DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 02.09.2014 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 - 20.00 Uhr Der Stör-Fall Vom drohenden Tod eines Ur-Fisches Von Andrea Rehmsmeier URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - MUSIK ATMO WASSERRAUSCHEN UND WILDERER QUATSCHEN BEIM LAGERFEUER Erzählerin: Auf dem Wasser glitzert die Nachmittagssonne. Der Mann am Ufer kneift die Augen zusammen, sein Blick sucht die Stelle, wo der Fluss am tiefsten ist. Er träumt von einem Fang, der für ihn wie ein Lottogewinn wäre. Er träumt von einem "Roten Fisch" - wie viele andere Einheimische auch, hier im verarmten Süden Russlands, wo die Wolga ins Kaspische Meer mündet. O-TON WILDERER Übersetzer: Genau hier, in der Strömung, schwimmen der Beluga und der Sevruga, in der Mitte des Flusses. Dort gründeln sie mit ihren Barteln nach Nahrung. Man fängt sie mit Haken, die auf dem Grund des Flusses liegen. Diese Haken werden mit etwa 20 Zentimeter Abstand an einer Leine befestigt - es müssen mindestens 150 sein. An ihrem Ende sind sie angespitzt wie Nadeln. Sie bohren sich dem Stör in den Kopf, in den Bauch oder in die Flossen. Sprecher: Laut Washingtoner Artenschutzabkommen steht der Stör kurz vor dem Aussterben, der kommerzielle Fang ist im Kaspischen Meer verboten. Zwischen Wilderern und Artenschützern tobt der Kampf um die allerletzten Vertreter ihrer Art. Denn der seltene Fisch mit der rötlichen Schuppen-Haut produziert eine Delikatesse, die mit einem Warenwert von bis zu 6.500 Euro pro Kilo als das teuerste Lebensmittel der Welt gilt: schwarzer Kaviar. Die "Perlen der Lust" finden ihre betuchten Kunden in der Moskauer High Society ebenso wie in der Nobelgastronomie der Europäischen Union, in den USA und den Arabischen Emiraten. Hinter dem blutigen Handwerk der Wilderer steht ein Millionenmarkt, der umso mehr Gewinn abwirft, je weniger lebende Tiere gezählt werden. Das macht den Handel mit bedrohten Arten zu einer Geld-Druck-Maschine, die erst mit deren endgültiger Ausrottung zum Stillstand kommt. O-TON WILDERER Übersetzer: Manchmal lebt der Fisch noch, wenn du ihn herausziehst. Dann musst du ihm mit dem Vorschlaghammer einen über den Schädel ziehen. Ein Beluga kann zwei oder drei Meter lang werden - und wenn so ein Biest erst einmal um sich schlägt, dann geht das: Schwupp, und die Hakenleine hat sich in dir selbst verhakt. Wenn du dann vor Schmerz oder vor Schreck nicht schnell genug reagierst, und dich mit dem Messer los schneidest, dann gehst du über Bord - und der Fisch zieht dich an den Grund des Flusses. Das ist kein Spaß: Viele, viele sind schon auf diese Weise umgekommen. Später hat man sie dann gefunden, mit all den Haken. Musikakzent Ansage Der Stör-Fall Vom drohenden Tod eines Ur-Fisches Ein Feature von Andrea Rehmsmeier ATMO VIENNA INTERNATIONAL CENTER Erzählerin: Das Vienna International Centre liegt auf einer Donau-Insel im Nordosten von Wien. "UNO-City", so nennt der Volksmund die abgeschottete Diplomatenwelt, in der auch das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) seinen Sitz hat. Der Kampf gegen Drogen- und Waffenhandel, gegen Menschenschmuggel und Geldwäsche gehört zu den klassischen Aufgaben von Direktor Jurij Fedótov. Seit einigen Jahren aber blickt der gebürtige Russe mit Beunruhigung auf eine neue Boom-Branche der Bandenkriminalität: den illegalen Handel mit bedrohten Tier- und Pflanzenarten. O-TON JURIJ FEDOTOV Übersetzer: Wir reden von einer umsatzstarken Branche des transnationalen, organisierten Verbrechens. Nach unseren Zahlen macht der illegale Handel mit bedrohten Arten allein in den Ländern Südostasiens einen Markt von jährlich bis zu 20 Milliarden Dollar aus. Er wird getragen von Korruption, denn die Ware muss ja über Grenzen transportiert werden. Er geht mit Gewaltverbrechen einher, und er kann zum Tode von Menschen führen. Es gibt auch Hinweise darauf, dass kriminelle Banden für das Wildern und Schmuggeln die gleichen Netzwerke nutzen, wie für den Drogen-, Waffen- und Menschenhandel. Es gibt sogar Verbindungen zum Terrorismus. Sprecher: Ob Elefanten-Elfenbein, Rhinozeroshorn oder Haiflossen: Der Handel mit bedrohten Arten ist ein boomender Weltmarkt mit einem Jahresumsatz zwischen 50 und 150 Milliarden US-Dollar, sagen Schätzungen des UN-Umweltprogramms (UNEP), dazu kommen bis zu 23 weitere Milliarden US-Dollar, die auf das Konto der illegalen Fischerei gehen. Welch riesige Geldsummen in den Hochzeiten des internationalen Kaviarschmuggels über Drittstaaten gewaschen wurden, zeigt die Statistik: Allein im Jahr 2001 wurde in den Vereinigten Arabischen Emiraten unlizenzierter Kaviar im Wert von 20 Millionen US-Dollar umgeschlagen und nach Asien, Europa und Nord Amerika geschmuggelt. Noch wichtiger wurden solche Drittländer ab dem Jahr 2006. Damals erließ die russische Regierung ein Fangverbot, und das Washingtoner Artenschutzabkommen setzte erstmals den internationalen Handel mit Produkten von wilden Stören aus Russland, Aserbaidschan, Kasachstan und Turkmenistan komplett aus. Das verschob die Schmuggelrouten, die seitdem über den Iran verliefen - den einzigen Anrainerstaat des Kaspischen Meeres, der zunächst von den Importbeschränkungen verschont blieb: Hier schützt die Regierung ihr Staatsmonopol am Kaviar-Geschäft mit drakonischen Strafen, und bestraft Wilderei mit dem Abschneiden von Fingern. Dass allerdings gewilderter Stör-Rogen aus den Nachbarländern mit lizensiertem iranischem Kaviar vermischt und verpackt wurde, das verhinderte sie nicht. Erzählerin Kriminelle Geschäfte in dieser Größenordnung seien nur möglich, weil sich die Wilderer professionalisierten und militarisierten, meint UN-Verbrechensbekämpfer Jurij Fedotov, während Gesetzgeber, Strafverfolgungsbehörden und Kunden die Verbrechen an Tieren und Pflanzen weiterhin als Kavaliersdelikt behandelten. O-TON JURIJ FEDOTOV Übersetzer Wir brauchen rigorose Verbote und Änderungen in der Gesetzgebung. Leider können strenge Strafen nicht alle Verbrechen verhindern. Das ist wie im Drogenhandel: Die Gewinne sind dermaßen hoch, dass sie die Leute ermutigen, Risiken einzugehen - denn die wissen ja, dass die Bestrafung wahrscheinlich ohnehin nicht allzu streng ausfallen wird. Ich denke, dass man dieser schnell wachsenden Branche des organisierten Verbrechens mehr Aufmerksamkeit widmen muss als bisher - zum Schutz von wilden Tieren und Pflanzen. ATMO NASCHMARKT Erzählerin: Am anderen Ufer der Donau, fünf Gehminuten vom Karlsplatz entfernt, erstreckt sich der berühmte Naschmarkt. Hier bieten Händler aus aller Welt Schweizer Käse, asiatische Gewürze und andere Gourmetwaren feil. In den Vitrinen der Fischstände finde ich Gläschen mit bunten Schraubverschlüssen, deren Preise die auch nicht ganz billige restliche Auslage weit in den Schatten stellen: "Traumhafter Belugakaviar mit großem Korn, würzig zart. 30 Gramm, 83 Euro". ATMO VERKAUFSGESPRÄCH Erzählerin: Kaviar vom Beluga-Stör, leicht zu erkennen am blauen Deckel, das sei die edelste Sorte, erklärt der Händler: Er hat besonders große Körner, die weich am Gaumen zerplatzten. Der Rogen des Ossietra, des Sevruga sowie einiger Stör-Kreuzungen sei ähnlich im Geschmack, aber kleiner im Korn, und daher preiswerter. Stör-Rogen: tiefschwarz, mit einem Schimmer von Perlmutt, und dem Aroma von Meeresbrise. Nicht zu vergleichen mit dem billigen Forellen- oder Lachskaviar. Leider seien die Störe vom Aussterben bedroht, fährt der Händler fort, der Verkauf von Produkten wild gefangener Exemplare aus fast allen Weltgegenden sei ja verboten. Der Kaviar in seiner Vitrine stamme aus der Aquakultur, aus einer Zuchtanlage bei Salzburg, sagt der Händler. Andere scheint das Fangverbot wenig zu interessieren. ATMO VERKAUFSGESPRÄCH Erzählerin: "Unser Kaviar ist ‚echt', er stammt von wilden Stören, und nicht aus der Fischfabrik": So preisen vier von sechs Händlern lauthals ihre Ware an. Einer der Kaviarhändler gibt sich besondere Mühe. Er winkt, ihm in sein Lager zu folgen. "Eine echte Rarität, die Sie schon bald nicht mehr bekommen werden", flüstert er geheimnisvoll, und holt eine Dose Kaviar mit kyrillischer Aufschrift hervor. Die Banderole ist aufgerissen, das Etikett zerfetzt: eine Original-Verpackung, die offensichtlich etwas hemdsärmelig neu befüllt wurde. "Echter Wildkaviar! Wenn Sie jetzt sofort zugreifen, mache ich Ihnen einen Sonderpreis!" MUSIKAKZENT Sprecher: Die Störartigen (Acipenseriformes) mit ihren 27 Unterarten sind so genannte "lebende Fossilien", und zählen zu den ältesten und erstaunlichsten Tieren der Erde. Das Knorpelkorsett, das bei ihnen die Gräten ersetzt, wächst über die gesamte Lebensspanne. Bis zu vier Meter Länge kann ein Beluga-Stör erreichen - in einem Lebenszyklus, der dem des Menschen frappierend ähnelt: Er kann 100 Jahre alt werden, erst zwischen 14 und 20 Jahren erreichen die Weibchen ihre Geschlechtsreife. Seine langen Laichwanderungen haben den Stör zum Sinnbild für Überlebenswillen und Manneskraft gemacht: Vom Salzwasser der Meere zieht er ins Süßwasser der Flüsse. Hunderte, manchmal tausende Kilometer wandert er gegen die Strömung - und das seit 250 Millionen Jahren. Auf diese Weise hat er die Dinosaurier und so gut wie jede andere Tierart überlebt. Heute aber schneiden riesige Staudämme die Wanderungen der Störe ab. Und wo sie früher in Sümpfen und Auen ihre Laichplätze fanden, da befestigen Kanäle die Flussufer. Inzwischen listet das Washingtoner Artenschutzabkommen sämtliche Stör-Arten als gefährdet, kritisch bedroht oder nahezu ausgestorben. Für das Kaspische Meer, wo ursprünglich 90 Prozent der Populationen ihre Heimat hatten, gilt das ebenso wie für die Restbestände des Schwarzen Meeres, für Sibirien, Nordamerika oder Frankreich. ATMO FUßGÄNGERZONE WIEN Musik One Less Bell To Answer Sprecher: Die internationale Umweltstiftung World Wildlife Fund weist seit Jahren auf die akute Bedrohung der Störe hin. Das Kaviar-Angebot auf dem EU-Markt - dem größten Kaviar-Importeur weltweit - sei so gut wie durchgehend illegal, hatte der WWF in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion gewarnt. Wie aber ist es heute? Gibt es inzwischen ein Kontrollsystem, das verlässlich verhindert, dass gewilderter Kaviar in den offenen Verkauf gerät? ATMO JUTTA JAHR MIT KAVIARDOSE Erzählerin Das österreichische Büro des WWF hat im Nordosten von Wien seinen Sitz. Hier arbeitet Jutta Jahrl. Aus dem Kühlschrank holt sie ein Gläschen Kaviar, das sie auf dem Naschmarkt gekauft hat und deutet auf einen langen Code aus Buchstaben und Zahlen auf dem Etikett. "Convention on International Trade in Endangered Species", kurz CITES, nennt sich das spezielle Siegel des Washingtoner Artenschutz-abkommens, das seit dem Jahr 1998 zur Kontrolle des internationalen Handels mit Störprodukten beitragen soll. O-TON JUTTA JAHRL: Das ist der Cites-Code hier. Das wichtige ist: Die Etikette muss die Dose verschließen. Das heißt, wenn ich sie aufmache, muss die hin sein. Entweder so, mit dieser Banderole, oder die Etikette muss ganz rüber geklebt sein. Aber sie muss kaputt werden. Auch das wird noch nicht von allen Betrieben richtig gemacht. Erzählerin: Das Siegel soll garantieren, dass der Kaviar nicht aus illegalem Wildfang stammt. Der Code dokumentiere die Herkunft des Kaviars über die gesamte Lieferkette hinweg - bis zur Zuchtfarm der Elterntiere. Und dennoch: Nicht immer enthalten die Kaviar-Gläschen das, was der CITES-Code deklariert. Jutta Jahrl schraubt den Deckel auf und deutet auf die schwarz-sämige Masse. Das Gläschen trägt das seriöse Label eines deutschen Handelsunternehmens: bei der Gen-Analyse entpuppte sich der angeblich edle Beluga-Kaviar dann aber als Rogen einer sehr viel billigeren Stör-Art. O-TON JUTTA JAHRL: Den Stempel hat die deutsche Firma drauf gemacht. Der ist auch ganz korrekt. Man sieht nämlich schön "CITES" draufstehen, und sie umschließt auch die Dose und bricht beim Öffnen. Wir haben über die deutsche Behörde herausgefunden, dass die deutsche Firma den Kaviar schon falsch deklariert bekommen hat. Das heißt, wenn die nicht genetisch analysieren, ob das stimmt, was ihnen die Produzenten sagen, dann füllen die den so in die Dose, die können gar nichts dafür, weil sie bereits die Information falsch bekommen haben. Sprecher: Für eine im Jahr 2013 veröffentlichte Studie hat der WWF Kaviar-Proben aus Rumänien, Bulgarien und Österreich - erworben im dubiosen Straßenverkauf wie auch im Gourmethandel und in der Spitzengastronomie - per Gen-Analyse untersuchen lassen. Das Ergebnis: Trotz CITES wurden zahlreiche Produkte ohne die vorgeschriebenen Herkunftsnachweise verkauft; auch Dosen, in denen billiger Fischrogen oder Algen als Kaviar deklariert waren, befanden sich unter den Proben. Der Kaviarhandel sei insgesamt von illegalen Machenschaften durchzogen, befand der WWF. MUSIK-LIED Erzählerin: "Über das Meer, über das Kaspische Meer, fährt ein Schnellboot: Die Wilderer fahren auf Fischzug. Zum Frühstück essen sie Beluga, als Imbiss einen Zander. Zu Mittag gibt's Stör, zu Abend noch einen Beluga. Und eine Dose Kaviar für den Freund." Ein russisches Volkslied. Im Süden Russlands, zwischen Kaukasus und Wolga, kennt es jeder. Sprecher Eine Laune der Natur hat die majestätische Wolga, bevor sie ins Kaspische Meer mündet, in über 250 Flussarme gespalten, und so eine urwüchsige Landschaft aus Auen und Sümpfen geschaffen. Hier blüht die Lotus-Blume, und die seltene Saiga-Antilope zieht durch die Steppe. Nacht- und Silberreiher, Kraniche, Kormorane, Pelikane und Seeadler bilden Europas größte gemischte Vogelkolonie. Doch das Wolga-Delta ist eine ökologische Perle inmitten einer Krisen-geschüttelten Region. Im Südwesten erstrecken sich die von Krieg und Terror zerrütteten Republiken Tschetschenien und Dagestan. Und am Kaspischen Meer tobt ein internationaler Machtkampf um Territorialfragen und Pipeline-Verläufe. Naturressourcen, die früher zwischen der Sowjetunion und dem Iran klar aufgeteilt waren, wecken heute die Begehrlichkeiten von Russen, Aserbaidschanern, Kasachen, Armeniern und Turkmenen. Es geht um Öl und Gas. Und es geht um den "Roten Fisch". Dem, der ihn fängt, erzählen sich die Einheimischen, soll er Lebenskraft, Gesundheit und Reichtum bringen. ATMO DORFFEST Erzählerin: Die Fangsaison des Frühjahrs ist gerade zu Ende gegangen. Im Dörfchen Dschalíkovo, am südlichsten Zipfel des Wolga-Deltas, wird das ausgiebig gefeiert. Auf einer Wiese am Dorfrand servieren die Frauen deftige Speisen, süßen Tee, und zum Abschluss ein Gläschen Wodka. Auch ein Beamter der örtlichen Fischereibehörde ist unter den Festgästen. Ob den Fischern in der vergangenen Saison ein Stör ins Netz gegangen ist, will ich wissen. Der Mann lächelt mich an. ATMO FISCHBEAMTER Erzählerin: Über so etwas schweigt man hier, sagt er - über alles, was mit rotem Fisch und schwarzem Kaviar zu tun hat. Erst nachdem ich ihm versprochen habe, seinen Namen nicht zu nennen, kann ich ihn immerhin zu allgemeineren Auskünften überreden. O-TON FISCHBEAMTER Übersetzer: Das Kaspische Meer ist seicht geworden, der Wasserspiegel sinkt. Darum gibt es jedes Jahr weniger Fisch. Meine subjektive Meinung ist: Die Öl- und Gasförderung im Kaspischen Meer wirkt sich negativ auf die Umwelt aus. Wir konnten unsere Fangquoten in den vergangenen Jahren nur zu 50 oder 60 Prozent ausschöpfen - die Fangquote für dieses Frühjahr sogar nur zur 30 Prozent. Mehr war nicht drin. ATMO FISCHBEAMTER REDET Erzählerin: Und dann redet der Beamte doch vom Roten Fisch - ungefragt, mit großen Gesten. Nein, ein Stör sei den Fischern seines Bezirks nicht ins Netz gegangen - zumindest nicht offiziell. Viele trächtige Weibchen schafften es erst gar nicht bis in die Wolga. Die meisten Störe, sagt der Beamte, werden schon im Kaspischen Meer gewildert, bevor sie überhaupt die Geschlechtsreife erreichen. Ohnehin sei es mit den Laichwanderungen vorbei, seit in den 1960er-Jahren bei Wolgograd ein 47 Meter hoher Staudamm gebaut wurde. Die meisten Störarten des Kaspischen Meeres wären wohl längst ausgestorben, wenn nicht seit Sowjetzeiten durch groß angelegte Staatsprogramme jedes Jahr Tausende in Zuchtfarmen aufgezogene Jungstöre im Kaspischen Meer ausgesetzt würden. Bis heute werden die Störpopulationen auf diese Weise künstlich aufrechterhalten - wenn auch mehr schlecht als recht. ATMO AUTOFAHRT - RADIO, TELEFONAT Erzählerin: Und welchen Anteil hat die Wilderei am Verschwinden der Störe? Der Beamte bricht das Gespräch ab, und ich mache mich auf den Weg ins nahegelegene Lagán. In den wilden 1990-er Jahren, soviel ist bekannt, hat das Städtchen Störkaviar in rauen Mengen produziert. Die Straße führt durch eine flache Steppenlandschaft, in der nur selten ärmliche Siedlungen oder Industrieruinen aus der Sowjetzeit auftauchen. Eines der Gemäuer ist die alte Fischfabrik. O-TON FAHRER SERGEJ ÜBERSETZER: Da gibt es jetzt nichts mehr. Die Leute aus Astrachán haben die gesamte Ausrüstung mitgenommen. Erzählerin: Ein pensionierter Polizist, der seine mickrige Rente mit Taxifahren aufbessert, und seinen Fahrgästen gegen einen guten Tarif auch sonst jeden Wunsch von den Augen abliest. Die Geschichte vom Roten Fisch ist lang, sagt er. Die Stör-Wilderei habe Tradition am Kaspischen Meer, und sie habe Netzwerke geschaffen, die über Jahrzehnte gewachsen sind. O-TON FAHRER SERGEJ (RUSSISCH): Übersetzer: Früher haben die Wilderer den Rogen aus dem Fisch herausgeschnitten, und den Rest einfach weggeschmissen. Das Fleisch hat niemanden interessiert, soviel gab es davon. Das hat mir immer schon leid getan. Es gab jede Menge Wilderer, damals in den frühen 1980-ern. Und jede Menge Roten Fisch: Da waren an die 20 Störe in jedem Netz. Zehn Jahre später war es damit vorbei. Da haben sie von Dagestan aus mit ihren Motorbooten Treibjagden veranstaltet: Sie sind 40 Kilometer hinaus aufs Meer gefahren, und haben die Störe ans Ufer getrieben - egal ob groß oder klein. Alles illegal natürlich. Sie haben Unterwasser-Sprengungen mit Karbid durchgeführt, und den Fisch damit vor sich hergetrieben. Sprecher: Nach dem Zerfall der Sowjetunion, in den Krisen geschüttelten 1990er-Jahren, waren ganze Landstriche ohne geregeltes Einkommen. Die Fischer gingen auf hoher See auf Raubzug. Was zunächst dem puren Lebensunterhalt diente, wurde schnell zum Geschäft. Denn die russischen Metropolen Moskau und St. Petersburg waren jetzt in der Hand von Neureichen, und die zahlten jeden noch so fantastischen Preis. Die Fischer investierten: Sie rüsteten ihre Jollen zu Schnellboten mit drei oder vier Außenbordmotoren hoch, die sich beim Start aufbäumten wie Rennpferde. O-TON FAHRER SERGEJ Übersetzer: Das waren "Bájdy" - schnelle Motorboote mit großen Motoren. Damit haben sie riesige Mengen Stör aus dem Wasser geholt. Das ist alles nach Moskau gegangen. Oder sie haben den Kaviar in Einmachgläsern abgefüllt, und in versteckten Kühlschränken gelagert. Aus den Fischfabriken in Astrachán konnte man sich dazu die Original-Kaviar-Dosen besorgen - solche, die mit kleinen Fehlern produziert worden waren. Die Kontaktleute unserer Fischer kamen von der Krim, aus Stavrópol. Die gehörten zur Mafia - jaja, das war die echte Mafia! Das Geschäft lief über Stavrópol und über die russische Hafenstadt Krasnodár. Von da aus ging der Kaviar für billiges Geld über das Schwarze Meer nach Amerika und in die Arabischen Emirate. Erzählerin: Und was war mit den Aufsichtsbehörden?, frage ich den Ex-Polizisten. Die hätten bei Mini-Löhnen auf ihrer altersschwachen, sowjetischen Ausrüstung gesessen, sagt Sergej. Und sie hingen an ihrem Leben. 1996 explodierte in einer neunstöckigen Apartment-Anlage im dagestanischen Kaspíjsk ein Sprengsatz, und tötete 64 Menschen: In dem Haus wohnten die Familien russischer Sicherheitsbeamter, die den Kaviar-Wilderern das Handwerk legen wollten. O-TON FISCHER Übersetzer 1991 bis 2000, das waren die Jahre des Zusammenbruchs - wegen der Wilderei. Das ganze Dorf hat gewildert, überall gab es "Baidy". Von irgendwas mussten wir doch leben. Schlimmer als wir waren die Dagestaner mit ihren Schnellbooten. Mein Gott, wie viel Fisch haben sie aus dem Wasser herausgeholt! Sie haben ihn ausgerottet, den Roten Fisch. Und dann gab es noch die anderen, die haben sich bei uns aufgeführt wie die Dienstherren. Sie kamen, um Leute anzuheuern. Sie haben ihnen Geld gegeben, damit sie sich moderne Fangausrüstung und schnelle Schiffsmotoren kaufen konnten. Wo die alle herkamen? Keine Ahnung. Aus unserer Gegend jedenfalls nicht. Erzählerin: Mit den Fremden, die damals in den Fischerdörfern auftauchten, kam die Gewalt. Schnellboote, ausgerüstet mit Sonar, Navigations- und Kommunikatonshightech und mit schweren Waffen -, lieferten sich auf dem Kaspischen Meer regelrechte Wasserschlachten. O-TON FISCHER Übersetzer: Natürlich hat man als Wilderer viel mehr verdient. Aber wie viele haben damals ihr Leben verloren! Was damals auf dem Meer los war! Wie viele Kinder unserer Stadt haben sie umgebracht! Den Sohn einer Freundin haben sie mitten auf dem Kaspischen Meer ermordet - zusammen mit drei anderen. Sie haben sie aus einem Hubschrauber heraus erschossen. Und alles wegen diesem dummen Fisch. Sie haben ihnen Ziegel an die Beine gebunden, und sie dann im Meer versenkt. Die Wilderei, die hat niemandem etwas Gutes gebracht. Erzählerin: Im Jahr 2000 wurde Vladimir Putin zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Zu den ersten Amtshandlungen des neuen Staatsoberhauptes gehörte es, den kommerziellen Fang von Beluga-Stören per Gesetz zu verbieten, und der Wilderei den Kampf anzusagen. Wenige Jahre später weitete er das Fangverbot auf die übrigen Arten aus, und erhöhte den Etat für das staatliche Nachzuchtprogramm für Jung-Störe. Putin habe es ernst gemeint, mit dem Schutz der Störe, glauben die Fischer. Trotzdem kehrte der Rote Fisch nie nach Lagán zurück. ATMO BOOTSFAHRT MIT GEQUATSCHE Erzählerin: Erst verschwinden die Fische, dann die Fischerdörfer: Was am schmalen Stichkanal bei Lagán bereits Realität ist, steht anderen Regionen am Wolga-Delta noch bevor. Durch die breiten Flussarme wandert zwar nur noch selten ein trächtiges Weibchen, aber der Kampf um die letzten Störe scheint mit unverminderter Härte geführt zu werden. Sprecher: Diesen Schluss legen Polizeimitteilungen nahe, die regelmäßig von beschlagnahmten Wildkaviar berichten. Im Jahr 2009 flog ein Händlerring auf, der Moskauer Supermärkte mit unlizenziertem Kaviar im Wert von fast drei Millionen US-Dollar belieferte. Die Rede ist von Verkehrspolizisten und Zugbegleitern, die den unbehinderten Transport zwischen dem Kaspischen Meer und Russland sicherstellten. Und von Untergrundfabriken, die in großem Stil gefälschte Dosen für unlizenzierten schwarzen Kaviar unter dem Label einer bekannten Zuchtfarm produzierten. Noch größer als am Wolga-Delta ist das Wilderei-Problem direkt an den Ufern des Kaspischen Meeres: In der russischen Krisenregion Dagestan, die weitgehend der Kontrolle der Staatsmacht englitten ist, sowie in den Republiken Aserbaidschan und Kasachstan, wo die Fischereibehörden als besonders korrupt gelten. ATMO STRAßENMUSIK ASTRACHÁN (ASIATISCH) Erzählerin: Russlands Zentrum für die Kaviar-Produktion ist die Wolga-Stadt Astrachán - und das seit Jahrhunderten. Heute haben hier viele große Stör-Zuchtfarmen ihren Sitz. Wenn es nach dem Willen der russischen Regierung geht, dann wird Kaviar aus der Aquakultur das zerrüttete Image des "Russischen Kaviars" schon bald wiederhergestellt, und zu einer sauberen, weltmarkt-fähigen Marke ausgebaut haben. Das wäre auch die Rettung für den wilden Stör, glaubt Oleg Grigorev, der Leiter des Amts für Fischfang und Fischzucht im Gebiet Astrachán. O-TON OLEG GRIGOREV Übersetzer: Wir widmen dem Stör sehr viel Aufmerksamkeit - weil er ein lebendes Fossil ist, und eine Art Visitenkarte des Kaspischen Meeres. Natürlich muss man endlich Ordnung schaffen in dieser Branche - allerdings nicht so, dass der Staat den Unternehmen Auflagen macht, und sie dann im Stich lässt. Man muss Lösungen finden, so dass Wirtschaft und Staat gleichermaßen von einem geordneten Markt für Schwarzen Kaviar und Störprodukte profitieren. Erzählerin: Je größer das Angebot an Zuchtkaviar, desto weniger rentabel werde die Wilderei, das ist Grigorievs Logik. Was aber, wenn russische Stör-Züchter Wild-Kaviar dazu kaufen, und unter dem eigenen Label lizensieren lassen? Naheliegend wäre das, denn auf diese Weise könnten sie die vielen Jahre bis zur Geschlechtsreife der langlebigen Störe überbrücken, und sich darüber hinaus das teure Futter sparen. Ein Schlupfloch in der russischen Gesetzgebung legt diese Strategie geradezu nahe: Zuchtfarmen dürfen offiziell eine geringe Zahl Störe wild fangen, um durch die Auffrischung des Genpools Missbildungen zu vermeiden. Grigorev jedoch weist den Verdacht auf Kaviar-Wäsche in der von ihm propagierten Aquakultur weit von sich. O-TON OLEG GRIGOREV Übersetzer: Unsere Aquakultur ist bereits so weit entwickelt, dass es gar nicht mehr rentabel ist, bei Wilderen Kaviar zu kaufen, um ihn als Zuchtkaviar weiterzuverkaufen. Heute sind es die Wilderer, die bei den Aquakulturunternehmen Kaviar erwerben, und die dazugehörigen Zulassungen benutzen, um ihren eigenen Kaviar zu legalisieren. Auf diese Weise haben sie etwas vorzuweisen, wenn sie mit ihrem Kaviar zwischen Astrachán und Moskau von Polizisten gestoppt werden. Sprecher: In internationalen Expertenkreisen gelten russische Handelsdaten für Stör und Kaviar als unvollständig und wenig glaubhaft. Klar ist, dass die Kaviar-Exporte, die in den 1990er-Jahren noch bei 2000 Tonnen pro Jahr lagen, kollabiert sind: Der einstige Weltmarktführer Russland muss heute aus den Aquakulturen Deutschlands, Chinas, Uruguays oder Israels Kaviar dazukaufen, um den eigenen Verbrauch zu decken. Dennoch liegt der Jahreskonsum der Russen mit 200 Tonnen verdächtig hoch, heißt es im internationalen Fischerei-Bericht GAIN-Report. 200 Tonnen: das wäre zehn Mal so viel wie die Summe aus Import und offizieller Inlandsproduktion. ATMO MARKTHALLE DOROGOMILOVSKIJ MARKT Erzählerin: Niemand in Russland hat größeren Appetit auf Kaviar als die Moskauer. Im Stadtzentrum, unweit des Kiewer Bahnhofs, liegt der Dorogomílovskij Markt. In einer weitläufigen Halle bieten Händler aus allen Teilen Osteuropas und Zentralasiens Obst, Fleisch und Milchprodukte an. Aleksandr Moiséjev, Kaviar-Experte beim WWF Moskau, steht in der Fischabteilung, und ist fassungslos: Der Stör scheint hier das Aushängeschild eines jeden Verkaufsstands zu sein: Vorportionierte Belugas liegen zu Dutzenden neben Stapeln frisch geschlachteter Sevrugas. "Zartes Fleisch vom Stör, frisch geliefert aus Dagestan und Kasachstan, direkt aus dem Kaspischen Meer", so preisen die Verkäufer ihre Ware an. O-TON ALESKANDR MOISEEV Übersetzer: Außer Zuchtstören sollte es hier überhaupt nichts geben, alles andere ist verboten! Aber hier bieten sie in aller Ruhe Wildstör an! Und da drüben gibt's ganze Aquarien voller wilder Störe: "Kommen Sie, kaufen Sie!" ATMO VERKAUFSGESPRÄCH DOROGOMILOVSKIJ MARKT Erzählerin: In zwei mit Stören vollgestopften Bassins geschieht es vor aller Augen: Eine 250 Millionen Jahre alte Tierart stirbt einen langsamen Tod. Die zuunterst liegenden Fische pumpen hektisch mit den Kiemen, diejenigen an der Wasseroberfläche drehen ihre weißen Bäuche langsam nach oben. Während die Händler die Fische mit flinken Fingern schlachten und zerlegen, stellen sie die Käufer vor die Wahl: Die Störe links stammten aus der Aquakultur, die rechten sind etwas teurer, aber sie seien frisch eingetroffen vom Kaspischen Meer: "Den Unterschied werden sie schmecken: Nur wilder Stör ist echter Stör". O-TON ALESKANDR MOISEEV Übersetzer: Was an unserem Kontrollsystem nicht funktioniert? Nun: die Kontrolle! Weil bei uns in Russland der Kampf gegen alles Mögliche ausschließlich in Form von Kampagnen stattfindet. In der Zeit nach 2007, als der Handel mit Störprodukten gerade verboten worden war, waren unsere Märkte tatsächlich sauber! Die Polizei kontrollierte regelmäßig. Der Handel mit Störprodukten, früher eine Ordnungswidrigkeit, war plötzlich eine Straftat. Gleichzeitig aber war den Leuten klar, dass gerade mal wieder eine Kampagne läuft: Das geht jetzt ein Jahr lang so, vielleicht auch zwei. Danach läuft es weiter wie vorher. ATMO LABORGERÄUSCHE KOLLEGENGESPRÄCH, INSTRUMENTE Erzählerin: Nikoláj Mjúge ist in Moskau am Laboratorium für Molekulargenetik am staatlichen Institut für Fischzucht und Ozeanologie für die Herkunftskontrolle des Kaviars zuständig. O-TON NIKOLAJ MJUGE Übersetzer: Wenn wir einen genetischen Code nicht identifizieren können, obwohl wir sämtliche Gen-Codes der russischen Zuchtunternehmen in unserer Datenbank haben, dann ist klar, dass da etwas faul ist. Kaviar, bei dem wir nicht eindeutig nachweisen können, dass er tatsächlich aus Aquakultur stammt, würden wir niemals eine Exportgenehmigung erteilen. Erzählerin: Das Institut für Molekulargenetik fungiert als Russlands offizielles Kontrollorgan beim Export von Stör-Produkten. Hier müssen alle Zuchtfarmen, die Kaviar für den Weltmarkt produzieren, Warenproben einschicken, bevor sie die notwendigen CITES-Zertifikate für den Import beantragen können. Doch das Kontrollsystem ist löchrig: Unangemeldete Behördenbesuche in Aquakulturunternehmen seien unüblich, berichtet Mjúge. Und wer angebe, nur für den heimischen Markt zu produzieren, werde überhaupt nicht auf die Einhaltung von Artenschutzauflagen hin überprüft. O-TON NIKOLAJ MJUGE Übersetzer: Normalerweise müssen staatliche Behörden die Fischfarmen regelmäßig kontrollieren, und Strafen verhängen, wenn etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Aber tatsächlich muss es einen konkreten Anfangsverdacht geben, damit der Staat tätig wird. Wir wollen die Unternehmen zu nichts verpflichten, das ihnen ihre Geschäfte übermäßig erschwert. Sprecher: Ob sich diese übervorsichtige Haltung der Behörden gegenüber der jungen Aquakultur-Branche jemals auszahlen wird? Am Weltmarkt jedenfalls hat sich die Zeitenwende längst vollzogen. Kaviar-Verpackungen setzen zwar noch immer die Traditionsmarke "Russischer Kaviar" oder "sibirischer Stör" mit kyrillischen Lettern und klassischem Design in Szene - doch die Aufschriften bezeichnen die genetische Abstammung der Elterntiere, nicht den Produktionsort. Die Umsätze in dem Hochpreis-Segment erwirtschaften heute diejenigen, die frühzeitig die Marktlücke entdeckt haben in dem internationalen Gezerre um Fangquoten und Artenschutz: Stör-Züchter aus Deutschland, Italien und Frankreich, aus Uruguay und den USA, aus Israel, Iran und China. Der Millionenmarkt, bis vor kurzem in der Hand der Mafia, gehört heute der Massentierhaltung. ATMO MARKTHALLE BERLIN Erzählerin Mit einem Jahresverbrauch von etwa 2.200 Kilogramm ist Deutschland Europas attraktivster Markt für den Handel mit Kaviar. Und so begebe ich mich auf die Suche: in Hamburg, Berlin, München und Hannover. Ich gebe mich als Feinschmeckerin mit besonderer Vorliebe für Kaviar von wild gefangenen Stören aus. Doch statt illegaler Angebote bekomme ich meistens Vorträge über Artenschutz zu hören. Doch dann stoße ich doch noch auf zwei Verkäufer, die das Risiko der Strafverfolgung nicht übermäßig zu fürchten scheinen. Einer ist der Inhaber eines kleinen russischen Ladens in Berlin. Der andere ist ein Deutscher, und steht mit seinem Stand inmitten von Hannovers zentraler Markthalle. ATMO MARKTHALLE Erzählerin: Im Kampf gegen die Einfuhr illegalen Kaviars sei dem Zollkriminalamt in Köln Ende 2013 ein bedeutender Schlag gelungen, berichtet der Kölner Ermittlungsbeamte Bernd Marx. Im Zentrum der Ermittlungen: 1,8 Kilogramm beschlagnahmter Beluga-Kaviar, sowie die nachgewiesene Belieferung mehrerer Spitzenrestaurants mit illegalem Stör-Rogen durch einen deutschen Züchter aus Pfungstadt im Rhein-Main-Gebiet. O-TON BERND MARX Wir erhielten den Hinweis: Da stimmt was nicht. Das soll russischer Kaviar sein, den er da als selbst gezüchtet vermarktet. Er hatte große Becken, wo Störe rumschwammen. Aber das ging los, dass diese Störe viel zu klein waren. Die waren vielleicht ein bis zwei Jahre alt, also überhaupt nicht geschlechtsreif. Und wir haben dann die Kaviardosen, die wir in seinem Kühlschrank gefunden haben, untersuchen lassen. Und das Ergebnis war dann eben, dass es sich um Kaviar aus dem Kaspischen Meer handelte - also originär eingeschmuggelt. Er hat es dann nachher auch in der Gerichtsverhandlung zugegeben, dass es sich um russischen Kaviar handelte, den er da eingedost hatte - in seine Dosen, mit seinem Label. Mit der Folge, dass er dann vor dem Amtsgericht zu einem Jahr ohne Bewährung verurteilt worden ist. Erzählerin: Deutschland wolle beim Kampf gegen den organisierten Handel mit bedrohten Arten eine Vorreiter-Rolle spielen, sagt Marx. Gerade hat das Zollkriminalamt eine breit angelegte Datenbank aus Stabilisotopen speziell für die Kaviar-Analyse aufgebaut, die - zusätzlich zur üblichen DNA-Analyse - dem rechtssicheren Nachweis von Falschdeklarierung dienen soll. O-TON BERND MARX: Es ist ja das Problem, den Wildkaviar vom Kaspischen Meer bis nach Deutschland ins Regal zu bekommen. Und da brauchen Sie Strukturen, Sie brauchen Kuriere, Firmen, Scheinfirmen, die in der Lage sind, hier größere Mengen Kaviar auf dem westeuropäischen Markt zu platzieren, ohne dass es auffällt. Weil, die Kunst ist es, aus dem illegalen Kaviar legalen zu machen Erzählerin: Rein statistisch betrachtet, ist Deutschlands Kampf gegen den Schwarzmarkt eine Erfolgsgeschichte: Die Mengen an Wild-Kaviar, die heute noch mit gefälschten CITES-Labeln auf den deutschen Markt geschmuggelt werden, beschränken sich auf wenige Kilo pro Jahr. In Deutschland, sagt Bernd Marx, könnten Feinschmecker heute guten Gewissens ins Regal greifen. Doch was nützen verbesserte Behördenkontrollen in Deutschland, wenn der Appetit in Russland selbst groß, und der Marktzugang in anderen Ländern leicht ist? Dem Überleben der wilden Störe, fürchtet auch Bernd Marx, haben alle Anstrengungen seiner Zollbehörde, am Ende möglicherweise nur wenig genützt. Fangverbote und internationale Handelsbeschränkungen haben sich als wirkungslos erwiesen. Die wilden Störe des Kaspischen Meeres werden aussterben, sobald die russische Regierung das Nachzuchtprogramm einstellt. ATMO RANGIEREN Erzählerin: In Born auf dem Darß aber, inmitten von Ostsee-Dünen und Dörfchen mit reetgedeckten Häusern, soll die Geschichte der Störe weitergeschrieben werden. Auf dem Innenhof der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei Mecklenburg-Vorpommern rangiert ein Kleintransporter. In einem Anhänger befüllen Männer in Gummistiefeln gerade zwei schrank-große Transportbehälter mit Wasser. Gerd-Michael Arndt, Sachgebietsleiter Binnen- und Küstenfischerei, bereitet für 400 Jung-Störe den Weg in die Freiheit vor. O-TON ARNDT Die Laichtiere, die sind in diesem Außenteich. Die sind im letzten Jahr reproduziert worden, und die Störe sind hier in der Anlage erbrütet worden, sind aufgezogen worden, und haben jetzt eine Größe von durchschnittlich 150 bis 200 Gramm. Und sollen jetzt besetzt werden. ATMO STÖRE KESCHEN Erzählerin: Mit langen Keschern holen die Instituts-Mitarbeiter die zappelnden Fische aus ihren Bassins, schleppen sie in Eimern zum Transporter. In Deutschland ist der Stör schon vor knapp 100 Jahren ausgestorben: das erste prominente Opfer von Staudamm-Bau und Flussbegradigung an Oder und Elbe. Jetzt will die deutsche "Gesellschaft zur Rettung der Störe" das Rad zurückdrehen. In Kanada hat sie nahe Verwandte des Atlantik-Störs entdeckt, der in der Oder ansässig war. Seit 1996 läuft das Nachzucht-Programm. ATMO AUTOFAHRT NACH ANGERMÜNDE Erzählerin: Knapp drei Stunden dauert die Autofahrt von der Ostsee bis zum Nationalpark Unteres Odertal, nahe Angermünde. Die sattgrüne Auenlandschaft soll die neue Kinderstube für die Störe sein. ATMO PRESSETERMIN STÖRE AUSSETZEN Erzählerin: Ein Tross von Journalisten erwartet den Transporter. Arndt und seine Mitarbeiter waten mit den zappelnden Fischen durch das seichte Wasser der Überschwemmungsflächen. Eimer nach Eimer kippen sie in den Fluss, und geben unermüdlich Interviews: Über die Millionen-Summen, die nötig waren, um Oder und Elbe über die Jahre mit inzwischen über 500.000 Jung-Stören zu besetzen. Über die internationalen Kooperationsprogramme mit den Anrainerstaaten, die den Laichtieren das unbehelligte Wandern ermöglichen sollen. Über ihre Hoffnung, dass die ausgesetzten Fische tatsächlich einmal zu einer robusten Population heranwachsen, die sich selbst regeneriert. Doch werden die Deutschen dank dieses Projekts tatsächlich irgendwann einmal Kaviar von wilden Stören aus heimischen Gewässern genießen können?, frage ich Helmut Zahn - einen Fischer, der ebenfalls in das Projekt involviert ist. ATMO PRESSETERMIN STÖRE AUSSETZEN O-TON ZAHN: Aus meiner Erfahrung rechne ich damit, dass die Enkel- beziehungsweise Urenkelgeneration erst so viel Nachkommenschaft hervorbringt, und man davon ausgeht, dass wenn jemand den im Netz hat, oder ein Angler am Haken, den wieder zurücksetzt. Die haben ja nicht nur die Gefahren bei uns hier zu erleben, sondern die ganzen Ostseeanrainer. Da wird mit Schleppnetzen, Stellnetzen, alles Möglichem gefischt. Es ist schon, ich sag mal: ein Riesenprojekt! Ich schätze mal, wenn es jut geht, in 100 Jahren! ATMO STÖRE IM BOTTICH UND WASSERWATEN Erzählerin: Jetzt greife auch ich in den Eimer, und hole einen der Jung-Störe heraus - ein Fischlein, so groß wie meine Hand, das sich mit kräftigen Schwanzschlägen gegen den ungewohnten Griff wehrt. Mit seiner spitzen Schnauze, der filigran gemusterten Reptilienhaut und dem weichen Bauch erinnert es mich mehr an ein winziges Krokodil als an einen Fisch. Ein Wesen aus der Retorte, aber ausgestattet mit dem Millionen-Jahre-alten Instinkt, Hunderte Kilometer zu weit entfernten Laichplätzen zu wandern. Ob es sich nach Generationen der Intensivhaltung im Bassin daran erinnert? Ich setze den kleinen Stör in das kalte Flusswasser. Etwas benommen verharrt er in der ungewohnten Strömung. Dann, nach einem Flossenschlag, ist er im trüben Uferschlamm verschwunden. MUSIK Absage Der Stör-Fall Vom drohenden Tod eines Ur-Fisches Ein Feature von Andrea Rehmsmeier Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014. Es sprachen: Anja Bilabel, Bernt Hahn, Hans-Gerd Kilbinger, Walter Gontermann und Louis Friedemann Thiele Ton und Technik: Gunther Rose und Beate Braun Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Hermann Theißen MUSIK ENDE 22