COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 30.12.2008, 19.30 Uhr Autobiographien von Prostituierten Ein Feature von Margarete Groschupf Musik: Lotte Lenya: Dreigroschenoper ?Meine Mutter sagte mir einst ein schlimmes Wort. Du wirst enden im Zuchthaus oder an einem noch schlimmren Ort... Mein Kind, verkauf dich nicht, für ein paar Dollarnoten, so wie ich es tat? Sprecherin (Zitat Rossi): Der Mann lag nicht auf dem Bett, wie ich es vermutet hatte, sondern saß nackt auf einem Sessel. Er war ungefähr Mitte dreißig, hatte dunkle Haare und kleine Augen, die mich gierig anschauten. Er sah aus wie diese Typen, die mich manchmal auf der Straße anquatschten und prompt einen Korb bekamen - seine ganze Art war schleimig und er roch stark nach Schweiß. Als ich hereinkam, wichste er schon. Die Scheine lagen auf einem kleinen Glastisch neben dem Bett. O-Ton Sonia Rossi: Meine Eltern wären schockiert, wenn sie wüssten, was ich gemacht habe. ..- sie hätten das nie akzeptiert. Schuldgefühle hatte ich nicht, weil ich mir gesagt habe, sie könnten mir Geld geben, dann bräuchte ich diesen Job nicht zu machen. Wobei ich schon wusste, dass sie mir gerne Geld gegeben hätten, wenn sie welches gehabt hätten. Sprecherin: (Zitat Rossi) Die Vorstellung, mit mehreren Männern am Tag rumzumachen, störte mich inzwischen nicht mehr. Ich wusste ja, dass es meist nur eine halbe Stunde ging, dann waren die Kerle weg, und ich hatte mein Geld. ?...als ob du deinen Körper vorübergehend verlassen würdest,? sagte ich mir und fühlte mich mehr und mehr davon überzeugt, dass das tatsächlich möglich war. Erzählerin: ?Fucking Berlin? heißt das Buch der Italienerin Sonia Rossi, das im Sommer 2008 auf den Markt kommt und es auf die Bestsellerliste des Magazins ?Der Spiegel? schafft. In dem autobiographischen Bericht über ihre Arbeit als Teilzeit-Prostituierte erscheint die Prostitution als ein Job, an dem man nicht zerbricht, als eine reale Möglichkeit, sich über Wasser zu halten. Die Autorin studiert außerdem Mathematik; ihre Zukunft wird ein technischer Beruf sein. Musik: Lotte Lenya: Dreigroschenoper s.o. Erzählerin: Als im Jahr 1928 die Sozialwissenschaftlerin Elga Kern anonym Mädchen in Bordellen interviewte, war Prostitution noch verboten, die Frauen schämten sich. Auf ihnen lastete die gesamte Verdrängung der Sexualität der damaligen Zeit, ihr Leben fand in einem Tabu-Bereich des öffentlichen Bewusstseins statt. ?Wie sie dazu kamen?, heißt das Buch und erzählt im Konjunktiv. Sprecherin: (Zitat Kern) Sie habe den Mann liebgehabt, er habe sie aber gleich im Stich gelassen. Dann habe sie wieder serviert und nur dadurch, so scheine es ihr, habe ihr Leben diese Richtung genommen. Zwar habe sie damals noch kein Geld verlangt, habe aber schon von einzelnen Herren Geschenke angenommen. .. Hier habe sie einen Freund gehabt, dem sei wirklich zugetan, der einzige in der langen Zeit; der habe sie im Stiche gelassen um eines soliden Mädchens willen. Er sei unaufrichtig zu ihr gewesen, und das habe sie nicht ertragen. Sie sei darüber völlig verzweifelt und habe sich aufgehängt. Schon bewusstlos habe man sie leider aufgefunden. Sie würde gewiss ein zweites Mal nicht wieder ins Bordell gehen, aber man könnte ja überhaupt nicht davon reden, dass ein Mädchen freiwillig in dieses Leben hinein ginge... Musik: Cora Frost ?Gebet eines Animiermädchens? Oh Himmel, lass mich klug, gut sein und umfass mich fest, heb? mich ins Paradies ich bin nicht schlecht, kämpf? täglich warum leb ich so kläglich, und trink so viel ach, Herr, verzeih! Ja gut, ich weiß ich bin ein Sünder, wenn ich weinen könnte, würde ich es tun; du liebst doch alle deine Kinder, ich küss? jeden und ich werde niemals ruh?n, nie ruh?n. Sprecherin: (Zitat Keun) ?Ich bin in einem Kaffee ? da ist Geigenmusik, die weht weinerliche Wolken in mein Gehirn ? etwas weint in mir ? ich habe eine Lust, mein Gesicht in meine Hände zu tauchen, damit es nicht so traurig ist. Es muss sich soviel Mühe geben, weil ich ein Glanz werden will. Es strengt sich ungeheuer an ? und überall sitzen Frauen, von denen die Gesichter sich anstrengen. ... ...und ich saß mit ihm, und er bot mir eine Wohnung und Geld ? mir kam die Gelegenheit zu einem Glanz, und es ist leicht mit Alten, wenn man jung ist ? sie tun, als könnte man was dafür, und als hätte man es geleistet. Und ich wollte, ich wollte. Er hatte eine Kegelkugelstimme, die mich kalt macht, aber ich wollte ? er hatte so verschleimtes Gelüge in den Augen, aber ich wollte ? ich dachte, die Zähne zusammenbeißen und an machtvolle Hermeline denken, dann geht es. Und sagte: ja. Erzählerin: Irmgard Keun: ?Das kunstseidene Mädchen?, ein Roman, der, als er 1932 erschien, ein großer Erfolg und später von den Nazis auf die ?Schwarze Liste? gesetzt wurde. Schnoddrig und phantasievoll erzählt eine junge Frau über ihre Sicht der Dinge und Details des Zwischenmenschlichen. Sie ist aus der Provinz nach Berlin geflüchtet, möchte Schauspielerin werden und die kleinbürgerliche Enge der Heimat hinter sich lassen. Sie klaut einen Pelzmantel, um gut auszusehen und versucht zunächst, sich von Büroarbeiten zu ernähren. Doch die Chance zum sozialen Aufstieg scheint sich eher über Männerbekanntschaften zu bieten. Aber sie erlangt dadurch weder ökonomische Unabhängigkeit noch ein glückliches Leben. Was als Abenteuer beginnt, bekommt einen schmerzhaften Zusatz von Existenznot. Sprecherin: (Zitat Keun) Und Berlin ist sehr großartig, aber es bietet einem keine Heimatlichkeit, weil es verschlossen ist. Musik: Cora Frost: Oh wehe Schneewehe Halt?s Maul und küsse mich Faß mich an, schnell Denn bald ist es Frühling Für uns viel zu hell Und jetzt, jetzt bin ich in Hitze Wehe Schneewehe... Erzählerin: Cora Frost ist Schauspielerin, Autorin und Sängerin. Sie singt über die Kälte der Großstadt, über Einsamkeit, über das Sterben vor Liebe. Schon als Schülerin hat sie ihren Eltern die lange Nase gezeigt und in Nachtclubs gearbeitet. Als Chansonsängerin erhielt sie 1996 den Deutschen Kleinkunstpreis. Zwei Jahre später erschien ihre ironische Lebensbeschreibung unter dem Titel ?Mein Körper ist ein Hotel?: Sprecherin: (Zitat Frost) Nachtclubs sind ein Spiegel der Oberwelt. In ihnen wiederholt sich alles, jeden Abend. Du sitzt im Fegefeuer. Du kennst die Leute, alles ist immer gleich. Abwechslung bietet nur manchmal das Tanzen und einzelne Gespräche mit den Gästen. Sie berichten dir aus ihrem Leben und erzählen die absurdesten Dinge, die sie tun wollen. Dann kaufen sie dir ein Getränk, um dir ihre Träume offenbaren zu dürfen, die sie sonst niemandem anvertrauen. Und sie kaufen dir ein Getränk, damit du es gleich wieder vergisst. An dem Zustand, in dem sie herein kommen, merkt man schnell, wie festgefahren die Oberwelt ist. So fühlte ich mich sicher da unten. Ich wollte nicht dorthin, wo jene herkamen. Die große Sehnsucht des Bürgers aus der Oberwelt scheint das Laster, die Unterwelt. Die in der Oberwelt verstehen die in der Unterwelt nicht, und umgekehrt. Die Sessel sind rot ? blutrot. Hier in der Unterwelt ist alles rot. Aus allen Wunden verkrustetes Blut, gemischt mit Parfümgeruch. Es verwandelt sich in roten Samt, man sitzt in einem Wal und wartet darauf, dass man ausgespuckt wird. Musik: Cora Frost ?Mein Körper ist ein Hotel? in ?Starimbiß? Meine Sehnsüchte heulen den Mond an Mein Körper ist ein Hotel In jedem Tel wohnt ein Mensch drin Ein Fachwerkhaus und ein Bordell Ihr feiert in meiner Seele Ein Galadiner am Stück Im Bad liegt immer rosa Seife Und am Bett steht ein Blumenbükett Ich suche Euch alle, alle, alle Ich suche Euch alle, Ihr seid alle da Ich liebe Euch alle, alle, alle Ich liebe Euch alle, ich weiß es, Ihr seid da Sprecherin (Zitat Frost): Bestimmt wäre es lehrreich, alle Mädchen, sobald sie sechzehn oder achtzehn sind, in einer Animierbar arbeiten zu lassen. Dort können sie einiges lernen über Männer. Männer, die leben wie kleine Maschinen. Wenn ich Geschäftsleute im Flugzeug sehe, denke ich, dass alles nicht funktionieren würde, wenn nicht tausend Frauen Hemden bügeln und Schuhe putzen würden. Musik kurz hoch Cora Frost Mein Körper ist ein Hotel Erzählerin: Domenica ist ein bekanntes Gesicht, und sie hat einen oft fotografierten Körper; auf der Straße wird sie sofort erkannt. Als prominente Prostituierte lebte sie in St. Pauli, freundete sich mit Künstlern an, trat in Filmen und bei Kunstprojekten auf. Sie schaffte den Ausstieg aus der Prostitution und wurde Sozialarbeiterin. Ihr Leben erzählte sie dem Hamburger Schriftsteller Hans Eppendorfer. ?Körper mit Seele? heißt das Buch treffend. Domenica ist eine intuitiv kluge Frau. Ihr Wissen kommt aus dem Bauch und beruht auf Erfahrung. Sprecherin (Zitat Domenica): Hure werden? Eigentlich wollte ich das gar nicht. Der Begriff HURE war für mich etwas ganz Schlimmes. Ich wollte eine intakte Familie, ich wollte nach Hause kommen können, mich geborgen fühlen, geliebt werden, spießig, grundsolide und verlässlich. Nicht getreten werden, nicht rumgestoßen werden, nicht immer wieder zwischen allen Stühlen sitzen. Berührungen, in denen du deine Seele baumeln lassen kannst. Nichts Intellektuelles, nichts, was du erst lange erklären musst. ... Dass ich eine Hure geworden bin, war für mich keine Rebellion wie für einige andere Frauen. Ich stand auf der Straße, ganz einfach. Erzählerin: ?Tempel der Lüste? hieß eine internationale Kunstausstellung von Prostituierten 1994 in Berlin. In der Einladung war zu lesen: Sprecherin (Zitat): Huren sind Grenzgängerinnen, sind Gratwanderinnen zwischen Tagen und Nächten. Sie heißen jeden willkommen, beurteilen nicht, sind zärtlich zu den Ungeliebten, heilend für die an Leib und Seele Verwundeten. Da, wo die Gesellschaften versagen, geben sie Wärme. Erzählerin: Der Eigenmythos ist geschickt verklärt. Die Außenseiterinnen der Gesellschaft geben angeblich alles, was dieser Gesellschaft fehlt: Liebe, Unvereingenommenheit, Wärme. Die Erfahrung von Domenica klingt anders: Sprecherin (Zitat Domenica): Du musst deine Kräfte einteilen lernen, so zeitig wie möglich, sonst überschätzt du ständig deine Kräfte und Möglichkeiten. Du wirst ständig angezapft wie eine Tankstelle, und es saugen viele, viele, denen es egal ist, wie du damit fertig wirst, oder was für dich zurückkommt. Musik: Marianne Faithfull: Conversation on a barstool I?m tired, so tired, I can hardly stand. I can?t breath in the end in this city tonight it?s taken everything I had to give and now I just want to get out of here But I won?t be sorry if you don?t want me And I don?t want your pity or your sympathy But for 45 Dollars I can make it your way. Musik: Konstantin Wecker: Ich liebe diese Hure Habt ihr sie gestern nicht gesehn wie sie so zum Verlieben schön ihre Tasche schwang? Wenn sie mit mir spricht, fühl ich mich auf einmal furchtbar wesentlich. Ja, Freunde ja ich liebe diese Hure! Erzählerin: Andrea Dworkin, eine amerikanische Feministin, die für ihren unerbittlichen Kampf gegen Pornographie bekannt wurde, publizierte 1986 den Roman ?Eis & Feuer?. Sie beschreibt darin einerseits das New York der 60er Jahre, vor allem die harten Stadtteile der Lower East Side mit den ethnischen Konflikten. Andererseits lässt sie die Hoffnungen junger Frauen spürbar werden, ein unabhängiges, intellektuell-künstlerisches Leben führen zu können. Sprecherin: (Zitat Dworkin) (Übersetzung: Christel Dormagen) Wir diskutieren ausführlich über Godard und schreiben für die Nachwelt unsere bedeutende Kritik an ihm auf. Wir sind unverschämt modern, radikal, cool. Wir suchen den Fotoautomaten bei Woolworth heim, machen kunstvolle Fotos von uns, vier Posen für vier Vierteldollar. Wir verbrauchen all unser Kleingeld. Ich bin nicht auf einem harten Kurs, was Politik angeht. Auch ich will Kunst. Wir brauchen Geld. Das meiste geht für Zigaretten drauf, danach ist nichts mehr über. Wir vögeln für Drogen. Speed ist billiger als Lebensmittel. Wir vögeln für Pillen. Wir vögeln für Rezepte. Wir vögeln für Mahlzeiten, wenn es nötig ist. Wir vögeln für Kleingeld. Wir vögeln für Spaß. Wir vögeln für Abenteuer. Wir vögeln für große Scheine, um unseren Film zu produzieren. Zwischendurch diskutieren wir über Kunst und Politik. Wir hören Musik und lesen Bücher. Sie spielt Saxophon und Klarinette, und ich schreibe Kurzgeschichten. Wir sind arm, aber gebildet. Musik: Doors: Moon of Alabama Oh moon of Alabama We now must say goodbye We?ve lost our good old mama And must have a dollar oh you now why? If we don?t find the next little dollar I tell you we must die Erzählerin: Selbstironisch, bisweilen poetisch, treibt Andrea Dworkin die Sätze rhythmisch voran. Die Außenwelt wird akribisch beschrieben, eine städtische Zustandsbeschreibung von fotografischer Genauigkeit entsteht. Die Innenwelt der Heldin dagegen bleibt ein Universum des Schmerzes. Kindheitsbilder werden bei der Spurensuche nach Demütigungen hervorgeholt, deren Schäden bis in die Gegenwart reichen. Sprecherin (Zitat Dworkin): Als wir fortzogen in die Vororte, damit Mutter nicht mehr Treppen steigen musste, weil ihr das Atmen schwer fiel, wurde ich von all dem weggerissen, meiner Heimat, meiner Straße, den Spielen, der großen wilden Kinderschar... Wir waren komische Waisenkinder: Mutter war nicht tot, aber starb; Vater liebte uns, konnte aber nicht zu Hause sein; die Verwandten teilten uns auf, so dass wir immer alleine in fremden Häusern waren, umgeben von fremden Gewohnheiten... Später starb meine Mutter. Ich lachte nicht und weinte nicht und verstand nicht. Warum sind sie fort? Erzählerin: Schuldgefühle verschlimmern die Verlorenheit: Es war eine schwarze Freundin, die die Erzählerin als Kind im Stich ließ, es waren schwarze Kindermädchen, denen sie am meisten verdankte, und sie wünschte sich doch ein weißes. Scham und Schuld münden in Wehrlosigkeit. Die Heldin wird vergewaltigt und immer wieder von Gangs in der Nachbarschaft überfallen. Ihr Verleger schließlich offenbart sich selbst als Gewaltopfer, sie empfindet ihn als Bruder im Leid. Doch er erwartet Sex. Sprecherin (Zitat Dworkin): Ich sage mir sogar: Tu es einfach. Tu es einfach. Aber ich will nicht. Ich sage mir: auf die Dauer ist es so viel einfacher, bring es hinter dich, tu es einfach, er wird bald genug von dir haben, was für einen Unterschied macht es für dich, einer mehr oder weniger ? aber es macht einen Unterschied. Ich weiß nicht warum, ich will es auch gar nicht wissen: es ist einfach so. Ich friere, und ich bin müde, und ich will nicht. Ich bin eine Schriftstellerin, keine Frau. Irgendwo tief innen dachte ich, er kann das nicht wollen. Jetzt beeile ich mich schrecklich, um zu sagen, was in meinem Herzen ist. Habe ich erwähnt, dass ich immer eine Schriftstellerin sein wollte, seit ich ein kleines Mädchen war? Musik: Marianne Faithfull: Hello Stranger Hello Stranger Whatever happened to the one I used to be Is she just another fainting memory Erzählerin: Sexualität hat auch eine spirituelle Seite, die in der Religionsgeschichte immer wieder eine Rolle spielte. Tempeldienerinnen haben in der Antike den als sakral geltenden Akt vollzogen, bei den Freimaurern wurde eine sexuelle Vereinigung zum zentralen Ritual des Gottesdienstes, heidnische Fruchtbarkeitsfeiern fanden mit ekstatischen Feiern statt... In unserer materiell-entseelten Welt erscheint der Körper der Frau als eines der letzten Mysterien: Leben spendend, der Ursprung jedes Menschen. Der Wunsch nach Rückkehr zur Geborgenheit soll sich im Körper der Frau erfüllen, so hofft die männliche Psyche. Das Dunkle im Innern der Frau bleibt ein Geheimnis. Sexualität verspricht außerdem Abenteuer und Ekstase - die Werbung lebt vom Körper der Frau als Projektionshimmel aller Wünsche. Musik: Jan Böttcher Du bist ne tolle Frau, ich bin beruflich in der Stadt (3x) Du bist ne tolle Frau, ich bin ne geile Sau Erzählerin: Seit dem 1. Januar 2002 ist Prostitution in Deutschland legalisiert. Prostituierte sind nun kranken- und rentenversichert. Ein Beruf wie jeder andere auch, heißt der Slogan. Man verkaufe sich ja sonst auch... Musik noch mal hochziehen Sprecherin (Zitat Arcan): (Übersetzung: Holger Fock und Sabine Müller) Kehren wir lieber zum Wesentlichen zurück, zum Verkehr mit den unzähligen Schwänzen, die scharf darauf sind, sich in meinem Mund zu entladen und wieder scharf zu werden, doch davon können Sie nichts wissen, es sei denn, Sie sind selbst Hure oder Freier, was im übrigen sehr wahrscheinlich ist, Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist, eine Lust zu befriedigen, die es nach Ihrer Lust verlangt, während sie keine, oder besser gesagt, keine mehr haben, weil Ihre Lust erschöpft ist, weil die Klitoris unter dem beharrlichen Streicheln schmerzt wie ein Splitter, unter der Tyrannei der Lust, die man mir machen will und die nicht wahrhaben will, das zuviel ist, was zuviel ist? Erzählerin: ?Hure? heißt der Roman der Frankokanadierin Nelly Arcan, der 2002 in Deutschland erschien. Eine großangelegte Reflektion über das Frau-Sein an sich, über Selbstentfremdung und die Spaltung der Gesellschaft in gut und böse. Das innere Ich und das äußere Ich der Frau ? wer bestimmt darüber? Sprecherin (Zitat Arcan): Ich könnte nicht sagen, was diese Männer sehen, wenn sie mich ansehen, ich suche es jeden Tag im Spiegel, ohne es zu finden, doch was sie sehen, bin nicht ich, kann ich nicht sein, das kann nur eine andere sein, eine undeutliche, sich der Farbe der Wand anpassende Form, und noch weniger weiß ich, ob ich schön bin... Musik: Marianne Faithfull: For beauty?s sake Erzählerin: Vergleicht man Lebensläufe von Prostituierten anhand der mehr oder weniger autobiographischen Texte, bei denen sich die Identität von Erzählerin und Autorin häufig vermischen, so hat es oft Missbrauch oder Vergewaltigung in der Kindheit gegeben. Den begehrenden Blick des Vaters, das Verstoßen-Werden von der Familie. Schließlich sehen sich die Mädchen selbst als schlecht und böse. Die Heldin von ?Hure? steckt als Kind eine Hostie ein. Sprecherin (Zitat Arcan): Schau Papa, was ich gemacht habe, ich schwöre Ihnen, er hätte mich beinahe verprügelt, das ist ein Frevel, hat er gesagt, und an jenem Tag begriff ich, dass ich auf der Seite der Menschen stehen könnte, dass ich zu jenen gehören könnte, die man anprangern muss, und ich begriff, dass ich dort bleiben sollte. Musik: Konstantin Wecker: Und auf einmal setzt dir einer dieses Zeichen auf die Stirn Das die Wege, die du gehen wirst, bestimmt Sprecherin: Die Erlösung imaginiert Nelly Arcan als eine Märchenwelt ohne Männer. Sprecherin (Zitat Arcan): Ich müsste schon vom Stuhl kippen, aus dem Bett fallen, der Boden müsste sich auftun.... so dass schließlich nur ein ausgewickeltes Prinzessinnenherz übrig bliebe, ein kleines Königreich, das seiner Flugbahn folgt in der Hoffnung, in einem Himmel zu landen, den Männer nicht kennen. Und schon stelle ich mir vor, dass dieses Herz nur von sich aus und für sich allein pocht, ohne irgendetwas am Laufen zu halten, ein nutzloses, aber erfülltes Herz. Musik: Erzählerin: Der Buchmarkt liebt Sex, die Beschreibung von Sexualität, auch der käuflichen, ist meist erfolgreich. So erscheint etwa jedes Jahr eine freimütige Lebensbeschreibung aus dem Rotlichtmilieu. Dabei paart sich Offenheit gern mit Koketterie - schmerzhaftes Bekenntnis und Stimulation mischen sich. ?Das süße Gift des Skorpions ? Mein Leben als brasilianische Sexgöttin? von Raquel Pacheco, erschienen 2007, liest sich als Detailschilderung körperlicher Genüsse. Sechs Auflagen erzielte 2005 Lisa Moos mit ihrem Buch ?Das erste Mal und immer wieder?. Auch die Fortsetzung ?Männer-Roulette, ein Leben nach der Prostitution? wurde 2007 mehrmals aufgelegt. Als Autorin erotisiert Lisa Moos mit Worten: Sprecherin: Der weiche, glänzende Stoff meines langen Kleides raschelte bei jeder Treppenstufe angenehm an meinen Beinen. Er begehrte mich, ich wusste es, schritt vor ihm den Gang entlang, tänzelte leicht dabei und fühlte seine Blicke bohrend auf meinem Arsch. Joachim gehörte nicht zu den anstrengenden, perversen oder undurchsichtigen Kunden. Er fesselte mich mit seinem Körpergewicht, mit seinen Armen. Ich umklammerte ihn wie ein Affenbaby seine Mutter beim Baumsprung und er fickte mich leidenschaftlich, hart und lange. Nach dieser Nacht nahm ich fast 2000 Mark mit nach Hause. Ja, ich mochte ihn wirklich. Erzählerin: Ihn oder sein Geld? Lisa Moos? Sprache ist offen pornographisch, bedient gezielt voyeuristische Interessen der Leser. Aber das Buch ist auch ein Dokument über einen weiten Weg der Selbstfindung. Sie berichtet von Schuldgefühlen ihren Kindern gegenüber, von vielen ruhelosen Umsiedlungen, Neuanfängen und verheerenden finanziellen Engpässen. Sie zeigt mit radikaler Offenheit ein nachvollziehbares Lebens-Chaos, das Möglichkeiten zur Identifikation bietet und der Autorin Berge von Fan-Post brachte. Musik: Cora Frost Ljuba, ach Ljuba, was machst du im Kohl? Ich weiß, was du da machst, ja ich weiß es wohl Erzählerin: Das Schreiben und der öffentliche Auftritt bei Lesungen hatten für Lisa Moos spürbar eine selbstreinigende Wirkung. Sprecherin (Zitat Moos): Für mich war die Überzahl der Anwesenden gekommen, um mir zu zeigen, dass sie mein Leben akzeptierten. Für sie war ich keine ?dümmliche Nymphomanin?, die aus Geilheit zwanzig Jahre auf den Strich gegangen war. Für sie war ich Freundin, Schwester, Mutter, Geliebte und vor allem Mensch. Ein Mensch aus ihrer Mitte, den sie so liebten, dass es ihren Gesichtern anzusehen war. Erzählerin: Auch Sonia Rossis dokumentarisches Buch ?Fucking Berlin? hatte innerhalb von zwei Monaten bereits die dritte Auflage erreicht. Der Titel ist grammatikalisch irreführend und bewusst doppeldeutig, die Sprache schlicht, der Inhalt dabei nach bestem Wissen und Gewissen ehrlich. Sprecherin (Zitat Rossi): Es war wie auf dem Viehmarkt. Unsere Namen merkten sie sich sowieso nicht. Sie machten fast immer Quickies, an denen wir kaum etwas verdienten. Dafür wurden wir dann auch noch bis ans Ende der vereinbarten Zeit total durchgebumst, in jeder Stellung, am liebsten anal und, was ich natürlich nicht erlaubte, ohne Gummi. Außerdem waren sie oft ungeduscht und grapschten einen an wie ein Stück Fleisch, ohne Zärtlichkeit oder Respekt. Als ich mich einmal bei meinem Chef über das herabwürdigende Verhalten unserer Klientel beschwerte, zuckte er nur ungerührt mit den Schultern. ?So machen wir unser Geld. Wir sind ja nicht in Zehlendorf.? Erzählerin: Der bürgerliche Berliner Stadtteil Zehlendorf leuchtet als Gegenwelt, wenn die italienische Mathematikstudentin fern der Heimat für ihren Lebensunterhalt aufzukommen versucht. Kneipenjobs hatten finanziell nicht gereicht; so wurde sie erst Masseuse, dann Hure. Sie finanzierte ihren kiffenden Freund, wie viele Kolleginnen, so erfährt man, finanziell die Firma ihres Mannes tragen. Zum Interview erscheint sie mit schwarzer Perücke und großer Sonnenbrille; man kann ihr im Gespräch nicht in die Augen sehen. O-Ton Rossi: Wenn Freier einen so abfällig behandelt haben, hat man es sich schon zu Herzen genommen, weil man hat sich schon wie ein Stück Fleisch gefühlt teilweise. Es war nicht nur, was sie machen wollten, das wäre auch nicht das Problem gewesen, aber die Art und Weise, wie sie Befehle gegeben haben ? man hat schon gesehen, dass da keine Schätzung war, dann angezogen und weggegangen ohne sich zu bedanken. Dabei gab es auch viele andere Kunden, die einem das Gefühl gaben, etwas wert zu sein und etwas Besonderes zu sein. Am Anfang hat mich das schon sehr gestört, und dann habe ich mir gesagt, okay, wenn du diesen Job weitermachen möchtest und du brauchst die Kohle, musst du einfach da durch. Erzählerin: Das Schreiben führte zu einer Klärung, besonders was das Verhältnis zu ihrem Mann anging. O-Ton Rossi: Es war mehr, dass er mir irgendwann leid getan hat, ich habe eine ausgeprägte soziale Ader, das ging viel zu weit, dass ich diesen Mann letztendlich jahrelang unterstützt habe wegen seiner schweren Kindheit, auch als die Liebe schon längst verflogen war, und das habe ich im Nachhinein quasi beim Schreiben bemerkt. Deswegen habe ich mich gefragt: hast du das wirklich gemacht, ist das wahr? Deswegen hat es doch ganz viel geholfen, dieses Buch zu schreiben. Man hat die Sache noch einmal nüchtern erlebt. Musik: Cora Frost Ich liebe Euch alle, ich weiß, ihr seid da Erzählerin: Für die kanadische Autorin Nelly Arcan ist die Literatur das Ziel, wie die Heldin ihres Buches ja auch Literatur studiert. Mit ihrem Roman ?Hure? ist sie dem Berufswunsch, Schriftstellerin zu werden, deutlich näher gekommen. Ein Weg durch sich selbst hindurch, wie sie bei einem Treffen in einem Café sagte: O-Ton: Take 1 Nelly Arcan I?m pretty happy to have written that book, it is not a therapy... Sprecherin (Overvoice): Ich bin sehr froh, dass ich das Buch geschrieben habe, aber es ist keine Therapie. Man braucht immer jemanden, der das eigene Denken anhält und sagt: Stopp, du denkst so, aber das Problem gibt es eigentlich nicht. Im Buch redet eine Person ohne Antwort von anderen ? sie sitzt in einer Falle, in diesem Zimmer, in ihrem eigenen Denken. Für mich ist es ein großer Gewinn, dass ich nun sagen kann, ich bin Schriftstellerin und werde weitere Bücher schreiben. Erzählerin: Im Roman spricht die Frau mit einem Analytiker, den es in der Wirklichkeit auch gab: O-Ton: Take 2 Nelly Arcan I?ve been in psychoanalytical therapy for 2 years but that was really strange? Sprecherin (Overvoic): Zwei Jahre lang habe ich eine psychoanalytische Therapie gemacht, aber das war sonderbar, denn der Analytiker hat immer mein Manuskript gelesen, und ich habe die Therapie mit dem Geld bezahlt, das ich mit der Prostitution verdient habe, und so war ich auch darin gefangen. Nach zwei Jahren habe ich das beendet, er hat mir beim Schreiben geholfen, aber nicht auf psychoanalytische Weise, weil das literarisch zerstörerisch geworden wäre. Ich habe schon alles geschrieben, was ich so nicht sagen konnte ? wir haben dann die Therapie abgebrochen. Heute bin ich dankbar für schmerzhafte Erfahrungen, weil sie neue Inspirationen sind ? ich möchte gar nicht geheilt sein. Musik: Ingrid Caven Ich bin die Hure an der Bar, die ich seit 100 Jahren war ich bin, was du vergessen hast der ausgestorbene Palast Ich bin, ich werde sein, ich war Die Fledermaus in deinem Haar 19