COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : Hinter Mauern und Schleiern - Bücher der Anklage von deutsch-türkischen Autorinnen Autorin: : Renate Maurer Redakteur/in : Dorothea Westphal / Carsten Hueck Sendetermin : 19.10. 2010 (Wdh. v. 9.5.2006) Regie : Beatrix Ackers Besetzung : Eva Kryll und Siir Eloglu Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik 1 O-Ton Inci "Als ich ihm kennengelernt hab, da dachte ich: wie er mit mir umge- gangen hat, dass er das machen kann, weil nicht jeder kann so ein Buch schreiben, es muss der richtige Mensch sein, das war mein Ziel und das war mein Traum. Da hab ich Stück Stück meine Geschichte erzählt, er hat mir immer zugehört, das war eigenartig, wie er mich zuhört, wie er Zeit nimmt für mich, da hab ich gedacht: Helmut, wir können ein Buch schreiben, wir kennen uns so gut und Du kannst mich sehr gut verstehen, so haben wir angefangen ..." 2 O-Ton Jochen Faust "Wir kannten uns vorher vier Jahre und sie hat mir immer mal wieder Details erzählt, zum Beispiel eines dieser Details, dass sie während der Schwangerschaft am Küchenfenster stand und das nur einen Spalt aufmachen durfte, nachts, um mal frische Luft zu holen, solche Dinge halt ...und ich wusste, da kommt was auf mich zu - aber was dann wirklich auf mich zukam, das war schon gewaltig, das war auch für uns gewaltig" Sprecherin: Im Frühjahr 2005 kam das Buch bei einem angesehenen Münchner Verlag heraus, unter dem Pseudonym Inci Y: "Erstickt an euren Lügen" - Eine Türkin in Deutschland erzählt". Ein Erinnerungsbuch über die brutale Unterdrückung und Gefangenschaft im Netzwerk der Familie und Traditionen. Es führt von der Türkei nach Deutschland und von dort ins Desaster einer erzwungenen Teenager-Ehe im hintersten Anatolien und wieder zurück in die deutsche Kleinstadt, aus der die Erzählerin mit 16 gerissen wurde. Unter den vielen, in letzter Zeit erschienenen Lebensberichten und Enthüllungsbüchern deutsch-türkischer Autorinnen eines der aufwühlendsten, eindringlichsten: Musik Zitat-Sprecherin: "Almanci gelin, deutsche Braut nennen mich die Einheimischen bald, als wenn ich nicht in die Türkei gehörte.Wie ein Bienenschwarm überfallen uns Besucher aus den umliegenden Dörfern. Sie kommen mit nackten, schmutzigen Füssen, mit dreißig Jahren Dreck in den Gesichtern. Sie riechen nach Schweiß, Schmutz und Tieren. Hikmet auch. Ich muss ihre Hände küssen. Sie küssen mich ins Gesicht. Speichel läuft meine Wangen herunter. Ich ekele mich, bekomme Ausschlag. Mit all diesen Menschen werde ich nach der Hochzeit verwandt sein. "Du musst bei ihnen stehen bleiben wenn die Besucher essen und trinken. Du musst sie bedienen. Du darfst nicht laut reden. Du darfst nicht lachen. Du darfst keinen unterbrechen. Du darfst keinem widersprechen." Jeder fühlt sich für mein Benehmen zuständig. Und vor allem: "Du darfst keine Hosen tragen." Die altbackenen Kleider -knöchellange Röcke, hochgeschlossene Blusen, sind genau das Richtige. Die flirrende Mode aus Izmir wird weggeschlossen. Ich fühle mich nur noch erniedrigt." Sprecherin: Vom Bahnhof sind es mit dem Auto nur wenige Minuten bis zu Incis Wohnung in einem sauber renovierten Nachkriegsbau mit ehemaligen Offizierswohnungen. Jochen Faust, der Verfasser ihres Buches, sitzt am Steuer; auch sein Name ist ein Pseudonym. Ein großer, kräftiger Mann, kurz geschnittene graue Haare, Schnurrbart, rot-schwarzer Anorak- eine Gestalt, wie aus einem der späten, freundlicheren Kaurismäki-Filme. Man kann ihn sich gut in rauen Landschaften vorstellen, bei Wind und Wetter ständig unterwegs - aber auf gemütliche Art. Mit genügend Pausen am Tresen eines Cafés oder Pubs. 3 O-Ton Jochen Faust "Und irgendwann war´s einfach reif. Es war dann so: dass wir gesagt haben: entweder wir machen´s jetzt oder wir machen´s nicht. Und zwar war´s immer so: dass die Inci mir erzählt hat, ich habe mitge-schrieben. Für mich war´s eigentlich, ich bin ja Berufsjournalist, ein gigantisches Interview, ein ungeheuer großes Interview" Sprecherin: Jochen Faust ist freier Journalist in der kleinen Stadt mit den vielen Kirchtürmen, in die Inci 1999 mit ihren beiden Kindern zurückkehrte. Damals sprang er ihr bei Problemen mit der Ausländerbehörde zur Seite, gewann ihr Vertrauen und ihre Freundschaft. Ein halbes Jahr lang schrieb er ihre Geschichte in große DIN A 3 Hefte und brachte sie literarisch in Form. Geradlinig, lakonisch, pur. Im Tonfall maximaler Nüchternheit und Beiläufigkeit, der den erschütternden Tatsachen eine doppelte Wirkung verleiht. Die Kunst des Weglassens, sagt er, habe er zehn Jahre lang als Redakteur der Nachrichtenagentur AP, Associated Press, gelernt. 4 O-Ton Jochen Faust "Es war ein Spagat auch und der Spagat war natürlich der, dass ich als Mann praktisch ein Buch schreiben musste, wo man nicht gemerkt hat, dass es ein Mann geschrieben hat. Und das war eigentlich am Schluss das große Kompliment, dass alle gesagt haben, man merkt es nicht, dass das ein Mann geschrieben hat. Und das ist gar nicht einfach, wenn man so tief in die Gefühlswelt einer Frau eintauchen muss und das dann wiedergeben in Ich-Form, das war nicht einfach" Sprecherin: Wir sitzen bei Inci auf der altrosa Couch in der Diele ihrer liebevoll dekorierten, sehr aufgeräumten 3-Zimmer-Wohnung. Pastellgelb und türkis gestrichene Wände, bedeckt mit Familienphotos und von ihr gemalten Mohnblumen-und Landschaftsbildern. An der Decke ein Neonring als Beleuchtung. Sie erinnert mit ihren großen schwarzen Augen und dem blassen Teint verblüffend an Anna Netrebko. Eine Schönheit - immer noch; die schlimmen Erfahrungen der Vergangenheit sieht man ihr nicht an. Sie sitzt sehr aufrecht und sagt: 6 O-Ton Inci: "Das war genauso richtig, wie er gemacht hat, ich musste nicht viel korrigieren, weil der hat genauso geschrieben, wie ich erzählt hab: er könnte meine Gefühle richtig deutlich schreiben. Wir sind mit dem Zeit, ich bin er geworden, er ist ich geworden. Also, er kann schon versteh- en, bevor ich meinen Mund öffne. Da hab ich gesagt: ja genau diese Gefühle hab ich gehabt, das kann doch nicht wahr sein, dass du meine Gefühle so richtig ausdrücken kannst" 7 O-Ton Jochen Faust: "Ich hab furchtbare Angst gehabt, dass das Buch in ne Richtung geht, wo man irgendwo sagt, na ja, ne durchgeknallte Familie, so durchge-knallte Familien haben wir in Deutschland auch, also, dass man das mehr in die Richtung geschoben hätte, dass das ein persönliches Einzelschicksal ist. Und da hab ich gemerkt, dadurch, dass ich, auch im Verlauf dieses Buches, dass ich andere Türken kennengelernt habe, dass das also für einen gewissen Teil der Bevölkerung, die unter diesen Bedingungen, unter diesen Sitten und Gebräuchen lebt, durchaus die Wahrheit darstellt." Sprecherin: Incis traurige und tragische Geschichte ähnelt in ihren Grundzügen verblüffend den Lebensgeschichten anderer Autorinnen aus dem türk-ischen Immigranten-Millieu. Hier, wie in den Büchern von Serap Cileli, Seyran Ates oder Necla Kelek, wie in den vielen anderen Anklagebüchern muslimischer Frauen, von anspruchsvoll bis boulvardesk: der alltägliche Wahnsinn der Verbote, Bewachung und Prügel im Namen der Familienehre, die Obsessionen des Verheiratens und der Jungfräu-lichkeitskontrolle, das Desinteresse an Schulbildung und die Verbote deutscher Freundschaften. Und hier wie dort schließlich die Rebellion und Flucht. Musik Sprecherin: Im Fall von Inci ist schon die Kindheit bei den Großeltern in Ankara eine Einübung in Härte und Herzlosigkeit. Geboren 1970 in Deutsch-land, wird sie von den Eltern für die ersten neun Jahre bei den Groß-eltern in Ankara "geparkt". In der Großfamilie, die zu acht in einem Haus mit zwei Zimmern lebt, ist die Großmutter der einzige Halt. Für Opa, einen stockkonservativen Kurden, ist es unter seiner Würde, mit Kindern zu reden. Auch weinen gilt als respektlos. Inci weint deshalb nie vor anderen, verbeißt sich jeden Schmerz, selbst bei schlimmsten Verletzungen. Zitat-Sprecherin: "Meine Tante und meine Oma dürfen kein Kind umarmen, wenn Opa dabei ist. Das wäre ihm gegenüber respektlos. Warum, weiß niemand zu sagen. Es ist Tradition (...) Der Austausch von Zärtlichkeiten ist in unserer Familie nicht üblich. Das hat Oma schon so erlebt. Folglich nimmt mich Oma als Kind nicht ein einziges Mal in den Arm. Selbst ich umarme meine Kinder bis heute nicht. Dabei liebe ich sie von Herzen." Sprecherin: Erst vor einem Jahr, sagt Inci, habe sie von ihrer Tochter erfahren, was körperliche Nähe zwischen Mutter und Kind sein kann. 8 O-Ton Inci "Ich hab gestern erzählt, dass meine Tochter mir beigebracht hat, wie man zärtlich gegenüber ihre Kinder sein muss. Sie hat mir gesagt: Mama, ich brauche deine Arme, komm wir kuscheln bisschen. Dann haben wir gekuschelt, langsam hat sie mir beigebracht, obwohl sie nicht wusste, dass ich das nicht kenne..." Sprecherin: Mit neun dann der Wechsel zu den Eltern in die Türkensiedlung einer deutschen Kleinstadt. Die Mutter hat der Moral einen doppelten Boden eingezogen, betrügt ihren Mann nach Strich und Faden. Die Tochter erzieht sie mit Fausthieben zur Anständigkeit. Die Schule, in der Inci nicht mitmacht und von den Lehrern links liegen gelassen wird, ist egal. Mit 16 verheiratet sie die Mutter mit dem Sohn ihres Geliebten in ein anatolisches Dorf, mit einem Kuhhirten und Macho, der per Fern-kurs zum Bankleiter aufsteigen will, aber selbst als Gelegenheitsar-beiter versagt . Musik Zitat-Sprecherin: "Büsche und Bäume verbergen unsere armselige Behausung, den an der rechten hinteren Ecke an die Mauer gebauten ehemaligen Schaf-stall. Es ist ein Schlauch, etwa zehn Meter lang und gerade mal drei Meter breit. An den Stirnseiten lassen nur zwei Fenster etwas Licht und frische Luft in die Räume. Wenn Hikmet nicht da ist, darf ich das Haus nicht verlassen. Oft fällt in Izmir der Strom aus. Kein Lichtstrahl dringt dann in den fensterlosen Raum. Frische Luft sowieso nicht. Angstzustände und Erstickungsan-fälle überfallen mich im Bett. Wie oft stehe ich nassgeschwitzt auf der Toilette, atme heimlich durch einen Fensterspalt die Luft tief ein, suche die Sterne am Himmel." Sprecherin: Zehn Jahre dauert der Alptraum dieser Ehe, dann erzwingt Inci die Scheidung. Damit kommt die Geschichte erst richtig in Fahrt, verwandelt sich in einen Thriller, in dem sich Befreiung und Rückschläge auf abenteuerliche Art mischen: mit Kindesentführungen, Verfolgungs- jagden, neuer Liebe und hoffnungslosen Versuchen des Neubeginns in Izmir und in der deutschen Stadt ihrer Jugend. Sprecherin: "Erstickt an Euren Lügen" fand auf Anhieb viele Leser - weibliche vor allem und deutsche; zwischen Mai und November 2005 wurden 25.000 Exemplare verkauft. Was auch daran lag, dass zur gleichen Zeit, im gleichen Verlag, das Buch einer prominenten Leidensgenossin erschie-nen war: "Ich klage an! - Plädoyer für die Befreiung muslimischer Frauen" von Ayaan Hirsi Ali. Die in Somalia geborene, niederländische Politikerin war mit der grausamen Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh in die Schlagzeilen geraten. Der Drohbrief des Mörders Mohammed Bouyeri, fixiert mit einem Dolch auf dem Bauch des Toten, war an seine Drehbuchautorin adressiert, an die Islamkritikerin und bekennende Atheistin Ayaan Hirsi Ali. Eigentlich hätte sie sterben sollen. In ihrem Buch zieht Hirsi Ali direkte Verbindungslinien zwischen der Unterwerfung und Erniedrigung muslimischer Frauen und dem Geist und den Geboten des Koran und der Schriften Mohammeds. 9 O-Ton Necla Kelek "Also, "Ich klage an", das war ja für mich auch sehr wichtig von Ayaan Hirsi und dann "Inci Y": das hab ich über Nacht gelesen, verschlungen, es ist ein großartiges Buch! Das ist deshalb so großartig, weil sie mit so einer Ehrlichkeit Tabus gebrochen hat und zwar diese Sexualität, diese Gewalt der Sexualität, die man mit diesem Mädchen halt macht und dass sie das so ehrlich geschrieben hat. Also sie verdient eine so große Dankbarkeit von mir und allen Frauen, die das nicht wagen, das so zu erzählen..." Sprecherin: Ein paar Monate zuvor, im Januar 2005, hatte auch die Soziologin Necla Kelek ihre türkisch- tscherkessische Familiengeschichte vorgelegt in der sie mutig das Innerste nach Außen kehrt und ihre persönlichen Erfahrungen mit historischen, kulturellen und politischen Studien ver- knüpft. Ihr Buch "Die fremde Braut - Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland" war kaum erschienen, als in Berlin der sogenannte "Ehrenmord" an der jungen Türkin Hatin Sürücü passierte; der fünfte innerhalb von vier Monaten. 11 O-Ton Necla Kelek "Das sind ja archaische Vorstellungen vom Sein und der Welt und von Mensch und Gesellschaft. Und das ist diese Kulturdifferenz, wo dann aufeinanderknallt und wo dieser Rückzug in dieser Parallelgesellschaft stattfindet ..." Sprecherin: Für Necla Kelek ist die Integration schon lange gescheitert. Am Rück-zug türkischer Immigranten in ein moralisches Paralelluniversum, das von archaischen Gesetzen und Geboten bestimmt wird. Auf der einen Seite. An der Blindheit, Konfliktscheu und falschen Toleranz deutscher Gutmenschen und Islamversteher auf der anderen. Ihre These: die Hälfte der hier lebenden Türken ist in der Moderne nie angekommen und will es auch nicht. 12 O-Ton Necla Kelek "Und das nennen wir dann archaische Strukturen: dass dort immer noch die Meinung herrscht: der Mensch gehört sich nicht selbst, sondern der Gemeinschaft, und das ist nach wie vor in dieser Parallel-gesellschaft zu finden, dass der Mensch kein Recht auf sich selbst hat, sondern dem folgen muss, was andere von ihm verlangen. Sprecherin: Necla Kelek ist eine temperamentvolle, eloquente Rebellin. Sie trägt das lange, schwarze Haar offen und einen modernen karierten Kilt zu schwarzem Rollkragen-Pulli und schwarzen Strumpfhosen. Bei aller Angriffslust hat sie ein sympathisches, offenes Lächeln. Man sieht ihr gerne zu, wenn sie in Fahrt kommt. Beispielsweise beim Thema "Türkische Hochzeiten", einem Schlüsselthema für die Mechanismen der Macht in traditionellen türkischen Familien: 13 O-Ton Necla Kelek "weil ja über das Verheiratetwerden, immer wieder einem gesagt wird: du gehörst dir nicht selbst, du gehörst uns. Und wir bestimmen über dich, wie du, wann und mit wem du leben kannst, in welche Art und Form, wir bestimmen darüber und dass das solange schon anhält. Und da war mir wichtig halt, dass ich am Beispiel meiner Großmutter, wie sie geheiratet hat, aufzuzeigen, am Beispiel meiner Mutter aufzuzeigen wie sie geheiratet hat 1946 in Zentralanatolien und dass, jetzt nach 50, 60 Jahren Mädchen mitten in Berlin genauso verheiratet werden wie sie. Und das ist vielleicht das Aufrüttelnde an dem Buch: dass wir doch hinschauen müssen: warum ändert sich nichts? " Sprecherin: Die promovierte Soziologin gehört, wie die Berliner Rechtsanwältin Seyran Ates, zu den Türkinnen, die sich in der deutschen Gesellschaft wohl und zuhause fühlen, die hier seit vielen Jahren arbeiten, forschen und beraten und mit klaren Worten das anprangern, was im türkischen Parallelstaat schon lange faul ist: die Zwangsheiraten und das Import-und Exportgeschäft mit türkischen Bräuten, die Zunahme der Kopf-tücher und die schleichende Islamisierung. 15 O-Ton Necla Kelek "Es ist so: dass ein Mann heiratet oder verheiratet wird und mit dieser Frau einen eigenen, persönlichen Staat bildet. Und das ist eine Struk-tur, die stammesgemeinschaftliches Prinzip ist. Und je mehr Söhne er hat, desto stärker ist sein Staat und kann nach draußen halt als ein angesehener Staat auftreten. Und sie bleiben ja alle auch zusammen, das ist dieses Großfamilienprinzip in der Moderne dann, aber die Struktur basiert auf stammesgemeinschaftlicher Kultur, die Verheirat-ung findet ja auch innerhalb der Familien statt, in der Großfamilie aus der Türkei zum Beispiel, aus dem Verwandtschaftskreis wird jemand geholt und so wächst mein kleiner Staat dann halt immer größer..." Sprecherin: In ihrem Buch hat sie sich auch das Tabuthema der türkischen "Import-Bräute" vorgenommen, berichtet vom Elend dieser Mädchen aus den Dörfern Anatoliens mitten in Hamburg oder Berlin, die verbannt in die Wohnungen und ausgebeutet von ihren Schwiegermüttern wie Sklavinnen gehalten werden und ihre Aggressionen in ihre Kinder hineinprügeln. Frauen, das kann man auch bei Hirsi Ali und Inci Y. erfahren, sind oft eifrigsten und unbarmherzigsten Verwalterinnen und Verteidigerinnen der alten Sitten und Traditionen: 16 O-Ton Jochen Faust "Es sind die Frauen, die praktisch ihre Töchter in das Leben reinpressen, in das sie selbst reingepresst wurden, weil sie gar keine Alternative sehen. Wobei alles das, was wir in der Verbindung zwischen Mann und Frau erfahren und wissen, dort überhaupt keine Rolle spielt. Betrogen sind ja genauso die Männer, das sind ja Männer, die überhaupt mit Frauen nichts erleben: wo ist da Vertrauen, wo ist da Liebe, wo ist da Zärtlichkeit? 17 O-Ton Necla Kelek: "Liebe ist ja eine Erfindung des Individualismus, als die Menschen sich befreit haben, das ist ja auch eine zivilisatorische Errungenschaft unserer neuen Zeit oder der Aufklärung, wo der Mensch nach Sinn-suche, sich selbst findet, Liebe ist ja sich selbst finden. Und das wird vermieden, wenn das nämlich ins Spiel kommt, die Liebe ins Spiel kommt, dann verlässt der Sohn seinen Vater, der Vater verliert den Sohn oder die Mutter verliert den Sohn, weil er nach der Liebe sich richten wird. Sprecherin: Necla Keleks Eltern waren in den 60er Jahren in Istanbul noch begeisterte Anhänger der Moderne gewesen Zitat-Sprecherin: "Wir waren Istanbuler und träumten höchstens von noch mehr Moderne, die wir in einem anderen Land zu finden hofften. Die Türkei war mit uns auf dem Weg nach Amerika. Und wenn wir nicht nach Amerika konnten, dann lebten wir eben den "American way of life" in Istanbul. Es war schick, amerikanisch zu sein und den Lebensstil der Amerikaner zu kopieren, amerikanische Autos zu fahren und sich wie Jackie zu kleiden. " Sprecherin: 1968 folgt die Familie dem Vater nach Deutschland, in eine Kleinstadt bei Hannover. Da ist Necla 11 Jahre alt. In der Fremde, umgeben von Landsleuten aus Zentralanatolien, besinnen sich die Eltern auf einmal auf die alten Sitten. Necla darf zwar aufs Gymnasium gehen aber nicht Radfahren, Schwimmen oder Sport treiben - zu gefährlich fürs Jungfernhäutchen. Auch deutsche Freundinnen sind verboten. Mit 18 sind alle türkischen in die Türkei verheiratet, beobachtet sie, ins Haus verbannt, einsam jedes Wochenende vom Fenster aus das Saturday- Night-Fever" in der gegenüberliegenden Disco. Die Lehre als technische Zeichnerin in einer LKW-Fabrik und ihr Enga-gement in der Gewerkschaft sind ihre Rettung. Angesteckt vom revolu-tionären Geist der 70er Jahre wagt sie den Aufstand gegen den Vater: Musik Zitat-Sprecherin: "Balta, das Beil, steht in der Türkei für Mord. Es kommt vor, dass Frauen nach Jahren der Quälerei ihre Männer mit dem Beil im Schlaf erschlagen. Doch ich war hellwach, wütend und beleidigte ihn immer weiter. Mein Vater warf das Beil weg und packte mich an meinen wieder lang gewachsenen Haaren. Er schleuderte mich gegen den Schrank und die Wand und brüllte mich an ich solle schweigen. In meinem Schmerz krallte ich mich wie eine Katze an seinem Hals fest und ließ nicht eher los, bis er mich endgültig in die Ecke schleuderte und, am Hals blutend aus dem Zimmer stürzte." Sprecherin: Bald darauf kehrte der Vater in die Türkei zurück - Necla Kelek hat ihn nie wieder gesehen. Seit Erscheinen ihres Buchs ist sie ständig zu Lesungen, Vorträgen, interkulturellen Diskussionen unterwegs. Sie hat sich mit der "fremden Braut" natürlich nicht nur Freunde gemacht. Ihre aufgedeckten Wahrheiten und respektlosen Attacken sind ein Affront für die Vertreter türkischer und islamischer Verbände, aber auch für die "Neomosleminnen", junge, gebildete Türkinnen, die einen radikalen Islamismus mit urbanem Lifestyle verbinden und voller Hass und Verachtung die Bücher von "Abtrünnigen" wie Necla Kelek und anderen "Schlampen der Saison" lesen. Empörter Widerspruch kommt auch aus dem Lager der deutschen Liberalen und Linken. Mit ihren Thesen stellt Necla Kelek immerhin die multikulturellen Konzepte einer politischen Elite auf den Kopf und 30 Jahre deutsche Integrations politik in Frage. In einem offenen Brief in der "Zeit" forderten 60 Wissenschaftler unter Federführung des Pädagogen Mark Terkessidis und der Migrationsfor- scherin Yasemin Karakasoglu: "Gerechtigkeit für Muslime. Bei den Büchern von Necla Kelek und ihrer Mitstreiterinnen Seyran Ates und Ayaan Ali Hirsi handle es sich um "reißerische Pamphlete, in denen eigene Erlebnisse und Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen Problem aufgepumpt" würden. Sie selbst konterte in der "SZ" und "Welt": Zitat-Sprecherin: "60 Migrantenforscher haben gegen mich unterschrieben: Was haben die eigentlich all die Jahre mit ihren Mitteln und Stellen getan und was haben sie alles übersehen, so dass viele Probleme nicht erkannt wurden? Sprecherin: Und: Zitat-Sprecherin: Die Politik hat viel zu lange auf sie gehört." Sprecherin: Sie hat ihr zweites Buch vorgelegt mit dem provokanten Titel: "Die verlorenen Söhne - Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes." Musik Zitat-Sprecherin: "Beinahe zwei Jahre lang, fast jeden Donnerstagmorgen, kamen sie zu mir nach Hause und jedes Mal traf es mich wie ein Schock, wenn sie die vorgeschriebenen Schleier und Umhänge ablegten und die Farben förmlich aus ihnen herausplatzten. Wenn meine Studentinnen diesen Raum betraten, legten sie mehr ab, als nur ihre Kopftücher und Mäntel Schritt für Schritt gewann jede von ihnen an Kontur und Gestalt und wurde so ein eigenständiges, einzigartiges Wesen." Sprecherin: "Lolita lesen in Teheran", so der Titel des Erinnerungsbuches von Azar Nafisi, handelt von einem verbotenen geistigen Abenteuer im Gottes-staat der Mullahs. Jeden Donnerstag kommen sieben Studentinnen wie "Diebe in der Nacht" in das Haus der Literaturprofessorin Nafisi und werfen ihre Tschadors ab, um Romane von Nabokov und Fitzgerald, Henry James und Jane Austen zu lesen und zu diskutieren. Die Autorin, Tochter aus bestem persischen Haus - ihr Vater war unter dem Schah Bürgermeister von Teheran bis er in Ungnade fiel - erhielt ihre Bildung an englischen und Schweizer Schulen und in den USA. 1979, nach der Machtübernahme Khomeinis, kehrte sie nach Teheran zurück, um dort an der Universität englische Literatur zu lehren. Sie wurde entlassen, als sie sich weigerte, den Tschador zu tragen. 1995 gründet sie jenen heimlichen Literaturzirkel, um sich und ihren Studentinnen einen eigenen, kleinen Freiraum zu schaffen Zitat-Sprecherin: "vor der Welt des Zensors da draußen, voller Hexen und Kobolde" Musik Sprecherin: Sieben junge Iranerinnen diskutieren über die sexuellen Obsessionen Humberts, die Hilflosigkeit Lolitas oder die Widerspenstigkeiten und erotischen Freiheiten der Heldinnen von Jane Austen oder Henry James und kommen dabei mehr und mehr der Tragödie ihres gefesselten Lebens unter der Tyrannei der islamischen Glaubens- und Sittenwäch-ter auf die Spur, entdecken ihre eigenen Gefühle, Träume - ihr eigenes Ich. Das ist die eine Geschichte. Die andere wächst aus Momentauf-nahmen aus der düsteren Realität der Außenwelt zusammen: Zitat-Sprecherin: "Wir folgen Sanaz die Treppe hinunter, aus dem Haus auf die Straße. Vielleicht fällt Ihnen auf, dass sich ihr Gang und ihre Gestik sich ver-ändert haben. Sie tut alles, damit man sie nicht sieht, nicht hört, ja überhaupt bemerkt. Sie geht nicht aufrecht, sondern mit gesenktem Kopf und vermeidet es Passanten anzusehen. Sie bewegt sich schnell und zielstrebig. Durch die Straßen von Teheran und andere Städte patroulliert die Miliz in weißen Toyota- Streifenwagen; darin sitzen vier mit Gewehren bewaffnete Männer oder Frauen. Manchmal haben sie noch einen Kleinbus im Gefolge. Ihr Name: das Blut Gottes. Sie fahren durch die Straßen, um sicherzustellen, dass Frauen wie Sanaz vor-schriftsmässig gekleidet sind, kein Make-Up tragen und in der Öffent-lichkeit nicht anders als ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern gesehen werden." Sprecherin: Man erfährt vom 18jährigen Kampf der Revolutionswächter gegen Haarsträhnen, rosa Söckchen und Äpfel, die in "zu aufreizender Art" gegessen werden. Und man zuckt zusammen, wenn man von den Fol-gen eines unschuldigen Kurzausflugs von Sanaz und ihren Freundinnen ans Meer liest. Geschehen im Jahr 1997. Die sechs Mädchen werden von der Sittenpolizei geschnappt, ins Gefängnis gesteckt und mehreren Jungfräulichkeitskontrollen unterzogen. Ihr Vergehen: sie hatten, von Kopf bis Fuß verhüllt,mit einem Jungen im Garten einer Villa gesessen. Zitat-Sprecherin: "Mit den Mädchen machte man kurzen Prozeß: sie wurden gezwungen, ein Dokument zu unterzeichnen, in dem sie Sünden gestanden, die sie nie begangen hatten und erhielten 25 Peitschenhiebe." Sprecherin: 1997 verlässt Azar Nafizi den Iran und wandert in die USA aus. Dort erscheint 2003 ihr gefeiertes Buch "Reading Lolita in Teheran." Von "ihren Mädchen" bleiben nur zwei in Teheran; die anderen fünf flüchten oder emigrieren in die Vereinigten Staaten, nach Kanada und England. Musikbrücke Sprecherin: Befreiung durch Bildung, das ist für Inci heute ein schmerzhaftes Thema. Anders als Seyran Ates und Necka Kelek, die sich mit Hilfe der Schule und ihrer Erfolge dort, rechtzeitig aus der Umklammerung von Traditionen und Familie befreien konnten, bleibt für sie die fehlende Schulbildung das Hauptproblem für einen glücklichen zweiten Teil ihres Lebens. Auch wenn sie sagt: 19 O-Ton Inci "Ich bin ein Mensch, ich rede jetzt von mir aus, ich bin lernfähig, ich habe Hunger nach Lernen, egal welche Thema, also mit dem Kopf her, mit dem Gefühl her, bin ich nicht faul, ich will immer noch weiterlernen." 20 O-Ton Jochen Faust "Aber das eigentlich, bis heute Schwierige und für den Rest des Lebens Schwierige ist die Verweigerung der Bildung durch die Eltern. Das ist der Punkt, der mir auch im nachhinein, wo wir uns fünf Jahre kennen und ich fünf Jahre lang versucht habe, sie nur in eine Ausbildung reinzukriegen, die zählt, was nicht möglich ist, weil sie keinen Hauptschulabschluss hat. Es bleiben Hilfsarbeiten für diese Menschen, die darf im Lager arbeiten und Paletten abladen, darf die Ameise durch die Gegend fahren und träumt davon, den Führer-schein für den Gabelstapler zu machen und das ist das, was also für eine hochintelligente und hoch veranlagte Frau übrig bleibt..." 21 O-Ton Inci " Ich warte aber keine Mitleid, ich erwarte von andere Frauen, vielleicht von türkische oder bosnische oder italienische Frauen, dass die mir schreiben: ich habe dein Buch gelesen als Vorbild genommen und ich habe angefangen, mein Leben zu ändern - das will ich lesen und das will ich hören" 1