Deutschlandradio Körperschaft des öffentlichen Rechts Abteilung Wissenschaft und Bildung Redaktion: Carsten Schroeder Deutschlandfunk Aus Kultur- und Sozialwissenschaften Aus Kultur und Sozialwissenschaften SINGEN Die universelle Sprache der Menschheit von Andrea und Justin Westhoff Donnerstag, 01.11.2012 20.10 - 21.00 Uhr Aufnahmedatum: 21.12.2015 Sprecher: Nicole Kleine und Helmut Gauß URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken verwendet werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig ã DeutschlandRadio Raderberggürtel 40 ¨ 50968 Köln ¨ Telefon Hörerservice: 0221-345-1831 1: Pharrell "Happy" Sie: Genau 3.798 Mitarbeiter eines Internetkonzerns haben im September 2015 in Dublin den Weltrekord im Kanonsingen aufgestellt, mit dem Lied „Happy“ von Pharrell Williams. Die Freude hielt allerdings nicht lange. Denn inzwischen sangen über 4.000 turkmenische Bürger eine Hymne auf ihren Präsidenten. Das Lied "Vorwärts, nur vorwärts, mein liebes Land Turkmenistan" hatte der Staatschef selbst verfasst und es damit ins "Guinness-Buchs der Rekorde" geschafft. Das machte jedenfalls den autokratischen Regierungschef happy. Er: "Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen", hat der berühmte Violinvirtuose und Dirigent Yehudi Menuhin einmal gesagt. Sie: Am Anfang war – das Singen. O-Ton 01: Höppner (0'24") Das ist ja eines der ersten Dinge, die ein Baby tut, Laute von sich geben, und es ist ein Urbedürfnis des Menschen mit seiner Stimme, das ist ja das einzige Instrument, was er immer mit sich trägt, sich auszudrücken. Das machen wir uns viel zu wenig bewusst, dass das Ohr ja das einzige Sinnesorgan des Menschen ist, das als erstes anfängt zu arbeiten, nämlich schon pränatal, und als letztes Sinnesorgan aufhört zu arbeiten. Sie: … sagt Christian Höppner, Professor an der Universität der Künste Berlin. Und der Musikethnologe Professor Christian Kaden verweist darauf, dass auch Tiere singen, Vögel, Wale … O-Ton 02: Kaden (0'17") Affen singen auch. Manchmal ist es mit Imponiergehabe verbunden, vor allem im Bereich der Primaten ist es die Möglichkeit, emotionale innere Zustände, Befindlichkeiten, Stimmungen nach außen zu bringen und damit den emotionalen Status mitzuteilen an andere. M2: Adele "Hello" Sie: Die Stimme ist des Menschen ureigenes Instrument, Singen seine Musik – vom leisen Säuseln oder Brummen bis in kreischende, extreme Tonlagen –, eben die Sprache der Gefühle. Dr. Karl Adamek aus Münster, Pionier der Singforschung: O-Ton 03: Adamek (0'12") Sie hören, wie ich gestimmt bin. Jeder hört das. Im Stimmklang sind unsere Gefühle sozusagen verschlüsselt, das Ohr kann das aber intuitiv sofort entschlüsseln. O-Ton 04: Frau (0'09" ) Ich singe gerne, und dann noch einen richtig schönen Song schmettern aus voller Brust, da überschlägt sich dann noch mal die ganze Stimme und das Herz geht auf, also das macht einfach gute Laune. M3: "Jauchzet, frohlocket" Spr.: Die andere Sprache des Menschen O-Ton 05: Kaden (0'21") Gehen wir davon aus, dass zum Menschendasein das Sprechen können gehört, dann ist Singen auch eine Überhöhung oder sogar auch eine Alternative zur Sprechstimme. Singen schafft auch eine spezielle Aura, eine spezielle Form von Heiligkeit, von Gehobenheit … Er: Schon immer galt: Wer in Kontakt mit höheren Wesen treten wollte, versuchte, ihnen mit Klängen zu begegnen. Medizinmänner und Schamanen, Hexen und Zauberer, aber auch Priester und einfache Gläubige. In allen Naturvölkern benutzten Menschen den Gesang, wenn sie etwas erbitten wollten: reiche Jagdbeute, günstige Winde, Kampfesglück. Oder wenn sie die Götter preisen oder die Geister besänftigen wollten. Sie: Das lateinische Wort cantare heißt nicht nur singen sondern auch zaubern. Musikethnologe Christian Kaden: O-Ton 06: Kaden (0'37") Viele Menschen dieser Ritualkulturen haben nicht die Vorstellung, dass es nur diese ebenerdige Welt gibt, sondern dass es eine zweite genauso reale Welt gibt, unten ist es dunkel, oben ist es hell, unten sind die Würmer und Schlangen, oben sind die Vögel, das heißt, es sind alternative Welten, die aber miteinander im Kontakt treten können. Das unten ist die Lebenswelt des Menschen, und das Oben ist die Lebenswelt der Ahnen. Aber die werden nicht abgehoben und ewig weg gedacht, sondern sie können mit uns in Kontakt treten. Das passiert oft durch Singen. M4: Yeyi-Gesang Er: Der Gesang der Bayaka-Pygmäen in der Zentralafrikanischen Republik ist eine Art Jodeln mit verschiedenen Lautsilben, bei dem es zwischen Brust- und Kopfstimme hin- und hergeht. Erforscht wurden diese Gesänge vom amerikanischen Musikwissenschaftler Louis Sarno, der seit Jahrzehnten bei den Bayaka lebt. 2003 wurde ihre Musik von der UNESCO zum Immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Sie: In den großen monotheistischen Religionen wurde Musik zwar zurückgedrängt, zu sehr erinnerte sie an alte heidnische Bräuche. Das Singen aber spielt zumindest in der jüdischen und christlichen Tradition weiterhin eine große Rolle. Er: "Wer singt, betet doppelt" – sagte schon der heilige Augustinus. M5: Synagogen-Gesang Sie: In der Synagoge gibt es den Kantor, also eine Art Vorbeter, der die Worte des Priesters im Gesang unterstützt. In der hebräischen Schriftsprache gibt es nur Konsonanten, die Vokale werden erst beim Sprechen oder Singen hörbar. Er: Das Buch der Psalmen, auch Psalter genannt, heißt so nach der griechischen Bezeichnung für ein Saiteninstrument, das "Psalterion". Es war das Gebets- und Gesangbuch der jüdischen, später auch der christlichen Gemeinden. Sie: Auch in den christlichen Kirchen gab es den Vorsänger, später oft der Leiter des Chores. Der Gesang wurde immer wichtiger für die Liturgie, die Gottesdienstordnung. M6: Kirchenlied Sie: Martin Luther wollte dann, dass die ganze Gemeinde singt. Also hat er viele geistliche Lieder in deutscher Sprache geschrieben oder Bibeltexte übersetzt und vertont. Eine wirkliche Reformation, denn bis dahin war die "Volkssprache" im Gottesdienst verboten. Luther wusste, das singend die Glaubensinhalte besser im Gedächtnis bleiben und "in die Seele fahren". Er: Das sehen viele islamische Gelehrte bis heute anders: Für sie ist das Singen im Gotteshaus zu sehr in der Nähe von Unterhaltung, Exzess und Erotik und lenke vom Glauben ab. Sie: Cornelia Dette, Theologin und Kirchenmusikerin, hat ein "Interreligiöses Singen" organisiert und sich dafür damit befasst, wie unterschiedlich mit Gesang umgegangen wird. O-Ton 07: Dette (0'31") Dann ist mir erstmal klar geworden, das Singen ist ganz, ganz stark eine protestantische Tradition, auch noch mehr als bei den Katholiken, im Judentum wird auch viel gesungen; und dass im Islam eben Singen zum Kultus überhaupt nicht dazu gehört. Aber dann gibt es die Sufis, die ja seit 11, 1200 immer so Randgruppen waren und zum Teil auch wirklich rausgeworfen wurden oder auch verfolgt wurden, und es gibt die Elahis, so was wie heilige Lieder oder religiöse Lieder eigentlich, da gibt’s ganz viele Texte und ganz schöne Melodien auch, die in der Moschee überhaupt nicht denkbar sind. M7: Sufi-Gesang Sie: Das Singen bei Festen und an Feiertagen allerdings haben alle Religionen und Kulturen gemeinsam. Denn Gesang bringt Menschen in einen gefühlvollen Einklang und hebt Ereignisse aus der Alltagsatmosphäre heraus. O-Ton 08: Dette (0'15") Ich bin aus einem Pfarrhaus und da wurde einfach Singen von klein auf gemacht, wir haben also, ich glaub fast, mit dem Sprechen auch singen gelernt und ich merke zum Beispiel: Weihnachten ist mir ziemlich – nicht wichtig, aber die Musik, die dazu gehört, Weihnachtsoratorium mitsingen zum Beispiel, das ist so richtig gut. M8: Weihnachtslieder-Collage Sie: Für Christen in aller Welt ist Weihnachten das Singefest. Allerdings wird hierzulande im Kreis der Familie längst nicht mehr so viel gesungen wie früher. Manche gehen dafür in die Kirche, oft das einzige Mal im Jahr. Nur wenige Familien haben noch einen gemeinsamen Liederschatz. Man hat zwar irgendwie die gängigen Weihnachtslieder im Ohr, aber die meisten kennen gerade mal noch die erste Strophe. Die meisten Bundesbürger lassen sich deshalb heute auch zu Weihnachten lieber beschallen. So gibt es praktisch keinen Künstler, der auf dieses Geschäft verzichtet, // bis hin zu den versoffenen irischen Punks "The Pogues". M9: Pogues Er: Hörbar kein liebliches Jingle Bells, sondern ein Text, der von einsamen Menschen an Heiligabend erzählt. Sie: Die Produkte der Musikindustrie zeigen – nicht nur zu Weihnachten – dass sich die grundsätzlichen kulturellen Unterschiede mehr und mehr verwischen. Früher war zum Beispiel geregelt, wer was singen durfte, sagt der Musikethnologe Christian Kaden. O-Ton 09: Kaden (0'30") Die Totenklage, und das ist etwas, was weltweit zu finden ist, dürfen nur Frauen singen, vermutlich hat es mit der oft beschworenen Leidensfähigkeit von Frauen zu tun, die etwas hässlich benannten Klageweiber, die das professionell machen, allerdings auch eine gewisse magische Rolle spielen können, in dem sie zum Beispiel die Gestalt des Toten klanglich umhüllen mit einer Art Klangzauber und dadurch vor Schadenseinwirkungen schützen. Sie: Singkulturen und Stimmideale sagen viel über eine Gesellschaft aus. O-Ton 10: Kaden (0'31") Wenn sie eine abgegrenzte Volkskultur haben, da gibt es bestimmte Nomen, was sängerisch zugelassen ist und was nicht. Und da sind zum Teil sogar Standards erwünscht, die unseren widersprächen, zum Beispiel dass man jaulend singen soll, wenn man bestimmte Emotionen hat, oder dass man, wenn man gemeinsam singt, nicht wirklich in der gleichen Zeit einsetzt, sondern der zweite immer mit einer kleinen Versetzung kommt, das entspricht nicht unseren Normen von Singen, ist dort aber ganz normal. M10: gregorianischer Choral O-Ton 11: Kaden (0'22") Andererseits gibt es, das wissen wir auch aus unserer abendländischen Musikgeschichte, das Bestreben mit der Einführung des gregorianischen Chorals, dass die Leute alle una voce singen, in einer Stimme. Also die Einheitlichkeit im Staatsverhalten, im Glauben, wird dann dadurch erzeugt, dass man auch noch unisono singt. Sie: Einigermaßen mit einer Stimme zu singen, das ist auch oberstes Gebot von Fangesängen im Fußballstadion, um die eigene Mannschaft zu unterstützen und der gegnerischen das Lied quasi um die Ohren zu hauen. Sie haben dann fast religiösen Charakter. Und manchmal sind sich die Fans der Herkunft nicht bewusst. M11: Abide with me) Er: "Abide with me", deutsch: "Bleib bei mir Herr", ist ein Kirchenlied aus dem 19. Jahrhundert, das auch bei Begräbnissen und königlichen Anlässen angestimmt wird – und das seit den 1960er Jahren alljährlich vor dem Anpfiff des englischen Cup-Finales im Wembley-Stadion erklingt. Spr.: Gemeinschaft und Verführung – Gesang als Machtinstrument O-Ton 12: Ahrens (0'06") Ich glaube, dass das zum sozialen Gefüge dazu gehört, sich aufeinander einzuschwingen, wozu auch immer! Sie: Durch gemeinsames Singen kommen Menschen miteinander in einen Gleichklang. O-Ton 13: Chorprobe (0’18) ein- und ausbl. Unter Sprin oben und Spr. unten Einsingen Er: Die Überein-Stimmung – wie in einem Chor – ist auch eine wichtige Voraussetzung, um gemeinsam zu handeln. Deshalb spielte Singen von je her eine große Rolle in der Arbeitswelt. Ernte-Lieder, Seemannslieder, Handwerker-Gesänge: das gemeinsame Singen koordiniert ganz praktisch die Bewegungen, zunächst durch den Rhythmus. Sie: Und es führt dazu, dass Menschen sich emotional synchronisieren. Der Berliner Rolf Ahrens ist seit 30 Jahren Chorleiter: O-Ton 14: Ahrens (0'17") Das Singen geht tiefer als unsere oberflächlichen Beziehungen. Es kann sein, dass da zwei Leute sich gut verstehen, aber beim Singen stellen sie fest, wie viel Dissens da eigentlich ist. Aber das gibt’s auch umgekehrt, ich kann mir durchaus vorstellen, dass Menschen, die sich sonst befeinden, im Singen plötzlich eine Art von Resonanz entwickeln. O-Ton 15: Chorprobe (0'20") Gesang – Klatschen, Abbruch "Können wir jetzt alle voll dabei sein? – Frauen vorweg - eins, zwei"- dann Zusammenklang der Stimmen – "Jawoll". Sie: Gemeinschaftliches Singen ist womöglich so alt wie die Menschheit, aber vom Chorgesang spricht man erst seit dem Mittelalter M12: Heinrich Schütz "Alpha und Beta" Sie: Dr. Astrid Reimers vom Institut für Musikethnologie in Köln: O-Ton 16: Reimers (0'27") Chorisches Singen: Ja, in Europa entstand das mit der Mehrstimmigkeit, 9., 11. Jahrhundert, und einen Höhepunkt chorischen Singens in Deutschland gab es dann in der Barockzeit, denken Sie mal an die heute noch viel gesungenen Werke von Heinrich Schütz oder Johann Sebastian Bach. Als ältester gemischter Chor der Welt gilt eigentlich die 1791 gegründete Singakademie zu Berlin, aber das bezieht sich natürlich nur auf eine bestimmte Form des Singens, nämlich innerhalb der bürgerlichen Musikkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Er: Zunächst stand Bildung, musikalische Bildung, im Mittelpunkt der Chöre, die sich nun immer zahlreicher zusammenfanden. Sie wurden bald ein wichtiger Part der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland. Es wurden dann nicht mehr nur Choräle, "heilige und ernste Musik" gesungen, sondern Lieder, oft romantische. M 13: Am Brunnen vor dem Tore Er: Diese neuen Volkslieder hatten allerdings mit dem Leben der einfachen Menschen wenig zu tun. Den Begriff Volkslied hat erst im 18. Jahrhundert Johann Gottfried Herder geprägt, als die Romantiker anfingen, Gedichte, Märchen und Lieder zusammenzutragen, die sie für Zeugnisse der angeblich unverfälschten Äußerung der Volksseele hielten. Am bekanntesten die Textsammlung "Des Knaben Wunderhorn" von Clemens Brentano und Achim von Arnim. Weil es um die heile vorindustrielle Welt ging, um Dorfidylle, um unberührte Natur, wollte man nichts Frivoles, keine Trinklieder. Sie: Und schon gar durfte Politik keine Rolle spielen. Aber das änderte sich bald. Dr. Lutz Kirchenwitz, Berliner Kulturwissenschaftler und Vorsitzender des Vereins "Lied und soziale Bewegungen" O-Ton 17: Kirchenwitz (0'19") Man hat das Lied genutzt, um politische Ziele zu artikulieren, Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, also das Lied hatte dann immer auch ganz unterschiedliche Funktionen, mal war es oppositionell gegen eine Herrschaft oder gegen Unterdrückung gerichtet oder mal aber war es auch auf die eigene politische Bewegung gerichtet. Sie: Lieder werden so etwas wie akustische Fahnen, um die man sich schart. Dafür entstehen im 19. Jahrhundert nun immer neue politische Gesänge, um die Obrigkeit zu verspotten oder den Kampfgeist für die Demokratiebewegung 1848 zu stärken. Es entstanden nun auch Arbeitersängervereine, später zusammengeschlossen im Deutschen Arbeiter-Sängerbund. Man wollte sich von den Bürgerlichen abgrenzen, und bald dienten die Chöre als Schutz und Organisationsform, nachdem mit den Sozialistengesetzen Bismarcks von 1878 die politische Betätigung verboten war. M14: "Brüder zur Sonne …" Er: Politische Gefangene in Russland müssen um die Jahrhundertwende einen Marsch in ein anderes Gefängnis antreten. Plötzlich stimmt einer an: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit". Ein Lied, entstanden in einer zaristischen Gefängniszelle. Es wird nun in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 zur Arbeiterhymne. 1918 gelangte sie nach Deutschland. Sie: Auch die Jugend zelebriert Singen als Gemeinschaftserlebnis. Um 1900 ging die Bewegung von Schülern und Studenten aus. Sie wanderten anfangs tatsächlich durch die deutschen Lande, wollten frei sein, ihre Heimatliebe zeigen. Und sie entwickelten dafür eigene Lieder. Die "Wandervogel-Bewegung" bestand aus verschiedenen Gruppen, darunter auch eine dezidierte „Jugendmusikbewegung“, deren Hauptvertreter der Komponist und Musikpädagoge Fritz Jöde war, wie die Musikwissenschaftlerin Astrid Reimers erzählt. O-Ton 18: Reimers (0'23") In der Jugendmusikbewegung stand ja das Singen ganz oben auf der Agenda. Also zum einen, weil man hoffte, dass das Volkslied wieder zu beleben wäre, zum anderen ging es auch um das Gemeinschaftserlebnis. Zwar hatte Jöde auch einen hohen künstlerischen Anspruch, doch wurde ihm klar, dass ja viele Menschen gerne singen. Auch die, die keine Zeit zum Üben hatten. Und so wurde die Idee zum offenen Singen geboren. Sie: Das erste offene Singen in Europa findet 1926 in Berlin statt, manchmal kommen dabei mehrere tausend Menschen zusammen. Im Berliner Tagblatt schreibt ein Reporter 1932: Er: "Alles sind schlichte Menschen in einfacher Straßenkleidung, denen die Freude am gemeinsamen Gesang aus den Augen leuchtet. Und wirklich, es ist eine ganz besondere Stimmung unter den Sängern: sie fühlen sich – und ich mit ihnen – wir fühlen uns alle innerlich verbunden, wie eine große Familie, die der gemeinsame Gesang zusammenführt." M15: Lustig Brüder Er: "Wo man singet, lass’ dich ruhig nieder … Bösewichter haben keine Lieder." … schreibt der Dichter Johann Gottfried Seume schon im 18. Jahrhundert Sie: Von wegen, sagt Singforscher Karl Adamek: O-Ton 19: Adamek (0'24") Die eine Gemeinschaft kann der anderen den Schädel einschlagen – und beide singen. Also ich kann Singen natürlich auch nutzen, um andere totzuschlagen, um Hass zu schüren, das ist in der Geschichte der Menschheit passiert, immer wieder, daran ist das Singen nicht schuld, sondern das Singen ist eine Energiequelle. Wozu ich diese Energie nutze, hängt vom Menschen ab, und ich kann sie genauso missbrauchen. Sie: Mehr oder weniger. Zum Beispiel wurde – und wird – gemeinschaftliches Singen auch für die Idee vom nationalen Einklang gepflegt. Vor allem Männerchöre taten dies. Sie nannten sich "Liedertafel" oder "Liederkranz" und hatten sich 1862 im Deutschen Sängerbund zusammengefunden. Er: "Sänger, Turner, Schützen sind des Reiches Stützen" – So lautete ein geflügeltes Wort im 19. Jahrhundert. Sie: Astrid Reimers vom Kölner Institut für Musikethnologie: O-Ton 20: Reimers (0'25") Bereits im 19. Jahrhundert wurden ja Chöre instrumentalisiert, es wurde nationalistisch, es wurde militaristisch gesungen, auch in den Arbeiterchören kam das vor, dass Arbeiterlieder mit ihrem Pathos Gefühle erregen sollten; diese Funktionalisierung des Singens die wurde dann natürlich im Nationalsozialismus auf die Spitze getrieben. Carola Stern hat mal einen sehr passenden Satz gesagt: "Der Nationalsozialismus war eine 'Singediktatur'." Sie: Es wurde tatsächlich dauernd gesungen bei den Nazis: Volkslieder aus dem 19. Jahrhundert, in denen schon die deutsche Nation und ihr Kampf um Unabhängigkeit verherrlicht worden war, heroische Soldatenlieder selbstverständlich, und auch die neue "Blut- und Boden"-Lyrik. O-Ton 21: Reimers (0'14") Perfider war noch, dass in den Liederbüchern der Hitlerjugend auch andere, unverdächtige Lieder enthalten waren. Zum Beispiel eben Lieder aus der Jugendbewegung. So wurden die Jugendlichen mit ihren eigenen Liedern in die HJ integriert, gleichgeschaltet. Sie: Doch die gemeinsamen Singerlebnisse in der Nazizeit blieben bei einem Teil der damals jungen und inzwischen alten Menschen bis heute wirksam, erzählt Astrid Reimers: O-Ton 22: Reimers (0'13") Vor einiger Zeit wurde ich beispielsweise von einer älteren Dame gefragt, ob wir im Institut nicht noch ein BDM-Liederbuch hätten, sie hätten in ihrer Jugend so schöne Lieder gesungen. Also das ist pure Emotion, da ist kein bisschen Verstand dabei. M16: Wildgänse rauschen … Er: … ursprünglich war "Wildgänse rauschen" ein Soldatenlied, entstanden im 1. Weltkrieg, mit Versen von Walter Flex, der der Wandervogelbewegung nahe stand. Die an Marschmusik erinnernde Melodie von Robert Götz kam dann der Hitlerjugend gerade recht. Auch nach dem Ende des II. Weltkriegs schmetterten Jugendverbände die "Wildgänse" bis hin zu den sozialistischen "Falken". Denn sie verstehen es als Antikriegslied. Er: Die Gruppe "Die Grenzgänger" spielt es im Rahmen ihres Projekts über "verschollene Lieder" aus der Zeit 1914 bis 1918. Zwar mit der Original-Melodie, aber in einer Vortragsweise, die eher geeignet ist, die Zuhörer nachdenklich zu machen. Sie: Gesungen wurde sogar in den Konzentrationslagern, oft als Schikane für die Gefangenen: Sie mussten in eisiger Kälte, hungernd und frierend, deutsche Volkslieder singen. Oder beim Marsch der Arbeitskolonne. Wer zu leise sang oder zu laut, bekam Prügel. Zu den Feiern der SS-Schergen holte man sich begabte Solisten, die das "Ave Maria" vortragen mussten. Es gab andererseits "in den dunklen Jahren" auch Widerstandslieder. M17: Moorsoldaten Er: "Die Moorsoldaten" entstanden 1933 im KZ Börgermoor im Emsland. Weil dort vor allem politische Gefangene saßen, gilt das Lied heute als ein Dokument des antifaschistischen Widerstands, international bekanntgeworden in der Fassung von Hanns Eisler, geschrieben in dessen Exil in London. Sie: Ein möglicher Ausdruck des Widerstands waren auch Verballhornungen von Naziliedern. Er: 1943 zum Beispiel dichtete und sang Bertolt Brecht im Exil das Horst-Wessel-Lied, aber statt "Die Fahnen hoch" heißt es im Refrain: "Der Metzger ruft". Sie: Natürlich hörten die Menschen nie auf zu singen. Und auf die einigende Kraft des Gesangs, die "Erziehung der Gefühle" verzichtet eigentlich kein Staat, keine politische Ideologie. Das galt in Deutschland nach 1945 im Westen wie im Osten: M18: "Bau auf" Er: "Im Massensingen kommen die eigentlichen Gefühle eines einheitlichen Willens, die Gefühle eines Kampfes oder einer Überzeugung am ursprünglichsten zum Ausdruck", sagte 1954 der DDR-Musikpädagoge Siegfried Bimberg. Sie: Das Gemeinschaftserlebnis passte gut zu der ideologischen Idee der "vorwärts drängenden Jugend". In der Schule werden traditionelle Arbeiterlieder gesungen. Und es kommen neue Lieder mit propagandistischen Texten hinzu. Allerdings sangen in der DDR nicht wirklich die Massen, so die Kölner Musikwissenschaftlerin Astrid Reimers. O-Ton 23: Reimers (0'28") Interessanterweise war in der DDR beim Chorsingen ein künstlerischer musikalischer Anspruch sehr wichtig. Das verhinderte eigentlich eine größere Ausbreitung von offenem Singen. Obwohl ja das offene Singen ganz gut geeignet gewesen, die Ideologie auch der DDR in den Köpfen und in den Herzen zu verankern. Wenn es also ein Massensingen gab, so waren das eigentlich nur mehrere Chöre, die zu einem Chorkörper zusammengefasst wurden. Das Publikum hörte zu im Wesentlichen, sang aber kaum mit. Sie: Im Westen gab es zunächst auch kein Innehalten beim Gemeinschaftssingen. O-Ton 24: Reimers (0'33") Also nach 45 knüpfte ja die Musikpädagogik an die Jugendmusikbewegung der 20er Jahre an. Und das eben, ohne für ihr Versagen im Nationalsozialismus Verantwortung zu übernehmen. Also Chorleiter führten wie eh und je offenes Singen durch. Mit dem Unterschied vielleicht, dass jetzt auch Lieder anderer Völker berücksichtigt wurde. Es war also ein beharrliches nicht Wahrhabenwollen, dass man durch das Singen selbst auch zur Verbreitung des Nationalsozialismus beigetragen hatte. Man ging also klampfend zur Tagesordnung über, und das führte dann in Westdeutschland Adorno zu seiner Kritik an der musischen Bildung. Er: "Nirgends steht geschrieben, dass Singen not sei." Sie: … hatte der Philosoph Theodor W. Adorno in seinem Essay "Kritik des Musikanten" von 1956 geschrieben. Und: Er: "Nichts gegen Etüden, alles gegen Chorlieder, welche die krampfhafte Unbefangenheit des Singens zur Weltanschauung aufplustern." Sie: Professor Günther Noll, Musikpädagoge und ehemaliger Direktor des Kölner Instituts für Musikethnologie, hat erlebt, wie Adornos "Schweigegebot" schließlich doch gewirkt hat – in der Schule, in der neuen Lehrergeneration: O-Ton 25: Noll (0'49") Die Diskussion hat ja in der Musikpädagogik damals eine Art Angstzustand hervorgerufen, und es wurde dann eine Kampagne, das muss man so wohl heute schon sagen, von den 60er bis 70er Jahren durchgeführt gegen das Singen. Und es ging sogar soweit, dass in einem Lehrplanentwurf der Begriff Singen durch "vokale Aktion" ersetzt wurde; dass es dann Schulbücher gab für die Grundschulen, in denen überhaupt keine Lieder mehr, also das traditionelle Liedgut, das Kinder gesungen haben, vorhanden waren, sondern die aktuellen Hits aus den entsprechenden Kindersendungen, und wenn das Singen nicht gefördert wird, in der Schule, wenn das Singen nicht mehr Gegenstand von Musiklehrerausbildung ist, dann versiegen die Traditionen. Sie: Aber Adorno hatte in seinem Essay auch gesagt: Er: "Zu fragen ist, was gesungen wird, wie und in welchem Ambiente." M19: Wader, "Trotz alledem" Sie: Und so beginnt in den 60er Jahren eine Liedermacherbewegung mit Hannes Wader oder Franz Josef Degenhardt. Sie wollten singend ihren Widerstand gegen die Verhältnisse demonstrieren. Der Kulturwissenschaftler Lutz Kirchenwitz betont deren Internationalität. O-Ton 26: Kirchenwitz (0'34") Diese neue Protest- und Kulturbewegung, die ist natürlich ganz stark von den USA ausgegangen. Bei dem free speach movement, bei den Studenten in Berkeley, bei der Bürgerrechtsbewegung, da kamen linke und demokratische Bewegungen ins Rollen, und da wurde Musik plötzlich auch wieder in einem stärkeren Umfang genutzt, also bei der ganz großen Demonstration mit Martin Luther King, da waren eben auch Bob Dylan und Peter, Paul and Mary, und man sang „We shall overcome“ und so weiter, diese ganze Bewegung hat natürlich unheimlich weltweit ausgestrahlt, politisch, aber auch musikkulturell. Sie: Ausgangspunkt der Liedermacherbewegung in Deutschland war das erste Folk- und Chanson-Festival 1964 auf Burg Waldeck im Hunsrück. Sie war schon seit den 20er Jahren Hort einer Jugend-Singbewegung und wurde nun Sammelpunkt politisch fortschrittlicher Sänger. So wie die Brüder Hein & Oss Kröher. Sie erzählen in einem Interview, was sie mit dem Festival erreichen wollten: O-Ton 27: Hein&Oss (? 0'56", davon 0'30" Text) … dass es in Europa in Deutschland Leute gibt, die Lieder machen können, die mehr wert sind als dieses ungesagte, unnötige Blabla der Schlagerbranche. All die Schnulzen der Adenauer-Zeit, die uns ja zum Halse heraus gehangen haben. Und dann stellten sich all die Sangesschwestern und Sangesbrüder ein, die in diesem Land was zu sagen hatten, und die wichtigste Begegnung war die mit Franz Josef Degenhardt, der in einem Morgengrauen über die Wiese gelaufen kam, setzte sich zum Oss, und dann sang er "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern". Oss, nimm mal die Gitarre, dann singen wir's mal. M20: Schmuddelkinder (0'21") Sie: Es wird die Liedtradition vor allem der linken bündischen Jugend gepflegt und es werden andere, etwa Arbeiter- und internationale Kampflieder vorgetragen. Das Waldeck-Festival geht 1969 schließlich unter im Streit singen oder reden: mit Gesang politisch sein oder politisch diskutieren. Degenhardt später im Interview dazu: O-Ton 28: Degenhardt (0'05") Solche Veranstaltungen haben einen Anfang und ein Ende. Irgendwann, weiß man, geht das nicht weiter, dann ist das ausgereizt. Sie: Fast gleichzeitig in der DDR: Auch hier hatten Einige ein wenig Lust am singenden Widerstand. Am 9. September 1966 schreibt die ZEIT: Er: "In der DDR entwickelt sich eine Song-Welle. Durch das französische Chanson animiert, hatte eine kleine Gruppe von Berliner Jugendlichen angefangen, selbstgeschriebene Texte zu vertonen und vorzutragen. Künstlerisch hervorragend unter den Gründern der Chanson-Welle ist die achtzehnjährige Bettina Wegener." Sie: Es entsteht sogar eine nichtstaatliche Singbewegung, mehr und mehr beeinflusst schließlich durch die amerikanische Folkbewegung. Er: Doch mit dieser Amerikanisierung war bald Schluss. Der Ost-Berliner Liedermacher-Treff wurde in "Oktoberclub" umbenannt, die ganze Aufbruchstimmung als FDJ-Bewegung vereinnahmt. Sie: Im Westen scheint, als die organisierte Liedermacherbewegung zu Ende geht, die deutsche Singkultur endgültig dem Untergang geweiht. Durch den sozialen Wandel gibt es ohnehin immer weniger Gelegenheiten zum gemeinsamen Singen. Den regelmäßigen Kirchgang mit Gemeindegesang pflegen fast nur die Älteren, und es gibt kaum noch große Familien, in denen gesungen wird. Und vor allem fehlen die vertrauten, gemeinsamen Lieder. Sie gelten entweder als Symbol deutscher Spießigkeit oder wecken ungute Erinnerungen an die Vergangenheit. Christian Höppner, Professor an der Universität der Künste Berlin, ist unter anderem Geschäftsführer des Deutschen Musikrats: O-Ton 29: Höppner (0'33") Was man als Adornosche Wirkung bezeichnen kann, ist für mich sehr nachvollziehbar, ich bin aber auch sehr froh, dass sich jetzt Entkrampfungstendenzen zeigen, und dass man die politische Nachbearbeitung, die gesellschaftliche Nachbearbeitung und das Wachhalten der Vergangenheit, aber nicht mit dieser Verklammerung macht: 'Ein Volk, das so was gemacht hat, darf nicht mehr singen'. Ich glaube, dass es immer wieder Wellenbewegung geben wird, und dass wir im Moment auf einem ganz guten Wege sind, uns Vergangenes, vielleicht auch verloren Geglaubtes wieder neu zu erschließen. O-Ton 30: Collage (0'52") Musik+Kreischen Herzlichen Glückwunsch: der erste Schritt auf dem harten Weg zum Superstar. Gesang: Adele: Hello Höpker: Wir haben so viele Lieder, die wir in unserer Biographie mit uns tragen, und die bringe ich jetzt mal zusammen und da mach ich jetzt mal eine Veranstaltung draus. Gesang: Nur nicht aus Liebe weinen. Spr.: Kunst, Kommerz und Karaoke – Singen als Alttagskultur Sie: So etwa um die Jahrtausendwende zeigt sich plötzlich eine Renaissance des Singens in der Bundesrepublik – in allen Arten und Variationen: Der Chorgesang hat in Deutschland ja eine lange Tradition, aber inzwischen erlebt er einen wirklichen Boom. O-Ton 31: Rauterberg (0'05") Es geht darum, gemeinsam Spaß am Singen zu haben und zusammen etwas zu erleben. Sie: Es gibt hierzulande über zwei Millionen Sängerinnen und Sängern in etwa 60.000 Chören – weltberühmte und ganz kleine private, klassische Kirchen- und Gospel-Chöre, Kneipen- oder Knabenchöre, solche nur für Männer-, Frauen- oder Kinderstimmen, welche, die nur bestimmte Musikarten singen wie Klassik, Pop, Shanty oder Volkslieder. Dazu auch wieder Arbeiterchöre oder solche, die insgesamt ein politisches Repertoire pflegen, wie es der Hanns Eisler-Chor in Berlin tut. O-Ton 32: Chorprobe Eisler (0'07") O-Ton 33: Hoffmann-Möller (0'08") Das Zusammen-, also Aufeinanderhören, das Miteinander etwas gestalten, kreativ zu sein, das ist einfach eine wunderbare Sache und nebenbei hat’s ja auch noch diesen sozialen Aspekt. Sie: ... sagt Christina Hoffmann-Möller, die den Chor zusammen mit Susanne Juedes und ein paar Musikstudenten vor über 40 Jahren gegründet hat. O-Ton 34: Hoffmann/Juedes (0'14") CH: Das ist ein ganz großes Netzwerk, untereinander in diversen Zusammenhängen, man findet sich auf Konzerten, man findet sich beim Sport, man findet sich beim Spielen und Tanzen – nicht immer alle, aber viele. SJ: Man vermittelt Jobs, Wohnungen, Zimmer, man unterstützt Studenten, also das ist schon schön. Sie: Der Hanns-Eisler-Chor soll aber nicht ausschließlich lockerer Freizeitspaß sein. O-Ton 35: Hoffmann-Möller (0'17") Wir sind ein Laienchor, dennoch wollen wir weiter oder wie bisher eben auf relativ hohem Niveau arbeiten, und dazu braucht es einfach kontinuierliche und gute Probenarbeit, ja, also wo wir auch ein bisschen den Daumen drauf halten, wenn jemand viele Proben versäumt, da kann er halt nicht mitsingen beziehungsweise muss sie dann eben nachholen. Sie: Der Leistungsanspruch vieler Chöre und ihre Lust am Auftritt wirft eine Frage auf, die in der allgemeinen Euphorie über die Renaissance des Singen manchmal vergessen wird: Kann wirklich jeder Mensch singen, wie so oft behauptet wird? Hat der Musiksoziologe Professor Christian Kaden Recht? O-Ton 36: Kaden (0'06") Ich bin der Meinung, man kann aus jedem Menschen etwas rausholen, man muss nur schauen, was ist seins. M21: Foster Jenkins Er: Man traut seinen Ohren kaum: Es ist die tragikomische Geschichte der Florence Foster Jenkins, geboren 1868 in Pennsylvania, gestorben 1944 in New York: Sie spielte schon als Kind wohl sehr gut Klavier, wollte aber Sängerin werden, was ihr Vater jedoch verbot. Erst nach seinem Tod machte sie mit ihrem großen Erbe ihren Traum wahr, nahm Gesangsunterricht und begann kleine Konzerte zu geben. Die Meinungen waren geteilt: Sie fand sich toll, der Rest der Welt fand sie fürchterlich. Foster-Jenkins suchte sich auch die schwierigsten Arien aus wie die "Königin der Nacht" aus Mozarts Zauberflöte. Obwohl oder vermutlich weil sie so unsagbar schlecht sang, verlangte ein immer größeres Publikum überall in den USA nach ihren Auftritten. Am 25. Oktober 1944, mit inzwischen 76 Jahren, sang sie letztmalig in der New Yorker Carnegie Hall vor ausverkauftem Haus. Auf ihrem Grabstein steht übrigens: "Die Leute können vielleicht behaupten, dass ich nicht singen kann, aber niemand kann behaupten, dass ich nicht gesungen hätte." Sie: Was die Sangesqualität betrifft, war es anfangs bei den Casting-Shows kaum besser. Die erste hierzulande, "Deutschland sucht den Superstar", war 2002 von RTL aus England übernommen worden. Den Kandidaten fehlt offenbar genau das, was man durch Singen schon in frühester Kindheit entwickeln könnte: nämlich die Selbstwahrnehmung: "Wer bin ich, und was lasse ich mit mir machen?" Und das Gefühl für die eigene Stimme. Aber bei vielen der Shows geht es ja gar nicht in erster Linie um das Singen. Eher um den "Aschenputtel-Traum". M22: Potts Er: Es war bei der Casting-Show "Britain's Got Talent". Im Juni 2007 tritt ein etwas dicklicher, kleiner Mittdreißiger mit schlechten Zähnen und billigem Anzug auf die Bühne. Die Jury verdreht zunächst etwas die Augen, als er die Arie "Nessun dorma" aus der Puccini-Oper "Turandot" ankündigt. Doch dann beginnt er zu singen und die jugendlichen Zuschauer kreischen wie bei Popkonzerten, viele wischen sich die Tränen aus dem Gesicht. "Vincero – Ich werde siegen" heißt es in der Tenorarie, und wirklich: Paul Potts hat es geschafft, vom Handyverkäufer aus Bristol zum Weltstar – und Millionär. Sie: Professionelle Musiker schätzen seine Qualität als Tenor eher niedrig ein – aber darum geht es in dieser Geschichte nicht. Es geht um Hoffnung, vielleicht auch um das natürliche menschliche Bedürfnis nach "Selbstpräsentation", Selbstausdruck, wozu die Meisten in unserer Gesellschaft einfach zu wenig Gelegenheit haben. Er: So bleibt die Frage: Soll wirklich nur Singen "wem Gesang gegeben", wie es beim Dichter Ludwig Uhland heißt? Sie: Der Soziologe und Singforscher Karl Adamek sieht das kritisch, besonders wenn es um die Talentsuche von Chören geht. O-Ton 37: Adamek (0'38") Es ist durchaus ein gutes und berechtigtes Anliegen der Chöre, die Kinder zu finden, die gut und gerne singen. Dass alle Kinder dann in so einem Sinne singen sollen, das ist manchmal falsch, weil es die Freude für die anderen nimmt; wenn alle auf die Leistung bezogen werden, dann wird die Mehrzahl der Kinder frustriert in Bezug auf das Singen und verliert das Singen als Freude im Alltag, und das ist ein großer gesellschaftlicher Verlust durch einen kleinen künstlerischen Gewinn. Er: "Das Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen: denn sie ist die natürlichste und einfachste Weise, in der wir ungeteilt da sind und uns ganz mitteilen können, mit all unseren Erfahrungen, Empfindungen und Hoffnungen." Sie: Das war die Überzeugung des Dirigenten und Geigenvirtuosen Yehudi Menuhin. Deshalb übernahm er auch die Schirmherrschaft über das internationale Sing-Netzwerk "Il Canto del mondo". Karl Adamek hat es 1999 gegründet: O-Ton 38: Adamek (0'24") Die zentrale Idee von Il Canto del mondo ist, dass das Singen wieder im Alltag in unseren modernen Gesellschaften von unten her Verbreitung findet. Also das Singen als Alltagsgeschehen. Weil: Menschen, die singen, können ihre Potentiale auf allen Ebenen besser entfalten. Sie: Bei "Canto del Mondo" geht es nicht um die deutsche Lied- und Singkultur, es geht – unter anderem – um Singen als Selbstausdruck. Adamek nennt es auch das "lauschende Singen", das heißt nicht, anderen beim Singen zuhören, sondern … O-Ton 39: Adamek (0'33") Der Mensch lauscht da auf seine eigene Stimme, lauscht auf die Vibrationen, die in seinem Körper entstehen durch das Singen, also gar nicht mit dem Aspekt "Sehe ich jetzt toll aus? Klinge ich toll für andere?", sondern fühlt es sich toll an, und erstaunlich ist: viele, die meinen, überhaupt nicht singen zu können, sagen, "das ist ja doll, was ich da für mich entdecke", und werden ganz begeisterte Sänger, ohne dass sie jetzt auf die große Bühne wollen. Sie nutzen das für sich selbst als Lebenselixier im Alltag. Sie: Adamek hat in den 1990er Jahren mit seiner psychologisch- soziologischen Forschungsarbeit zu den vielfältigen Wirkungen des Gesangs den Auftakt zur Singforschung gegeben. Inzwischen ist auch naturwissenschaftlich längst bestätigt, dass Singen gesund ist. Es werden Endorphin und Dopamin im Gehirn ausgeschüttet, körpereigene Hormone also, die Glücks- und Lustgefühle auslösen ähnlich wie Essen oder Sex. Außerdem produzieren Menschen, die gemeinsam singen, geringere Mengen des Stresshormons Cortisol. Singen entspannt, bringt Emotionen ins Gleichgewicht, macht auch sozial kompetenter und löst Ängste. O-Ton 40: Adamek (0'26") Wenn wir in Angst sind, wir sind tendenziell mental, motorisch und vegetativ gelähmt. Nicht vollständig, aber wir sind wie in einer Zwangsjacke. Wenn wir singen, werden die biologischen Marker der Angst aufgelöst. Das Zwerchfell geht ganz langsam runter und wir atmen tiefer, und wenn man 20 Minuten absichtslos, ohne Leistungsanspruch singt, dann schwindet die Angst. Er: "Singend können wir uns darin verfeinern, unsere Mitmenschen und unsere Mitwelt zu erhören." – Auch das hat Menuhin gesagt. O-Ton 41: Adamek 05 (0'35") Es ist sehr wertvoll, wenn Säuglinge, Kleinstkinder das Singen der Eltern erleben, wenn für diese Kinder gesungen wird, weil sie damit eine gefühlsmäßige Bindung aufbauen, und Kinder, die das erleben, lernen schon sehr früh, auf Stimme zu achten, damit Gefühle zu decodieren und sind auf dieser Ebene kompetenter, und sie singen dann eher selbst, und Kinder, die singen, entwickeln sich auf allen Ebenen besser als Kinder, die nicht singen. Sie: Musikkonserven, die dem Kind vorgespielt werden, können das übrigens nicht bewirken. Man muss schon selbst singen. Deshalb hat Adamek das Programm "Canto elementar" ins Leben gerufen. Seniorinnen und Senioren besuchen als "Singpaten" Kindergärten und "trainieren" regelmäßig mit den Kleinen. M23: "Die Gedanken sind frei" O-Ton 42: Adamek (0'34") Wir haben vor allem soziale Brennpunkt-Kindergärten – die Kinder müssen vor allem deutsch lernen. Und das sind Kinder auch aus bildungsschwachen Familien, und die Sprachkompetenz wird durch Singen ungeheuer gefördert. Besser als durch fast alle Sprachprogramme, die wir haben. Und da bitten sogar Mütter und Väter, ob sie nicht mal dazu kommen können, weil sie auch gerne besser deutsch lernen, weil sie merken, dass ihre Kinder diese Lieder zuhause singen, und das machen sie mit keinem anderen deutschen Text. Sie: "Canto elementar" erhielt dafür 2012 den Deutschen Nationalpreis und wurde als "Bildungsidee für Deutschland" ausgezeichnet. Die Zahl der Kitas, die sich an dem Programm beteiligen, wächst ständig: Es sind derzeit 1.700 Singpatinnen und -paten und geschätzt 17.000 Kinder. M24: Hajda Sie: Singen kann auch die Integration fördern. In Chören und Bands finden sich immer wieder Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, sozialen Schichten oder Altergruppen zusammen. Cornelia Dette etwa, Theologin und Kirchenmusikerin, hat mit ihrem "Interreligiösen Singen" in Berlin ein Beispiel geschaffen. O-Ton 43: Dette (0'38") Wir singen Lieder, die aus den verschiedenen Religionen kommen, und jetzt sind im Moment bei uns Bahai dabei, Juden manchmal, Christen, Muslime vor allem, und der Ansatz ist der, dass wir Dinge aussuchen, die alle gut mitsingen können, also wo es nicht um irgendwelche Ausgrenzungen oder dogmatische Inhalte geht, die für die anderen nicht tragbar sind, wo man auch kein Buch vor die Nase halten muss, um Text zu lesen. Es gibt in Kirchen oft so was, ich spiel ja manchmal auch Gottesdienste, dass dann so ein neues, oder ein Lied, das wenige kennen, im Programm steht, und dann ist das so ein mühsames der Orgel hinterher singen, da denk ich, nee so ist das nicht gemeint! Wenn das dann anstrengend wird und eine Aufgabe, dann hat es nicht mehr diese Wirkung, die es eigentlich haben kann. Er: "Die Wälder wären still, wenn dort nur die Vögel singen würden, die es am besten können." – schrieb der US-Schriftsteller und Geistliche Henry van Dyke Ende des 19. Jahrhunderts. O-Ton 44: Höpker (0'16") Ich weiß nicht, was der eine oder andere dabei empfindet, vielleicht denkt er: "große Güte". Lassen Sie sich drauf ein. Es macht Spaß, los geht's. Sie: Seit 2008 heißt es in Köln und umliegenden Städten regelmäßig: "Frau Höpker bittet zum Gesang". Die Musikerin und Sängerin lädt ein zum "offenen Singen". Solche Mitmach-Konzerte würden sozialwissen-schaftlich wohl als niedrigschwelliges Angebot bezeichnet. Die Kölner Musikwissenschaftlerin Astrid Reimers: O-Ton 45: Reimers (0'22") Gerade in Zeiten, wo Arbeitsbelastungen immer größer werden, bietet das offene Singen eigentlich eine gute Gelegenheit, einfach mal los zu singen, zusammen zu singen, das Gemeinschaftsgefühl auch zu empfinden, im Unterschied zu einem Chor ist keine regelmäßige Anwesenheit bei den Proben vonnöten. Auch werden ja keine sängerischen oder musikalischen Vorkenntnisse verlangt, einfach kommen und zusammen singen, das ist es. Sie: Jan Krauthäuser hatte 2008 in der Kölner Kultkneipe "Weißer Holunder" die Bewegung "offenes Singen" begründet. Er wollte damit unter anderem an die Ehrenfelder Edelweißpiraten erinnern, eine bündische Jugendbewegung, die gegen die Nazis standen. Jeden Sonntag mit einem anderen Programm: Protestsongs oder internationale Musik, etwa jiddische Gesänge, irische Balladen, brasilianische oder russische Folklore. Und selbstverständlich Kölsche Lieder. O-Ton 46: Reimers (0'12") In Köln ist diese Veranstaltungsform auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Hier wurde ja schon immer während des Karnevals in allen Kneipen kräftig mitgesungen, hier gab es auch früher schon Mitsing-Veranstaltungen für Lieder im kölschen Dialekt. O-Ton 47: Höpker Gesang, "Liebe das Leben" (? 0'29") Sie: Katrin Höpker hat in Köln ganz klein angefangen, jetzt füllt sie größere Säle, die Veranstaltungen sind lange vorher ausgebucht. Sie will weniger das Liedgut retten, als vielmehr vor allem Menschen ihre Musikerinnerungen zurückbringen – und den Spaß am Singen. O-Ton 48: Teilnehmer (0'11") Es ist einfach unbeschreiblich, nach einem harten Arbeitstag kann man so richtig abschalten und fühlt sich manchmal in seine Kindheit, Jugend versetzt, und das ist wirklich was für's Herz. Sie: Sie spielt live auf ihrem E-Piano und verteilt Liedtexte oder beamt sie an die Wand. O-Ton 49: Teilnehmerin (0'05") Bei jedem Lied rufen alle "Ah!" und "Super", und das macht einfach Spaß. Sie: Solche freien Gesangsveranstaltungen gibt es auch anderswo im Land, zum Beispiel "Wirtshaus- oder Kneipensingen" in Franken und Berlin oder Rudelsingen bei David Rauterberg in Münster. M 25: Rudelsingen "An Tagen wie diesen" Sie: 2011 lud Rauterberg erstmals Menschen zum offenen Singen ein.. O-Ton 50: Rauterberg (0'07") Die Leute hatten einen Riesenspaß, es waren knapp 100 Menschen da, und von da an ging es immer weiter und war eine große Welle. Sie: Der gelernte Musiker und Sänger hat sich das Konzept von den Kölnern abgeschaut. Inzwischen lockt Rauterberg regelmäßig mehrere hundert Leute zum "Rudelsingen" in die Hallen, nicht nur in seiner Wahlheimat Münster, sondern auch in 50 anderen deutschen Städten. Drei- bis viermal die Woche ist er selbst der Veranstalter, aber es gibt auch andere Städte-Teams. O-Ton 51: Rauterberg (0'18") Wenn wir in einer Stadt neu anfangen, dann ist es in der Regel so: Es kommen zuerst die Frauen ab 40. Die haben so viel Spaß, dass sie es weiter erzählen, dann an ihre Freundinnen, Freunde, Männer, und inzwischen haben wir eine Altersbandbreite von 18 bis weit über 80, weil wir eben ein sehr buntes Programm singen. Sie: David Rauterberg spielt Gitarre und singt vor, am Flügel begleitet ihn oft der Pianist Matthias Schneider. Die Liedtexte kann jeder von der großen Leinwand absingen. Karaoke für alle. O-Ton 52: Frau (0'16") Selbst die Leute, die vorher skeptisch waren und gesagt haben "Oh Karaoke ist gar nichts für mich oder ich muss ganz viel trinken, bevor ich da den ersten Ton raus bringe", haben dann mitgesungen, und na ja, je größer die Gruppe, desto schneller artet das dann mehr so in Grölen aus, aber das macht eigentlich gar nichts, weil das lustig ist. Sie: Zweieinhalb Stunden Klangnostalgie und Streicheleinheiten für die Seele: mit Abba-Liedern, mit Udo Jürgens, den "Toten Hosen" oder Songs aus dem Musical "Hair". O-Ton 53: Rauterberg (0'06") Man hat so dieses besondere Gefühl dieses Erleben des gemeinsamen Singens, das ist das, was die Menschen inspiriert und was ihnen fehlt. M26: "Let the Sunshine" Sie: Als offenes Singen könnte man auch die Fangesänge im Fußballstadion begreifen. Obwohl sie es nach der strengen Definition nicht sind, weil hier eine andere, eine außermusikalische Tätigkeit im Vordergrund steht. Eigentlich geht es ja vor allem um die Unterstützung der eigenen und die Verhöhnung der gegnerischen Mannschaft. Aber es gibt Ausnahmen: auch im Stadion kann Singen Menschen in einen friedlich-fröhlichen Einklang bringen. Er: Zum Beispiel beim "Weihnachtssingen" des Fußballvereins Union Berlin. Im Stadion versammeln sich dort an jedem 23. Dezember mittlerweile bis zu 30.000 Menschen. M27: Weihnachtssingen Union Er: Angefangen hatte es 2003 mit "89 Verrückten", wie es auf der Internetseite von Union heißt, die sich "halblegal mit Glühwein und Gebäck auf Höhe der Mittellinie" zum festlichen Gesang getroffen hatten. Inzwischen ist daraus eine richtige Institution geworden: Der Gemeinde-Pfarrer liest die Weihnachtsgeschichte, ein Schul-Chor und eine kleine Bläsergruppe geben Tonart und Takt vor, dazu gibt’s für jeden das Liederbuch und eine Kerze. Und dann singen alle unisono – mehr oder weniger. M28: Gefangenenchor instrumental Spr: Die eigentliche Muttersprache des Menschen O-Ton 54: Mann (0'02") Ich habe durch das Singen zu mir selbst gefunden. O-Ton 55: Frau (0'03") Singen war immer ganz, ganz zentrale Lebensäußerung auch für mich. O-Ton 56: Adamek (0'05") Beim Singen kommen die tiefsten Gefühle des Menschen im Klang zum Ausdruck. … Er: "Singen gehört fraglos zur Natur des Menschen, so dass es gleichsam keine menschliche Kultur gibt, in der nicht gesungen würde." – Yehudi Menuhin M 29: Rauterberg Gefangenenchor Sie: Beim offenen Singen werden nicht nur Pop, Schlager oder Volkslieder geschmettert, sondern sogar Klassik gesungen: Zum 500. "Rudelsingen" im September in Münster stimmte David Rauterberg den Gefangenenchor aus Verdis Oper "Nabucco" an. Knapp 1.000 Besucher sangen mit. Er: Flieg, Gedanke, getragen von Sehnsucht, lass' dich nieder in jenen Gefilden, // wo in Freiheit wir glücklich einst lebten, wo die Heimat uns'rer Seele ist.