tragen würden. MODERATORIN 1 Denn man hatte in der Zwischenzeit Techniken entwickelt, Kredite unterschiedlichster Qualität in Paketen zu bündeln. MODERATORIN 2 Und an die ganze Welt weiterzuverkaufen. MODERATORIN 1 Vor allem europäische Banken haben zugegriffen. MODERATORIN 2 Als sie unter der Last fauler Kredite zusammenzubrechen drohten, sprangen die Staaten ein, um sie zu retten. MODERATORIN 1 Nicht umsonst sitzen die europäischen Staaten heute in der Schuldenkrise. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) In Europa rufen sie auf den demonstrations: Wir zahlen nicht für eure Krise! In America rufen wir: Wir schulden euch nichts. We owe you nothing. MODERATORIN 2 David Cameron, der britische Premierminister, hat das neoliberale Eigentumsversprechen mit seinem Help to Buy mortgage scheme, einer staatlichen Hilfe zur Aufnahme von Hypothekendarlehen für Leute mit nur 5% Eigenkapital, gerade erst erneuert. MODERATORIN 1 Und seit seiner Ankündigung steigen die Immobilienpreise. MODERATORIN 2 Eine neue housing bubble. MODERATORIN 1 Nichts wäre in einer Schuldenökonomie schlimmer als keine neue Blase. MODERATORIN 2 Das hieße weniger Kreditvergabe und also weniger Geldvermehrung. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Think about the numbers. 76% der US-Amerikaner sind Schuldner. Aber wem schulden wir dieses Geld überhaupt? Und wo haben die, die es uns leihen, das Geld eigentlich her? MODERATORIN 1 Das Geld hat Wege gefunden, auf den Finanzmärkten MODERATORIN 2 - in den Geldfabriken - MODERATORIN 1 an Vermehrung wettzumachen, was seit Mitte der siebziger Jahre in der Realökonomie nicht mehr möglich war, MODERATORIN 2 sagt Christian Marazzi, ein italienischer Forscher. MODERATORIN 1 Er hat Daten aus den USA. MODERATORIN 2 In den achtziger Jahren hat der Profitanteil aus Finanz-, Versicherungs- und Immobiliengeschäften am Gesamtergebnis US-amerikanischer Unternehmen den Profitanteil aus der industriellen Produktion fast eingeholt und in den neunziger Jahren dann überholt. MODERATORIN 1 Aber auch Nicht-Finanzunternehmen haben in den siebziger und achtziger Jahren ihre Investitionen in Finanzanlagen erheblich erhöht, verglichen mit Investitionen in Sachanlagen: Maschinen z.B. MODERATORIN 2 Bei Marazzi gibt es das Beispiel von General Motors. MODERATORIN 1 Er sagt, die Probleme von General Motors hätten mit der Produktion genau so viel, wenn nicht sogar weniger zu tun wie mit dem konzerneigenen Kreditfinanzierer. MODERATORIN 2 Der Autohändlern und Kunden Geld leiht, aber auch Immobilienkredite vergibt. MODERATORIN 1 Das alte Fabrikmodell - Geld geht in die Fabrik, wird mehr Geld, wird Kapital usw. -verändert sich. O-TON ÜBERSETZER 1 Es ist ein neues Modell entstanden, und in dessen Zentrum steht das Gläubiger/Schuldner-Verhältnis. Die kapitalistische Ökonomie hat zwar immer mit Krediten gearbeitet, aber hier wird der Kredit zum strategischen Mittel. MODERATORIN 2 Es wird immer schwieriger, zwischen Gewinnen aus der industriellen Produktion und Renditen aus Finanzgeschäften zu unterscheiden. MODERATORIN 1 Da Realwirtschaft und Geldwirtschaft inzwischen auch innerhalb der alten Fabrik auf eine neue Weise verknüpft sind. MODERATORIN 2 Und deshalb kann Lazzarato sagen: ÜBERSETZER 1 Wenn Sie den Finanzsektor blockieren, blockieren Sie den Kapitalismus. MODERATORIN 1 Weil die Geldfabriken das Fabrikkommando übernommen haben. O-TON ÜBERSETZER 1 Es ist in der Tat so, dass die Politik des Kapitals heute über den Finanzsektor läuft; und das ist auch das Problem. Bei den Finanzen geht es ja nicht einfach um Spekulationen oder die Gewinnsucht irgendwelcher Trader, die Geld machen wollen. Der Finanzsektor ist vielmehr die politische Organisation des Kapitals, d.h. er organisiert die Produktion. Z.B. indem er Investitionen von einem Land innerhalb sehr kurzer Zeit in ein anderes verlagert. Und das ist eine bedeutende Veränderung, die bereits Anfang der achtziger Jahre oder im Grunde genommen schon Ende der siebziger Jahre stattgefunden hat. Es handelt sich hier um eine neue Form, die Akkumulation zu organisieren. MODERATORIN 2 Wie aus Geld mehr Geld wird: Kapital. MUSIK SPRECHER Drei: Die Rolle des Staats. MODERATORIN 1 Die vielen Kredite bzw. Schulden bzw. das viele neue Geld, das die Banken geschaffen haben, die wachsenden Vermögen also, wurden durch politische Veränderungen in den siebziger Jahren überhaupt erst möglich gemacht. MODERATORIN 2 Mit dem Ergebnis, dass die Staaten heute die Souveränität über das Geld verloren haben. MODERATORIN 1 Und die Geldfabriken die Zentralbanken erpressen können. MODERATORIN 2 Man sollte aber dazu sagen, ÜBERSETZER 1 dass man den Staat und das Kapital im Grunde genommen nicht getrennt denken kann, dass es nie einen liberalen Kapitalismus gegeben hat. Es war immer ein Staatskapitalismus, da Staat und Kapital nur zusammen funktionieren. Bloß das Machtverhältnis zwischen beiden, das ändert sich immer wieder. Und heute ist der Staat dem Kapital untergeordnet. MODERATORIN 1 Es sind die großen westlichen Banken MODERATORIN 2 - mitsamt ihren Schattenbanken, die unbeaufsichtigt agieren - MODERATORIN 1 die einen Großteil der Kredite und den ganzen Rattenschwanz an dazu gehörenden Finanzprodukten herstellen und verkaufen. MODERATORIN 2 Kreditversicherungen, Wetten auf Kredite, Wetten auf Kreditversicherungen und so weiter. MODERATORIN 1 Viele Akteure sind das gar nicht. MODERATORIN 2 Aber sie sind untereinander vernetzt, besitzen sich alle gegenseitig. MODERATORIN 1 Und im Lauf der Zeit sind sie immer mächtiger geworden. MODERATORIN 2 Es begann damit, dass die USA in den siebziger Jahren Riesenmengen an Dollar druckten, um ihren Krieg in Vietnam zu finanzieren. MODERATORIN 1 Im Ausland kamen Zweifel auf, ob überhaupt noch genug Gold als Gegenwert vorhanden wäre. MODERATORIN 2 US-Präsident Nixon hat den Dollar dann vom Gold getrennt. O-TON ÜBERSETZER 1 In diesem Moment wurde das Geld vollkommen mobil, es hatte jetzt keine Referenz mehr. Die Schuldenökonomie ist überhaupt erst ab diesem Moment möglich geworden. MODERATORIN 1 Gleichzeitig wurden die Modalitäten der Staatsfinanzierung geändert. O-TON Es war im Grunde genommen so: Staat hat Schulden gemacht. Es gab so eine Art Verpflichtungssystem. Die Banken mussten so und so viel davon einkaufen. Das war stark reguliert. MODERATORIN 2 In Form von festverzinslichen Staatsanleihen. O-TON Und 79 wurde das dereguliert. Das ist wichtig, weil da gewinnen die Märkte die Souveränität über die Staaten und können sozusagen die Staatsanleihen frei handeln. MODERATORIN 1 In den achtziger Jahren haben Staaten überall auf der Welt ihre Staatsanleihen auf spezialisierten Finanzmärkten platziert. MODERATORIN 2 Staatsanleihen wurden jetzt Spekulationsobjekte. O-TON ÜBERSETZER 1 Von da an wird die Organisation der Ökonomie eine globale. Das fordistische Modell war ja noch ein im Nationalstaat verankertes Modell. Es gab da eine grundlegende Beziehung zwischen dem Nationalstaat - dem deutschen, dem französischen Staat beispielsweise - und dem Kapitalismus: einen Staatskapitalismus. Der fordistische Staat hat die Geldemission noch kontrolliert. Die Souveränität des Geldes ging also vom Staat aus. Der Staat hat dem Finanzsektor dann aber einen Teil seiner Souveränität überlassen, nämlich die Kontrolle über das Geld. Man kann also sagen, dass das Geld privatisiert wurde. Und die Geldemissionen werden für die Privatbanken von da an immer wichtiger. MODERATORIN 1 Die neoliberale Privatisierungspolitik hat sich aus Lazzaratos Sicht als erstes das Geld vorgeknöpft. MODERATORIN 2 Und danach alle weiteren öffentlichen Güter. O-TON ÜBERSETZER 1 Wenn heute von der Unabhängigkeit der Zentralbank gesprochen wird, bedeutet das im Grunde genommen nichts anderes, als dass der Staat, um zu bezahlen, wie jeder andere Akteur auch, auf den Markt zurückgreifen muss. MODERATORIN 1 Seither hat der Staat immer mehr Schulden. MODERATORIN 2 Und immer weniger Einnahmen. MODERATORIN 1 Die deutsche Staatsverschuldung ist seit Mitte der siebziger Jahre kontinuierlich angestiegen: von weniger als 20% auf über 70% im Jahr 2011. MODERATORIN 2 Allein in den vergangenen 15 Jahren haben sich die Staatsschulden verdoppelt. MODERATORIN 1 Im selben Zeitraum haben sich auch die privaten Vermögen verdoppelt. O-TON ÜBERSETZER 1 Der Staat hat zwei Grundfunktionen: Er erhebt Steuern und Gebühren, das ist ein wesentliches Abgreifungsinstrument, und er verteilt dieses Geld dann wieder. Beide Funktionen haben sich die Neoliberalen angeeignet. Die neoliberale Politik in Amerika hat ja als Steuerrevolution begonnen. Dazu muss man sich vorstellen, dass es unter Roosevelt einen Einkommenssteuerspitzensatz von bis zu 90% gab, und dass das damals keinen Skandal verursachte. Jetzt hingegen zahlen die Unternehmen und die Reichen nicht mehr viel Steuern, und entsprechend wachsen die Staatsschulden. Es ist offensichtlich, dass die Schulden damit zusammenhängen; man muss sie auf den Finanzmärkten suchen. MODERATORIN 2 Der Staat muss sich das Geld jetzt bei denen leihen, denen er vorher die Steuern gesenkt hat. MODERATORIN 1 Die Zinsforderungen reicht er an die Gesellschaft weiter. MODERATORIN 2 Durch Kürzungen, Privatisierungen, erhöhte Mehrwertsteuern und so weiter. O-TON ÜBERSETZER 1 Man kürzt die Sozialleistungen, das ist sehr wichtig, denn das Budget des Sozialstaates ist enorm groß, und es geht jetzt darum, diese Einkommen abzugreifen. Kürzung der Sozialausgaben heißt gleichzeitig auch Privatisierung der Sozialausgaben. Und das ist genau das, was jetzt in der Krise geschieht. Z. B. in Griechenland, in Italien usw., wo man versucht, so viel wie möglich zu privatisieren. MODERATORIN 1 Lazzarato sieht in der gegenwärtigen Krise der drohenden Staatskonkurse den Neoliberalismus an sein Ziel kommen. MODERATORIN 2 Denn die Krise, sagt er, wird zur vollständigen Durchsetzung des neoliberalen Programms genutzt: MODERATORIN 1 die Löhne auf ein Minimum zu reduzieren, das verbliebene Staatseigentum zu privatisieren und den Sozialstaat zugunsten der Banken, Unternehmen, Vermögenden zu plündern. MODERATORIN 2 Früher hatte der Staat die Modalitäten seiner Finanzierung noch selber in der Hand. MODERATORIN 1 Jetzt hat er immer mehr Schulden. MODERATORIN 2 Und muss sich die Bedingungen seiner Finanzierung von den Geldfabriken diktieren lassen. MODERATORIN 1 Und wenn die Banken selber in die Krise geraten, rettet sie der Staat mit dem Geld, das er sich bei ihnen geliehen hat. MODERATORIN 2 Man möchte es für eine Verschwörung halten. MODERATORIN 1 Aber man hat sich wohl eher eine Reihe von trial and error-Geschichten vorzustellen, wie Rodríguez sagt, O-TON ÜBERSETZER 2 Dies hatte zur Folge, dass ein Großteil der westlichen Kapitale in die Bankenbranche geflossen ist, in die Industrie der Finanzvermittlung und später dann in die Investmentfonds, mit denen neue Finanzmärkte entwickelt worden sind, auf denen mit Vermögenswerten spekuliert wird, die früher noch keine große Rolle gespielt haben, wie Währungen oder Staatsschulden. Die Schuldenkrise hat ja bereits in den achtziger Jahren in den Ländern Lateinamerikas begonnen, als der Zugang zu billigen Krediten mit dem Coup von Volcker, dem damaligen US-Notenbankpräsidenten, 1979 zusammengebrochen war. Volcker hatte den Leitzinssatz von 3, 4, 5% auf bis zu 19% erhöht und damit international eine Riesenmenge Dollar angezogen. Die Petrodollar und auch die Eurodollar der City of London flossen jetzt in die USA, auf der Suche nach schnellen Renditen, die durch diese Zinssätze möglich geworden waren. Dadurch kam es zum Komplettzusammenbruch der verschuldeten Länder, der damaligen Entwicklungs- und Schwellenländer. Denn die Petrodollar, die deren Entwicklung über Kredite zunächst finanziert hatten, flossen jetzt in die USA ab. Gleichzeitig sind die Zinsen der verschuldeten Länder mit Volckers Coup sprunghaft angestiegen. Für die westlichen Banken war das ein großartiges Geschäft. Besonders für Lateinamerika, aber auch für Afrika ist es ein verlorenes Jahrzehnt gewesen, das die ganzen achtziger Jahre betraf und im Grunde genommen bis in die frühen neunziger Jahre andauerte. Das war der erste Durchlauf eines neoliberalen Regierens, einer Art Fernregierung über Schuldenmechanismen. MODERATORIN 2 Wieso Fernregierung? O-TON ÜBERSETZER 2 Neoliberales Regieren ist softes Regieren; es ist kein Regieren über Diktaturen. Die Diktaturen sind im Lauf der damaligen Schuldenkrise auch zusammengebrochen, und es wurden formale, liberale Demokratien etabliert. Man könnte im Grunde genommen sagen, es wird jetzt über Finanzialisierung regiert, und zwar indem man die Wirtschaft eines Landes öffnet, die Programme des Sozialstaats demontiert, das Staatseigentum verkauft usw. All diese neuen Regierungsweisen über Strukturanpassungsprogramme hat man damals zum ersten Mal ausprobiert. Und was wir heute in Europa vorfinden, sind also Regierungsformen, die man im globalen Süden bereits getestet hat. MUSIK SPRECHER Vier: Die Regierung der Gläubiger. MUSIK(Overhead von To Rococo Rot) MODERATORIN 1 Die Beziehung Gläubiger-Schuldner ist ein Machtverhältnis. MODERATORIN 2 Die Gläubiger haben Macht über die Leben ihrer Schuldner. MODERATORIN 1 Sie können sie aus ihren Wohnungen werfen. MODERATORIN 2 Sie können ihnen Schuldeneintreiber auf den Hals hetzen. MODERATORIN 1 Sie nehmen ihnen die Zukunft weg. MODERATORIN 2 Sie können auch die Risikoaufschläge für Staatsanleihen in die Höhe treiben. MODERATORIN 1 Und Staaten in den Bankrott. MODERATORIN 2 In den Schuldnerländern der Eurozone regieren inoffiziell die Gläubiger. MODERATORIN 1 Ihr verlängerter Arm ist die Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds. MUSIK SPRECHER Fünf: Der verschuldete Mensch. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Remember: We owe you nothing. Wir schulden euch nichts. MODERATORIN 2 Um eine Regierung der Schulden zu installieren, braucht es, neben ökonomischen Umstellungen, noch etwas anderes. MODERATORIN 1 Lazzarato nennt es die Figur des verschuldeten Menschen. MODERATORIN 2 "Die Wirtschaft ist nur die Methode. Das Ziel ist es, die Seele zu verändern", soll Margaret Thatcher gesagt haben. MODERATORIN 1 Und wie macht man das? O-TON ÜBERSETZER 1 Nun der Umbau des Sozialstaates ging einher mit dem Versuch, Schuldgefühle bei den Leistungsempfängern, also bei den Arbeitslosen, zu mobilisieren. MODERATORIN 2 Seit Mitte der siebziger Jahre ist die Arbeitslosigkeit in den Industrieländern kontinuierlich gestiegen. ÜBERSETZER 1 Früher hieß es, das Individuum sei nicht für seine Arbeitslosigkeit verantwortlich. Die Arbeitslosigkeit im Keynesianismus, im Fordismus, hatte mit einer nicht-funktionierenden Ökonomie zu tun. So hat Keynes das gesagt. Jetzt haben wir es aber mit einer individualisierten Verantwortlichkeit zu tun. D.h. für seine Arbeitslosigkeit ist das Individuum jetzt selbst verantwortlich. In gewisser Weise denkt man die Sozialausgaben neu. Sie sind Schulden geworden. Man sagt: Ich gebe dir Arbeitslosengeld und jetzt bist du beim Staat verschuldet und musst dich verantwortlich zeigen. Du musst zeigen, dass du Arbeit suchst, dass du verfügbar bist, dass du überall arbeiten würdest, auch für wenig Geld. Im Grunde genommen waren die Ärmsten, die Mittellosen, die Arbeitslosen die ersten, die in verschuldete Menschen verwandelt wurden. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Alle sind in den USA von Schulden betroffen. Everyone seems to owe something. O-TON ÜBERSETZER 1 Der verschuldete Mensch steht für eine neue Form von Herrschaft im gegenwärtigen Kapitalismus. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Alle sind betroffen. Leute, die von ihrer Vollzeitarbeit nicht leben können. Leute, die Mikrokredite aufgenommen haben, für die sie 400% Zinsen bezahlen; Lehrer und fire fighters, Feuerwehrleute, die Lohnkürzungen hinnehmen mussten, weil ihre Städte bankrott sind. O-TON ÜBERSETZER 1 In Disziplinargesellschaften, wenn man es mit Foucault sagen wollte, sind die Machtverhältnisse ganz klar. Da ist ein Arbeiter in einem Unternehmen: er hat einen Chef, er geht in die Fabrik, die Arbeitszeit ist festgelegt. Es gibt eine sichtbare Hierarchie, mit der oder gegen die er arbeitet. Der Schuldner steht, verglichen mit dem Arbeiter, in einem ganz anderen Machtverhältnis. Alle Machtverhältnisse sind jetzt ins Innere des Individuums verlagert worden. Man nennt das heute Humankapital. Humankapital bedeutet, dass man sich im Grunde genommen wie ein Unternehmen organisieren muss. In der amerikanischen Gesellschaft ist dieses Phänomen bereits sehr weit entwickelt. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Alle sind von Schulden betroffen. Auch countries, Länder, die durch Strukturanpassungsprogramme in austerity und Armut getrieben werden. O-TON ÜBERSETZER 1 Mit der Schuldenkrise wird nun versucht, das allen aufzuzwingen. Die europäische Krise hat alle verschuldet, eben weil der Staat verschuldet ist. Man versucht jetzt, bei ganzen Bevölkerungen Schuldgefühle hervorzurufen. Ihr seid selbst schuld, sagt man den Griechen, den Spaniern, den Italienern. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Individuell gesehen überwältigen uns unsere Schulden, aber kollektiv gesehen könnten unsere Schulden das System überwältigen. O-TON ÜBERSETZER 1 Dieser Versuch ist aus meiner Sicht aber fehlgeschlagen, denn die Leute wissen, dass sie nicht dafür verantwortlich sind. SPRECHERIN (amerikanischer Akzent, blechernes Mikro) Remember, we owe you nothing. MUSIK SPRECHER Sechs: Die Krise als Dauereinrichtung. MODERATORIN 1 Seit 2006 regiert, für alle sichtbar, die Krise. MODERATORIN 2 Immobilienkrise, Bankenkrise, Wirtschaftskrise, Staatsschuldenkrise, Eurokrise, Weltfinanzkrise. O-TON ÜBERSETZER 1 Hervorgerufen hat die Krise dieses System, in dem Sozialleistungen, Löhne, Einkommen durch Kredite ersetzt wurden. Und das ist jetzt zusammengebrochen. Wir stecken allerdings schon seit den siebziger Jahren in der Krise. Und wir werden aus dieser Krise auch nicht mehr herauskommen, weil die Krise das Modell der Gouvernementalität des gegenwärtigen Kapitalismus ist. Eine Krise geht in die andere über: Wirtschaftskrise, Schuldenkrise, ökologische Krise, demografische Krise. Als Ausweg aus der Krise gilt, wenn man ein Wachstum von 0,5%, 0,7%, 1% zu verzeichnen hat. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir aus der Krise herausgekommen wären. Es bedeutet letztlich nur eine Veränderung in der Intensität der Krise. MODERATORIN 1 Nehmen wir das spanische Beispiel. O-TON ÜBERSETZER 2 Zwischen 1995 und 2007 sind die Reallöhne in Spanien um 10% gesunken, der Konsum der Haushalte hat aber trotzdem um 90% zugenommen; man muss ein nicht unbedeutendes demographisches Wachstum mit berücksichtigen, aber dennoch stellt sich die Frage, wie sich diese Differenz erklärt. Zum einen ist da der Zugang zum Kredit. Zum anderen - und das ist wichtiger und auch raffinierter - ist da der Immobilienzyklus. MODERATORIN 2 - eine Aufblähung des Immobiliensektors. ÜBERSETZER 2 Die spanischen Familien haben sich in Eigentümer verwandelt. 2007 besitzen 87% aller Haushalte ihr Haus. Da also beinahe alle einen Vermögenswert haben, nämlich eine Immobilie, haben sie sich in Investoren verwandelt, und zwar im Sinne der Finanzmärkte. Denn sie können jetzt dank dieses Vermögenswerts weiteren Kredit erhalten, mit dem sie weitere Immobilien kaufen oder auch konsumieren können. Dieser Ausgabenboom der Familien hat dem Staat Einnahmen verschafft. Da es ein Staat ist, der für Sozialausgaben nichts ausgibt, dank Maastricht und den entsprechenden Kontrollen, handelt es sich also um einen Staat, der sich entschulden konnte: von 70, 80% des Bruttosozialprodukts runter auf 40, 36% im Jahr 2007. Der spanische Staat war der in Europa am wenigsten verschuldete Staat. In neoliberalen Begriffen war es der perfekte Staat: also Lohnsenkungen, Kontrolle der Sozialausgaben und gleichzeitig Wirtschaftswachstum. Ab 2008 passiert genau das Gegenteil. Mit dem crashenden Immobilienzyklus MODERATORIN 1 - dem Platzen der Blase - ÜBERSETZER 2 ist ein Großteil der damit verbundenen Wirtschaftsaktivität zusammengebrochen. Der Staat greift jetzt, wie überall in Europa, ausgleichend ein mit Regulationsmechanismen, also typischen keynesianischen Stabilisierungen. D.h. er gibt mehr aus. In Form von Subventionen für Autos, Konsumgüter usw. Was aber nicht vorgesehen war, dass mit dem Zusammenbrechen des spanischen Immobilienzyklus und mit dem Zusammenbruch des ganzen Finanzzyklus des westlichen Finanzkapitalismus, MODERATORIN 2 - der Finanzblase also, die in der großen Geldfabrik produziert worden ist - ÜBERSETZER 2 dass sich das Geld auf seiner Suche nach Profiten zunächst auf die Derivatemärkte begeben und dass es dann auch mit Staatsschulden spekulieren würde. Der Markt für Staatsschulden, besonders der der europäischen Peripherieländer, hat sich in ein Riesengeschäft verwandelt. Reihum brechen jetzt die Länder an der Peripherie zusammen. Was man hier ganz deutlich sieht, ist, dass der Staat sich in ein Objekt der finanziellen Erpressung verwandelt hat. Man verlangt ihm jetzt Finanzierungskosten ab, die früher 3%, jetzt 7 oder 8% betragen. MODERATORIN 1 Ein Teufelskreis. O-TON ÜBERSETZER 2 Man macht den Staat verantwortlich für die Krise seiner Banken. Und man beginnt innerhalb der EU, die gleichen Programme einzusetzen, die man in Lateinamerika schon einmal angewendet hat. Programme der Zerstörung des Sozialstaats, der allgemeinen Verarmung, der wirtschaftlichen Öffnung, des Verkaufs von öffentlichen Vermögenswerten. Wir haben es im Grunde genommen mit einer Regierung der Schulden zu tun. MUSIK SPRECHER Sieben: Das Pyramidenspiel, auch Ponzi-Schema genannt. MODERATORIN 2 In der Wikipedia ist zu lesen: MUSIK (Overhead von To Rococo Rot) MODERATORIN 1 (auf Musik) In den 1920er-Jahren gelang es Charles Ponzi in den USA innerhalb von etwa sechs Monaten nach heutigem Wert ungefähr 150 Millionen US-Dollar einzusammeln. Den Anlegern wurde durch Scheininvestitionen suggeriert, dass die Renditen tatsächlich erwirtschaftet wurden. Ponzi versprach 50% Rendite in 45 Tagen oder die Verdoppelung des angelegten Geldes in 90 Tagen. Weil das Geschäft so blendend lief - er zahlte, wenn jemand seinen Gewinn sehen wollte -, forderten die vertrauensseligen Kunden ihre Einkünfte nicht ein und ließen ihre "Gewinne" wieder reinvestieren. Viele Menschen verpfändeten ihr Haus und ihre Habseligkeiten, um nach der Ponzi-Methode reich zu werden. O-TON Man kann jetzt hergehen und sagen, unsere ganze Wirtschaft, des Gesamtsystem ist eigentlich so ein Ponzi-Schema, nämlich in dem Sinn, dass wir so und so viele Zahlungsversprechungen angehäuft haben, die wir nie zurückzahlen werden können. Die wollen wir auch gar nicht zurückzahlen, weil diese Zahlungsversprechungen sind gleichzeitig Geld. Die müssen immer nur umgelagert werden auf neue Zahlungsversprechungen. Aber auch die Zinsen, die da eingefordert werden, können wir eigentlich nicht bedienen. Aber die können durch Geldschöpfung wieder reingeholt werden. Auf dem Stand sind wir schon. Also wenn du so ein Ponzi-Schema hast, wo du weißt, dass die Sachen nicht zurückgezahlt werden können, du weißt, dass man die Zinsen auch nicht bedienen kann, aber du weißt, dass das deine einzige Rettung ist, die Kredite auszudehnen und die Geldmenge auszudehnen, um des noch zu halten, dann ist natürlich der wichtigste Punkt im System sind die Industrien, die es schaffen, den Rohstoff Geld, und des ist so ne Art von Rohstoff, herzustellen, durch irgendwelche Versprechungen, durch irgendwelche Finanzinnovationen, durch sonst was. Die Geldschöpfungsindustrien sind die Schlüsselindustrien, um dieses System am Laufen zu halten. MODERATORIN 1 Im September 2008 wurde der Gesamtwert der Schulden weltweit auf 160 Billionen Dollar beziffert. Das ist das Dreieinhalbfache des globalen Bruttoinlandsprodukts. MODERATORIN 2 Und dieses Missverhältnis hat sich in den letzten 5 Jahren weiter verschärft. MODERATORIN 1 Noch mehr Schulden, noch mehr Geld, noch mehr Vermögen. MODERATORIN 2 Und immer weniger Wachstum. O-TON Kann man sich natürlich überlegen, theoretisch, hätte ich auf der einen Seite ein System, was einfach nur ganz klassisch Produktion, Investition und fertig. Die Banken sind nur die Intermediäre und machen nichts anderes. MODERATORIN 1 Das alte Fabrikmodell: Geld geht in die Fabrik, um sich zu vermehren. Um zu mehr Geld zu werden. Zu Kapital. O-TON Und auf der anderen Seite hab ich ein System, was nur Ponzi-Schema ist, Produktion ist null. Es geht nur um die Herstellung von Fiktionen, die in Geld umgelagert wird, die sozusagen der Geldschöpfung dienen. Irgendwo dazwischen befinden wir uns. Und es ist klar, dass der Haufen von Zahlungsversprechungen, der jetzt schon unterwegs ist, allein aus Mitteln der Produktion überhaupt nicht mehr gedeckt werden kann. MODERATORIN 2 Die Geldfabriken haben immer mehr Geld produziert. MODERATORIN 1 Sie haben für ständig neue Schulden gesorgt. O-TON Du kannst noch eine andere Gegenrechnung aufmachen. Du hast ein Weltvermögen von 200 Trillions, amerikanische Trillion. Die wollen angenommen 10% Zinsen, das wären 20 Trillion. Jetzt ist aber das Weltbruttosozialprodukt, also alles, was in der Welt hergestellt wurde, in einem Jahr 60 Trillion oder so. D.h. wenn die 10% Trillion wollen, dann wollen die schon praktisch von dem Gesamt, was in der Welt hergestellt wird, ein Drittel. Wenn die 25% Zinsen wollen, dann würde des heißen, die Vermögenden beanspruchen alles, was auf der Welt hergestellt wird. D.h. da gibt es so ne Art von Grenze, wie viel von der realen Wirtschaftsleistung würde des eigentlich beanspruchen, was die an Zinsen beanspruchen. MUSIK SPRECHER Acht: Verspielte Zukunft. O-TON ÜBERSETZER 2 Diese Akkumulation über Finanzialisierung funktioniert ja nur, solange gegenwärtige Probleme in die Zukunft geschoben werden können. Anders herum heißt das auch, dass zukünftige Gewinne schon in der Gegenwart kassiert werden. Und nur solange sich immer wieder eine rentable Nische findet - Nische im Sinne von Aufblähung der Preise bestimmter Vermögenswerte MODERATORIN 2 - eine Blase also - ÜBERSETZER 2 kann die Krise in die Zukunft geschoben werden; aber dem sind immer zeitliche Grenzen gesetzt. Und wir haben ja seit den siebziger Jahren eine ganze Abfolge von verschiedenen solcher Nischen gesehen. Die Spekulation mit Währungen, mit Staatsschulden, die Börsenblasen, zuerst die Dot.Com-Blase und dann die Immobilienblase usw. MODERATORIN 1 Anders gesagt: O-TON In einem System, wo schon so viele Zahlungsversprechungen unterwegs sind, d.h. die Zukunft auf ne Art und Weise schon so und so oft verkauft wurde, muss man natürlich immer dafür sorgen, dass diese Zukünfte irgendwie eingehalten werden. MUSIK SPRECHER Neun: Zurück in der Gegenwart. O-TON Sobald da irgendwas schiefgeht, sobald die Zukunft nicht stattzufinden droht, die schon 3 Mal verkauft ist, sind wir jetzt so weit, dass sofort die Zentralbanken eingreifen, und zwar dauerhaft und mit nicht unerheblichen Summen, um diese Zukünfte irgendwie aufrechtzuerhalten. Bei der Häuserkrise war es das letzte Mal, dass man versucht hat, so ne Spekulation auf einer realen Sicherheit zu bauen, nämlich dem Haus. Und als dann das ganze System zusammengebrochen ist, ist man auf ein anderes System umgestiegen, wo die Zentralbank implizit die Werte von Anlagen sichert, jedenfalls von den Anlagen, die finanztechnisch von Bedeutung sind. D.h. die Zentralbanken haben ihr Budget massiv ausgedehnt und haben alles Mögliche aufgekauft, was sonst auf dem Markt nichts wert wäre. Z.B. Versicherungen für irgendwelche Häuserkredite, aber auch noch vieles andere. Alle möglichen Finanzkonstrukte konnte man bei der Zentralbank abgeben und hat dafür frisches Geld geschöpft gekriegt. Des konnte man als Sicherheiten hinterlegen, so heißt es ja dann, und zwar teilweise bis einfach 100% Wert, obwohl klar war, der Marktwert liegt vielleicht bei 10%, wurden die zu 100% akzeptiert und sozusagen ausgeglichen. D.h. die Vermutung ist, wir sind mittlerweile in ein ganz neues System eingetreten, wo Zentralbank-Geldschöpfung direkt an private Investoren geht, über Banken. MODERATORIN 2 Und was bedeutet das jetzt für die Leute, die Schuldner? O-TON ÜBERSETZER 2 Wir befinden uns in einer Situation, wo unklar ist, wie lange die Gesellschaften mittels des Staates noch gemolken werden können, ohne dass das System zusammenbricht. Das ist die Situation gerade in Spanien und Italien. Die Geschichte der Risikoprämien und ihre Folge: also die politischen Kämpfe in diesen Ländern, aber auch die Möglichkeit, dass da auf einmal eine Regierung gewählt wird, die sagt: Wir zahlen nicht. MODERATORIN 1 In Griechenland wäre das 2012 beinahe passiert, mit Alexis Tsipras und seinem linken Parteienbündnis SYRIZA. SPRECHERIN Wir zahlen nicht für eure Krise. Wir schulden euch nichts. O-TON Du hast ja eben des Problem, dass in den letzten 30 Jahren so ne Menge an Zahlungsverpflichtungen aufgelaufen sind, die wieder anderer Leute Vermögen sind. D.h. die Vermögen selber, die diese Zahlungsverpflichtungen erwarten und darauf bestehen, verhindern des eigentlich, dass wir in eine normale Wirtschaft zurückgehen können, weil die normale Wirtschaft, die wir vorher hatten, wäre nie in der Lage all diese Zahlungsversprechen zu erfüllen. MODERATORIN 2 Derweil macht die Fed, die US-amerikanische Notenbank, weiter mit dem billigen Geld. MODERATORIN 1 Und die Europäische Zentralbank macht es ebenso. MODERATORIN 2 Versorgt die Geldfabriken mit fast nullprozentig verzinstem neuen Geld. O-TON D.h. wir sind in einer Zwangslage: Entweder wir machen in dem System weiter oder wir haben das Übergangsproblem zu einem anderen System, was eigentlich vernünftiger wäre. Und das Übergangsproblem sieht so aus, wie kriegen wir 200 Trillionen Vermögen los, die auf dem System lasten. MODERATORIN 1 Also 200 Billionen Dollar, die in etwa dem privaten Geldweltvermögen entsprechen. MODERATORIN 2 241 Billionen Dollar sind es inzwischen schon. MUSIK (Thilges 3) SPRECHER Absage (auf der Musik) "You are not a loan! " Oder: Kapitalismus als Schuldenökonomie Ein Feature von Barbara Eisenmann Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014. Es sprachen: Sigrid Burkholder Bernt Hahn Jochen Langner Claudia Mischke Valentin Stroh und Deborah Friedman Ton und Technik: Eva Pöpplein und Katrin Fidorra Regie: die Autorin Redaktion: Karin Beindorff 1