COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur - 3.5.2009 "Die stärkste Droge überhaupt" Literarische Sichten auf Krieg, von Remarque bis Babtschenko Eine Sendung von Raimund Petschner Zwei Zitatoren, schnell sprechend und in raschem Wechsel: Zitator 1 (Ludwig Renn): Süi-krapp! kam eine Granate und fuhr zwischen uns und dem Leutnant in den Boden. Zitator 2 (Ludwig Renn): Ram! ra! Ramm hinten im Grunde. SsSsSsSs ging es rechts hinüber. Zitator 1 (Ludwig Renn): Ramm! ramm! ramm! ramm! hinter uns in den Grund. Bramm! rapp! rapp Zitator 2 (Ludwig Renn): Weickert saß in seinem Loch und sah entsetzt aus. "Warst du hier allein?" "Nein, hier war noch Elsner." "Und was ist mit dem?" "'s hat ihm den Schädel aufgerissen. Da lag alles offen." "Aber er lebt noch?" "Ich weiß nicht. Er ist ganz ruhig fortgegangen. Das war schrecklich!" Zitator 3 (Babtschenko): Der Krieg hat, wie sich herausstellt, gar nichts Ungewöhnliches. Krieg ist Leben, einfach Leben, nur unter sehr schwierigen Bedingungen, wo man auch noch versucht, dich zu töten. Nichts passiert, wenn jemand umkommt. Wir klauen weiter Wasser in der Küche, essen die widerliche Milchsuppe und kriegen einen Anschiss. Wir leben unser Leben, das normale Leben eines Steppenbewohners, wie es die Menschen vor Tausenden und Zehntausenden von Jahren gelebt haben, und der Tod ist hier ein ebenso natürlicher Zustand wie Hunger, Durst und Prügel. (Babtschenko, Arkadi Die Farbe des Krieges Rowohlt 2008 Kühl, Olaf Zitator 1 (Renn): Ich hatte mich seit dem Ausmarsch nicht mehr rasiert und hatte eine Krause ums Kinn, fast durchsichtig blond und ganz weich. Das kam mir ziemlich schlapp vor. Einige wollten sich nicht rasieren, bis der Krieg zu Ende wäre - Sprecher: - denn im August 1914 rechnet man ja damit, Weihnachten wieder zu Hause zu sein. Zitator 1 (Renn): Sch! S! S! S! kam es von vorn und rauschte hinter. Zitator 3 (Babtschenko): Wir sind seltsame Jungs - Sprecher: - schreibt der Russe Arkadi Babtschenko aus seiner Erfahrung des Tschetschenienkriegs heraus, rund achtzig Jahre nach all dem Grauen, von dem Ludwig Renn berichtet - Zitator 3 (Babtschenko): Wir sind seltsame Jungs - mit erwachsenen Augen und erwachsenen Gesprächen, viele von uns schon ergraut, und unsere Augen leuchten niemals fröhlich, selbst wenn wir lächeln - und doch sind wir Jungs. Wir haben immer noch große Lust, einfach nur herumzualbern. Aber lass nur die Schlacht beginnen, dann verwandeln wir uns augenblicklich in Tiere. Alles Überflüssige fällt sofort von uns ab, wie die Schale von der Nuss. Wir sind keine Menschen mehr, wir werden zu Maschinen, die töten, und das Alter spielt keine Rolle mehr. Sprecher: Die Verwandlung des "Ich" und "Wir" in etwas, das die Metapher "Tier" und "Maschine" hervorruft, gehört zu den Stereotypen der Kriegsliteratur. Wie läßt sich Krieg erzählen? Die Tatsachengeschichte in ihren großen Zügen steht jeweils in der Zeitung, und sie ist später Gegenstand der Historienschreibung. Die individualbiographische Geschichte wird zwar oft verschwiegen oder beschönigt oder in Anekdoten zerlegt, doch im Prinzip ist sie erzählbar. Aber - erfahren wir aus ihr, was der Krieg wirklich ist? In welcher Weise der Krieg aus den Menschen hervorgeht und in sie eingeht, sich in ihnen fortsetzt und steigert? Zitator 2 (W.G. Sebald): Karl ist in Afrika, Fritz im Osten, Bübchen springt als Nackedei im Garten herum; unsere Gedanken sind jetzt vor allem bei den Soldaten in Stalingrad; Omi schreibt aus Fallingbostel, Vater ist in Rußland gefallen; man hofft, daß die deutsche Grenze der Steppenflut standhalten wird; die Essensbeschaffung steht jetzt im Vordergrund ... Es ist schwer, die Art der Deformation zu definieren, die in solchen Retrospektiven fortwirkt, doch hat sie sicher etwas mit der besonderen Ausprägung zu tun, die das kleinbürgerliche Familienleben in Deutschland fand - Sprecher: - meint W.G. Sebald und gibt damit den Hinweis, daß der Krieg sich nicht unbedingt in der Form der Verrohung und Gewaltbereitschaft fortsetzt, sondern noch in anderen kriegsspezifischen Strategien des Durchkommens und Überlebens: Beschränkung auf sich selbst oder den kleinsten Kreis, Verhärtung, Verdrängung, Verkapselung, Schweigen. Herstellung kleiner und trotziger Idyllen. Ludwig Renn, Erich Maria Remarque mit ihren Kriegsromanen von 1929, Hans Erich Nossack mit seinem Bericht vom Untergang der Stadt Hamburg 1943 - erstmals erschienen 1948 - und Arkadi Babtschenko, der in den neunziger Jahren am Tschetschenienkrieg teilnahm, sind zu befragen, wie der Krieg erzählt werden kann. Wo die bloße Tatsache nicht reicht und Dichtung nicht hinreicht. die folgenden fünf Zitate schnell hintereinander: Zitator 3 (Babtschenko): Von Grosny her wird immer noch scharf geschossen Zitator 1 (Renn): Der Schlamm patschte unter den Stiefeln Zitator 2 (Remarque): Für niemand ist die Erde so viel wie für den Soldaten. Wenn er sich an sie preßt, lange, heftig, wenn er sich tief mit dem Gesicht und den Gliedern in sie hineinwühlt in der Todesangst des Feuers, dann ist sie sein einziger Freund, sein Bruder, seine Mutter, er stöhnt seine Furcht und seine Schreie in ihr Schweigen und ihre Geborgenheit, sie nimmt sie auf und entläßt ihn wieder zu neuen zehn Sekunden Lauf und Leben Zitator 2 (Remarque) eingeschoben: Lauf und Leben Lauf und Leben Lauf und Leben, Zitator 2 (Remarque) Zitat fortsetzend: faßt ihn wieder, und manchmal für immer. Sprecher: Dabei schreibt Günter Anders nach dem Zweiten Weltkrieg - und vielleicht etwas voreilig -, Schlachtfelder seien antiquiert - Zitator 1 (Günter Anders): - weil sie, die Flieger, in ihren allnächtlichen Bebombungsflügen überhaupt nicht mehr kämpften, sondern "nur" vernichteten; und zwar nicht ihresgleichen, sondern (ihnen kaum sichtbare) Installationen Städte Bevölkerungen. Sie haben mit ihren "Feinden" (sofern man das Rohmaterial, aus dem sie Asche produzierten, "Feinde" nennen darf) überhaupt nicht mehr auf einer und derselben "Ebene" agiert; vielmehr aus einer Dimension angegriffen, die sich weit über ihrer "Carthago delenda" ausbreitete: eben aus der Luft. "Schlachtfelder" gab es nicht mehr. Und wird es künftig nicht mehr geben. Zitator 3 (Babtschenko): Von Grosny her wird immer noch scharf geschossen. Die Verwundeten nehmen sie dabei nicht ins Visier, das ist ihre Masche - erst jemanden anschießen und warten, dass ein anderer zu ihm hinauskriecht. Auf die Art lassen sich fünf oder sechs Leute erschießen, bis der eine ganz verblutet ist. Dann schießen sie den Nächsten an. Wir hocken am Grund des Grabens, Rücken gegen die Wand. Wir können nichts tun als warten, bis es dunkel wird. Ich möchte, dass es regnet, ich würde diese teuflische Sonne am liebsten vom Himmel reißen, so dass sie nie wieder auftauchen kann. derselbe Zitator 3 (Babtschenko) leise darunter hervor, dann freistehend: Ich habe immer gedacht, der Krieg sei schwarzweiß. Aber er ist bunt. Es stimmt nicht, dass die Vögel hier nicht singen und die Bäume nicht wachsen. Die Farben sind grell, die Bäume grün, und der Himmel ist hellblau dort, wo Menschen getötet werden. Das Leben blüht und gedeiht. Die Vögel zwitschern, und die Bäume treiben junges Grün. Tote Menschen liegen im Gras und sind überhaupt nicht schrecklich. Sie gehören in diese bunte Welt. Zitator 2 (Remarque): Im Stockwerk tiefer liegen Bauch- und Rückenmarkschüsse, Kopfschüsse und beiderseitig Amputierte. Sprecher: Erich Maria Remarque, der den selben Krieg wie Ludwig Renn literarisch zu bewältigen sucht. Beide Werke erscheinen nahezu gleichzeitig, 1928, '29, Ludwig Renns "Krieg" und Remarques "Im Westen nichts Neues". Zitator 2 (Remarque): Rechts im Flügel Kieferschüsse, Gaskranke, Nasen-, Ohren- und Halsschüsse. Links im Flügel Blinde und Lungenschüsse, Beckenschüsse, Gelenkschüsse, Nierenschüsse, Hodenschüsse, Magenschüsse. Man sieht hier erst, wo ein Mensch übel getroffen werden kann. Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muß alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, daß diese Ströme von Blut vergossen wurden, daß diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren. Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist. Musikalische Zäsur: Gregorio Allegri, Miserere, bricht abrupt ab Zitator 2 (Remarque): Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muß alles gelogen und belanglos sein - Zitator 1 (Nossack): Wozu haben wir geschlafen? Wozu haben wir uns erhalten? Wozu Vorräte gesammelt und gespart? Ich bin durch all diese Stadtteile gekommen, zu Fuß oder im Wagen. Nur wenige Hauptstraßen waren freigelegt, aber Kilometer über Kilometer kein lebendiges Haus mehr. Und versuchte man seitlich einzudringen, verlor sich sofort jedes Gefühl für Zeit und Richtung. Sprecher: Hans Erich Nossack, der 1943 das Flächenbombardement seiner Heimatstadt Hamburg erlebte und noch im selben Jahr das Erlebte festzuhalten sucht. Zitator 1 (Nossack): In Gegenden, die ich zu kennen glaubte, habe ich mich völlig verirrt. Ich habe eine Straße gesucht, die ich im Schlaf hätte finden müssen. Da, wo ich sie vermutete, stand ich und wußte mir nicht zu helfen. Sprecher: Das Seltsame aber ist: als Nossack sich - auf einen Lastwagen gepfercht zusammen mit zwanzig anderen - der grauenhaft zerstörten Stadt Hamburg nähert, vorbei an schwarzweißen Kühen, Getreide, hier und da einem Fohlen: Zitator 1 (Nossack): Und aus der fruchtbaren Fläche hoben sich vertraute Inseln von Eichengruppen, unter denen alte Bauernhöfe sich verbargen. Manchmal ragte eine Dorfkirche hervor oder das barocke Dach eines Pastorats - Sprecher: - und als dann endlich die Sphäre der totalen Vernichtung begann, nämlich das, was übrigblieb nach dem Abwurf von zehntausend Tonnen Spreng- und Brandbomben über dem dichtbesiedelten Wohngebiet östlich der Elbe; als der Lastwagen in rascher Fahrt auf die tote Stadt zufuhr - Zitator 1 (Nossack): Da überkam mich, ich weiß nicht woher, ein so echtes und zwingendes Glücksgefühl, daß es mich Mühe kostete, nicht jubelnd auszurufen: Nun beginnt endlich das wirkliche Leben. Als ob eine Gefängnistür vor mir aufgesprungen wäre und die klare Luft der längstgeahnten Freiheit schlüge mir entgegen. Es war wie eine Erfüllung. Musikalische Zäsur: Gregorio Allegri, Miserere Zitator 1 (Nossack): Wie sehr stand doch dies Gefühl im Widerspruch zu den Tatsachen. Oder man müßte denn annehmen, daß ein eben Gestorbener etwas Ähnliches empfindet und sein letztes Lächeln daraus aufblüht. Sprecher: Gleichzeitig beschreibt er das Überhandnehmen der Ratten, der fetten, sich verklumpenden Fliegen, den allgegenwärtigen Geruch von Fäulnis und Verwesung. Zitator 1 (Nossack): In uns erwachte plötzlich eine Gier nach Parfüm. Sprecher: Eine Welt, sehr fern von jedem Lächeln. Eine Welt, in der nicht das Lazarett - wie bei Remarque - zeigt, was der Krieg ist. Dessen Wesen zeigte sich nun darin, daß man die Überreste mehrköpfiger Familien in einem einzigen Waschkorb davontragen konnte. Zitator 2 (Remarque): Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde [...] Wir haben alles Gefühl füreinander verloren, wir kennen uns kaum noch, wenn das Bild des andern in unseren gejagten Blick fällt. Wir sind gefühllose Tote, die durch einen Trick, einen gefährlichen Zauber noch laufen und töten können. Zitator 3 (Babtschenko): Im Krieg verändert sich der Mensch sehr rasch. Zitator 2 (Remarque): Wir zerbrachen nicht, wir paßten uns an; unsere zwanzig Jahre, die uns manches andere so schwer machten, halfen uns dabei. Das Wichtigste aber war, daß in uns ein festes, praktisches Zusammengehörigkeitsgefühl erwachte, das sich im Felde dann zum Besten steigerte, was der Krieg hervorbrachte: zur Kameradschaft! derselbe Zitator 2 (Remarque) leiser, unter dem anderen Zitat hervorkommend, dann freistehend: Wir haben alles Gefühl füreinander verloren, wir kennen uns kaum noch, wenn das Bild des andern in unseren gejagten Blick fällt. Zitator 3 (Babtschenko): Im Krieg verändert sich der Mensch sehr rasch. Erschrickt man am ersten Tag noch über einen Toten, so stützt man nach einer Woche schon aus Bequemlichkeit den Ellbogen auf einem abgerissenen Kopf auf, während man Fleisch aus der Konservendose löffelt. Pause Sprecher: Krieg ist Kontingenz. Ohne einsehbaren Grund trifft es den einen, aber den anderen nicht; ohne zu wissen warum, wird der eine hierhin gesteckt, der andere dahin abkommandiert, ein dritter dort verwendet und nie wieder gesehen. Der Gegner greift an, und man weiß nicht wann und mit welchen Mitteln. Wie er zum Gegner geworden ist, politisch-militärisch, ist eine unklare Geschichte, und was gerade verhandelt wird auf den Etagen der Macht, dringt höchstens gerüchteweise bis zum Ort der Schlächtereien. Extremes Ausgeliefertsein bei extremem Handlungszwang. Wer sich in sich zurückzöge, um erst einmal alles zu klären, würde wahrscheinlich den nächsten Tag nicht mehr erleben. Die sogenannte Kameradschaft mag - von ihrer Notwendigkeit im Kampfgeschehen abgesehen - einer der Versuche sein, Normalität und Halt zu finden, wo die Welt in Fetzen fliegt, auch ganz buchstäblich, in Form menschlicher Körper. Kann es der Sprache gelingen, in das Unbegreifliche einzudringen - und in die Unbegreiflichkeit? Sich Erfahrungen anzunähern, die die Belastungsgrenze durchbrechen? W.G. Sebald konstatiert, daß den Berichten derer, die mit dem blanken Leben davongekommen sind - Zitator 2 (W.G. Sebald): - in aller Regel etwas Diskontinuierliches anhaftet, eine eigenartig erratische Qualität, die so unvereinbar ist mit einer normalen Erinnerungsinstanz, daß sie leicht den Anschein von Erfindung und Kolportage erweckt. Die in ihrer extremen Kontingenz unbegreifliche Wirklichkeit der totalen Zerstörung verblaßt hinter einschlägigen Formulierungen wie "ein Raub der Flammen", "verhängnisvolle Nacht", "es brannte lichterloh", "die Hölle war los" [...] Ihre Funktion ist es, die über das Fassungsvermögen gehenden Erlebnisse zu verdecken und zu neutralisieren. Das anscheinend unbeschadete Weiterfunktionieren der Normalsprache in den meisten Augenzeugenberichten ruft Zweifel herauf an der Authentizität der in ihnen aufgehobenen Erfahrung. Sprecher: Sebald spricht hier - in seinen Züricher Vorlesungen zu "Luftkrieg und Literatur" - von Berichten, die Nicht-Schriftsteller geben. Das Ausgeliefertsein an großen Wirbel und knappes Glück ist jedoch ein Erfahrungsmoment, das Schriftsteller und andere, die nur ausnahmsweise schreiben, gemeinsam haben wie den Tod. Wie dringt die entfesselte Wirklichkeit, wie dringen Chaos und Gewalt, wie dringt das Unfaßliche in eine Sprache ein? Manchmal wirft der Umstand, daß "so etwas nicht erzählt werden kann", ein trübes, doch alarmierendes Licht --- worauf? Eben das bleibt alarmierend unklar. Paul Bäumer, die Hauptfigur Remarques, auf Heimaturlaub zu Hause, wird immerzu vom Vater befragt: Zitator 2 (Remarque): Am liebsten möchte er immerfort etwas hören. Ich begreife, daß er nicht weiß, daß so etwas nicht erzählt werden kann, und ich möchte ihm auch gern den Gefallen tun; aber es ist eine Gefahr für mich, wenn ich diese Dinge in Worte bringe, ich habe Scheu, daß sie dann riesenhaft werden und sich nicht mehr bewältigen lassen. Wo bleiben wir, wenn uns alles ganz klar würde, was da draußen vorgeht. So beschränke ich mich darauf, ihm einige lustige Sachen zu erzählen. Er aber fragt mich, ob ich auch einen Nahkampf mitgemacht hätte. Zitator 1 (Renn) eingeschoben wie ein Schuß: Leute kamen mir entgegengerannt. Einer hielt eine rote Hand in die Luft wie einen Leuchter. Bram! krapp! rams! pä-arr! Zitator 2 (Remarque): Ich sage nein und stehe auf, um auszugehen. Sprecher: Einer der Kleinstadtmenschen, die er unterwegs trifft, erklärt ihm jovial, er verstehe ja sehr gut, daß jeder der Soldaten bald wieder nach Hause will. "Aber erst müßt ihr den Franzmann verkloppen". Ein Bier wird spendiert, eine Zigarre. Die Mütter indes, bei Remarque wie bei Renn, geben warme Socken mit oder schicken sie an die Front. Bier, Zigarre, Socken, Gulaschkanone. Behäbigkeitshintergrund von Destruktionsarbeitern, die sich nach vorne werfen, wenn es verlangt wird. Zitator 2 (Remarque): Genau wie wir zu Tieren werden, wenn wir nach vorn gehen, weil es das einzige ist, was uns durchbringt, so werden wir zu oberflächlichen Witzbolden und Schlafmützen, wenn wir in Ruhe sind. Wir können gar nicht anders, es ist förmlich ein Zwang. derselbe Zitator 2 (Remarque) leise darunter hervor, dann freistehend: Wir sind verbrannt von Tatsachen. Wir sind verbrannt von Tatsachen. Sprecher: Es scheint, daß der Krieg, so wie er Verstehensperspektiven unter dem Prasseln der Ereignisse, der Tatsachen, der Kontingenz zerbrechen läßt, auch jede Erzählperspektive als zufällig, unzureichend, im Grunde unmöglich erscheinen läßt - Zitator 2 (Remarque): Nur die Tatsachen sind wichtig und richtig für uns. Sprecher: - so daß der Berichtende - in Verschmelzung mit dem Ich und Wir seiner Protagonisten - den Sinn für tiefere Zusammenhänge, wohl auch den Glauben an sie, preisgibt zugunsten der Tatsachen, der treibenden Ereignisse, der selbstgeschaffenen kleinen Fakten und der Übermacht der erlittenen. Ein Tatsachenstil mithin, in welchem die Frage nach historischen, mentalen, soziokulturellen Voraussetzungen und Treibstoffen des gerade erlebten Kriegs allenfalls in Gesprächen der Soldaten einmal kurz aufblitzt. Das gilt für Remarque, es gilt für Renn und eingeschränkt auch für Babtschenko. Also ob das Geschehen sich selbst zur Darstellung brächte. Unverfälscht und vor aller Tendenz. kurze Zäsur: ein heller, in sich leicht schwankender, durchdringender metallischer Ton Sprecher, der Eindruck eines Marschierens entsteht: Ich - Wir - Ich - Wir - Ich - Wir. Ich - Wir - Ich - Wir. Am Ende: in einem schmalen Abschnitt: Er. Der Wechsel der Perspektive (einmal nur, am Ende) bei Remarque begründet sich daraus, daß an einem Tag, an dem "im Westen nichts Neues" vermeldet wird, sein Protagonist fällt und also nicht weiter Sprecher der Erfahrungen sein kann. Zitator 2 (Remarque): Er war vornübergesunken und lag wie schlafend an der Erde. Als man ihn umdrehte, sah man, daß er sich nicht lange gequält haben konnte; - sein Gesicht hatte einen so gefaßten Ausdruck, als wäre er beinahe zufrieden damit, daß es so gekommen war. Sprecher: So wars! ist eine Leserreaktion, die den Erfolg der Kriegsbücher von Remarque und Renn nicht zum geringsten ausmachte und die auch in Kritiken zum Ausdruck kam. So wars! Genau so! Der Literaturwissenschaftler Peter Horn gibt zu bedenken - Zitator 1 (Peter Horn): Es werden so die "Tatsachen", die ja ein Produkt der durch die Sprache und Konvention "gelenkten" Wahrnehmung sind, naturalisiert, das heißt es wird ihnen der Status eines unabhängig vom Menschen existierenden Wesens zugeschrieben, eine logische Fehlinterpretation, die aber unserem gesamten sogenannten Alltagswissen zugrundeliegt. Schon Broch ist es aufgefallen, daß die Reportage, die "die Dinge selbst sprechen lassen" will, sich konventioneller Sprachmuster bedienen muß - Broch nennt das Realitätsvokabular. [...] Naturalisierung heißt also in diesem Zusammenhang: den Rahmen nicht mehr wahrnehmen, der unsere Erkenntnis lenkt, die durch unser Vorwissen erzeugten Tatsachen als Tatsachen an sich zu verstehen. Zitator 2 (Remarque): Wir haben den Sinn für Zusammenhänge verloren, weil sie künstlich sind. Durch das Neuansetzen im folgenden soll spürbar werden, daß es sich um Sätze aus unterschiedlichen Passagen des Buches handelt Zitator 1 (Renn): Wenn man nur wenigstens wüßte, wie lange es noch dauert, und wenn man die Gegend kennte, in der man angreifen soll! Zitator 1 (Renn) neu ansetzend: Wenn man wenigstens einen Menschen hätte, mit dem man sprechen könnte! Zitator 1 (Renn) neu ansetzend: Wenn man nur wüßte, wie die Gegend aussieht, in der wir stürmen sollen! Alle Zitatoren zugleich wiederholen die drei letzten Sätze Zäsur: der helle metallische Ton. Bricht abrupt ab. Sprecher: Tatsachen halten Mensch und Welt, auch Mensch und Mensch zusammen. Zumindest erscheint es so, und gerade in Zeiten, da der Boden unter den Füßen schwankt. Das äußere Geschehen dominiert, und die erste Person Plural. Auf den 412 Seiten der Originalausgabe von Ludwig Renns "Krieg" findet das Wörtchen "wir" sich schätzungsweise zweitausend Mal. Eine kunstvoll arrangierte Fabel bietet kein Renn und kein Remarque, kein Nossack und kein Babtschenko. Kunstübung ebenso wie unterhaltende Aufbereitung erscheinen gegenüber dem, was zu berichten ist, zumindest unangemessen, wenn nicht obszön. Alexander Kluge sagt, gegenüber einem Geschehen wie Stalingrad sei die Position eines Dichters einfach Unsinn. Eine kunstvoll arrangierte Fabel fehlt, die Episoden sind nicht stringent miteinander verknüpft, subtile Umkreisung von Motiven entfällt zugunsten der nächsten Granate, die alles zersprengt, und die Protagonisten, zumindest bei Renn und Remarque werden nur grob individualisiert: Zitator 1 (Renn): Sonst war noch der Gefreite Hartenstein da, ein zäher, langer Mensch mit dunklem Gesicht, einsilbig und grob, aber tüchtig, und dann Weickert, der beste Schütze in der Kompanie, lebhaft und etwas geschwätzig. Sprecher: - während bei Babtschenko, dessen Werk "die Farbe des Krieges" 2007 auf Deutsch erschienen ist, die Charakterskizzen etwas haben, das ins Wahnsinnsschrille und Popgrelle geht; das gilt besonders, wenn er von Offizieren spricht: Zitator 3 (Babtschenko): Heute ist Jelin der allerwütendste Offizier im Regiment. Er redet überhaupt nicht, Befehle erteilt er nur mit den Fäusten. Er scheißt auf alles - auf das Leben der Soldaten, auf das Leben der Tschetschenen, auf sein eigenes Leben. Gefangene macht er nicht, er schlachtet sie selbst, genauso, wie sie unsere Soldaten schlachten, er presst ihren Kopf mit dem Fuß auf den Boden und schneidet ihnen die Kehle durch. Musikalische Zäsur: Allegri, Miserere, ist unter dem Text hervorgekommen, bleibt eine Weile frei stehen. Zitator 2 (W.G. Sebald): Das Ideal des Wahren - Sprecher: - so W.G. Sebald - Zitator 2 (W.G. Sebald): - erweist sich angesichts der totalen Zerstörung als der einzig legitime Grund für die Fortsetzung der literarischen Arbeit. Umgekehrt ist die Herstellung von ästhetischen oder pseudoästhetischen Effekten aus den Trümmern einer vernichteten Welt ein Verfahren, mit dem die Literatur sich ihre Berechtigung entzieht. Sprecher: Somit ist das Fehlen des kunstvoll Arrangierten, des stringent Verknüpften vermutlich die Spiegelung der Erfahrungswahrheit in der Form. Erfahrungswahrheit - naiv verstanden - war es, womit 1928/1929 die Verlage warben; das gilt für Erich Maria Remarque und umso mehr für Arnold Friedrich Vieth von Golßenau alias Ludwig Renn. Von Golßenaus Werk, der aus sächsischem Uradel stammte und als Offizier am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, wurde vermarktet als der unmittelbare Erlebnisbericht eines einfachen Mannes aus dem Volk; ja die "Frankfurter Zeitung", die im September 1928 mit dem Vorabdruck begann, hatte den adligen Hauptmann a.D. dazu verpflichtet, sein bürgerliches Pseudonym Ludwig Renn nicht zu lüften. Sein Protagonist - dieses Ich, das aus dem Wir immer wieder einmal auftaucht - ist ein einfacher Handwerker und bringt es, mehrfach verwundet und ohne Kriegsbegeisterung, am Ende bis zum Vizefeldwebel. Ähnlich verhält es sich bei Remarque: auch hier die Legende vom einfachen Soldaten ohne literarische Vorbildung, der endlich einmal aufschreibt, wie es wirklich war. Auf dem Umschlag trug das Buch Walter von Molos Empfehlung: "Remarques Buch ist das Denkmal unseres unbekannten Soldaten / Von allen Toten geschrieben." Und die noch Lebenden? Die aus dem Krieg Zurückgekehrten? Zitator 2 (Remarque): Was soll das bloß werden, wenn wir zurückkommen? meint Müller, und selbst er ist betroffen. Kropp zuckt die Achseln. "Ich weiß nicht. Erst mal da sein, dann wird sichs ja zeigen." Wir sind eigentlich alle ratlos. "Was könnte man denn machen?" frage ich. "Ich habe zu nichts Lust", antwortete Kropp müde. "Eines Tages bist du doch tot, was hast du da schon?" Ich glaube nicht, daß wir überhaupt zurückkommen." Zitator 1 (Renn): Sch! fuhr es herab. Map - kremm! Ein brauner Baum sauste auf, fünf Schritt vor uns. Hornung neigte den Oberkörper. Pu-pu-pu! fielen Lehmbatzen nieder. Ich bekam nassen Lehm in den offenen Kragen. [...] Er deutete in einen Baum. Über einen starken Ast hing ein Pferd, sonderbar dünn, nur wie eine Haut. Was müssen das für Granaten gewesen sein, daß sie ein ganzes Pferd da hinaufgeworfen haben! Sch-kremm! in die Trümmer. Wir gingen eilig weiter. Zitator 2 (Remarque): "Wenn ich darüber nachdenke, Albert", sage ich nach einer Weile und wälze mich auf den Rücken, "so möchte ich, wenn ich das Wort Frieden höre, und es wäre wirklich so, irgendetwas Unausdenkbares tun, so steigt es mir zu Kopf. Etwas, weißt du, was wert ist, daß man hier im Schlamassel gelegen hat. Ich kann mir bloß nichts vorstellen. Was ich an Möglichem sehe, diesen ganzen Betrieb mit Beruf und Studium und Gehalt und so weiter - das kotzt mich an, denn das war ja immer schon da und ist widerlich. Ich finde nichts - ich finde nichts, Albert. Sprecher: Beruf und Studium und Gehalt und - Zitator 1 (Renn): Über einen starken Ast hing ein Pferd, sonderbar dünn, nur wie eine Haut. Sprecher: Wenn generelle Mobilmachung und Dislozierung Kennzeichen der Moderne sind, so ist dies Pferd in dem Kriegsbericht von Ludwig Renn ein Bild des Zerstörungspotentials, das der Moderne innewohnt. Dies irgendwo in einem Gestüt, vielleicht in Holstein, aufgewachsene und gepflegte, gestriegelte und gerittene, gefütterte Pferd, das im fernen Frankreich in einem Baum verenden und verwesen wird. Das Grauen einzelner Körperteile, die abgerissen an einem Ort plötzlich zu sehen sind, wo sie niemals vorstellbar gewesen wären, läßt sich als ein Grauen an extremer Dislozierung verstehen. Beinah gleichzeitig mit Ludwig Renns Roman, 1929, erscheint "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin. Zitator 3 (Alfred Döblin): Der Hammer, von dem starken Mann mit beiden Fäusten aufgehoben, ist hinter ihm, über ihm und dann: wumm herunter. Sprecher: Wir sind im Schlachthof in Berlin. Zitator 3 (Alfred Döblin): Jetzt wird das Messer angesetzt werden, und das Blut wird herausstürzen, ich kann es mir schon denken, armdick im Strahl, schwarzes, schönes, jubelndes Blut. Dann wird der ganze lustige Festjubel das Haus verlassen, die Gäste tanzen hinaus, ein Tumult, und weg die fröhlichen Weiden, der warme Stall, das duftende Futter, alles weg, fortgeblasen, ein leeres Loch, Finsternis, jetzt kommt ein neues Weltbild. Sprecher: Während bei Döblin Erfahrungen der Zersplitterung in der sprachlichen Form zum Ausdruck gelangen, erzählen Renn wie Remarque das Ungeheuerliche mit traditionellen Mitteln. Bei Döblin, könnte man sagen, sind die Pferde bereits im Baum: überall herrscht Gleichzeitigkeit von Beziehungslosem, Versprengtheit der Teile, schrilles Nebeneinander von inhaltlich Entgegengesetztem. Displaced persons and animals treiben durch die große Stadt oder werden in ihr festgehalten, und ebenso sind die Zeichen und Worte im öffentlichen Raum in einen wüsten Wirbel geraten. Zitator 3 (Alfred Döblin): Kanalisationsartikel, Fensterreinigungsgesellschaft, Schlaf ist Medizin, Steiners Paradiesbett. - Buchhandlung, die Bibliothek des modernen Menschen, unsere Gesamtausgaben führender Dichter und Denker setzen sich zusammen zur Bibliothek des modernen Menschen. Zitator 2 (Remarque): Zwei Jahre Schießen und Handgranaten - das kann man doch nicht ausziehen wie einen Strumpf nachher. Zitator 3 (Alfred Döblin): Jetzt klatscht es wieder, eine Tür wird hinten geöffnet, der Dampf zieht ab, sie treiben eine neue Schar Schweine rein, ihr lauft da, ich bin vorn durch die Schiebtür gegangen, drollige rosige Tiere, lustige Schenkel, lustige Ringelschwänze, der Rücken mit bunten Strichen. Und sie schnüffeln in der neuen Bucht. Die ist kalt wie die alte, aber es ist noch etwas von Nässe am Boden, das unbekannt ist, eine rote Schlüpfrigkeit. Sie scheuern mit dem Rüssel daran. Sprecher: Remarque, der aus Osnabrück kam, Sohn eines Buchbinders, war 1916 mit seinem gesamten Jahrgang 1898 von der Schulbank weg eingezogen worden. Er hatte schon früh zur Jugendbohème gehört - zwischen Wandervogel, Innerlichkeit und Bürgererschreckerei - was alles nach dem Krieg seltsam fremd geworden war: Zitator 2 (Remarque): Heute würden wir in der Landschaft unserer Jugend umhergehen wie Reisende. Wir sind verbrannt von Tatsachen, wir kennen Unterschiede wie Händler und Notwendigkeiten wie Schlächter. Sprecher: Remarque versuchte sich als Volksschullehrer, schrieb Romane und Gedichte ohne größere Resonanz, war bei der Werbeabteilung der Continental-Werke in Hannover angestellt und ging 1924 nach Berlin. Dort wurde er stellvertretender Chefredakteur der Illustrierten "Sport und Bild". Ein halbwegs erfolgreiches Arrangement mit der Wirklichkeit der zwanziger Jahre. Zitator 2 (Remarque): Wir sind überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere sich fügen, und viele werden ratlos sein: die Jahre werden zerrinnen, und schließlich werden wir zugrunde gehen. Sprecher: Nach dem Millionenerfolg von "Im Westen nichts Neues" und der schäumenden Kritik von rechts - "schwächlicher Pazifismus", "Entwürdigung des deutschen Soldaten" -, doch heftiger Kritik auch von links: die Ursachen des Krieges blieben unbehandelt; nach dem Verbot des romanadaptierenden Films durch die deutsche Oberprüfstelle, mit der Begründung, er lasse "jedes ethische Moment auf deutscher Seite bewußt vermissen", einem Verbot, das wohlgemerkt im Dezember 1930 ergeht und den Nazis Aufwind gibt; nach dem Verbrennen seiner Bücher und der Ausbürgerung des Autors 1938, der ins Ausland gegangen war, stirbt Erich Maria Remarque 1970 in der Schweiz. Vom "Trommelfeuer der Wirklichkeit", dem ein Pazifismus wie der Remarques nicht standhalten könne, hatte ein rechter Bellizist in einer Kritik Ende der zwanziger Jahre geschwärmt. Zitator 3 (Alfred Döblin): Und Rollen von Eisenbahnen, Kanonen krachen, Platzen der Handgranaten, Sperrfeuer, Chemin des Dames und Langemarck, Lieb Vaterland magst ruhig sein, Lieb Vaterland magst ruhig sein. Die Unterstände verschüttet, hingesunken die Soldaten. Der Tod rollt seinen Mantel, singt: O ja, o ja. derselbe Zitator 3 (Alfred Döblin) unter dem ersten Zitat hervorkommend, dann freistehend: Marschieren, marschieren, wir ziehen in den Krieg, es ziehen mit uns 100 Spielleute mit, sie trommeln und pfeifen, widebum widebum, dem einen gehts grade, dem andern gehts krumm, der eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der andere liegt stumm, widebum widebum. alle Zitatoren leise übereinandergesprochen: widebum widebum widebum widebum widebum widebum Sprecher: Der kaiserliche Kompanie- und Bataillonsführer Arnold Friedrich Vieth von Golßenau - später: Ludwig Renn - hatte in seiner Schulzeit ins Tagebuch geschrieben: "Dichten! Dichten! Was gibt es höheres als einen Dichter?" Nach Ende des Krieges - er ist knapp dreißig Jahre alt - sind zwei Vergangenheiten für ihn versunken: die Adelsgesellschaft der Vorkriegszeit mit dem festen sozialen Korsett des Offizierskorps, und die Fronterfahrung einer festen Verbundenheit zwischen Offizier und Mannschaft. Zitator 1 (Renn): Für mich bedeutete dieses Verbundenheitsgefühl etwas Ungeheures. Und ich bin heute der Meinung, daß mir dieses Erlebnis in der Tat eine neue Welt öffnete. Es konnte nicht ausgesprochen werden, weil es nur eine Gefühlsbindung war. An einer Verstandesbindung, an einem Ziel, das man in Worten ausdrücken konnte, war ich ja verzweifelt. Sprecher: 1929 beurteilt Ludwig Renn dies "merkwürdige Verbundenheitsgefühl" des adligen Offiziers mit den gemeinen Soldaten als - Zitator 1 (Renn): - ein Kollektiverlebnis von solcher Stärke, daß mein ganzes Streben darauf gerichtet war, so etwas noch einmal zu erleben. In der Nachkriegszeit stand ich ohne jene Gemeinschaft da, und das war mein Problem. Sprecher: Renn beginnt zu studieren, bricht das Studium wieder ab, versucht sich als Kaufmann, später betreibt er Landwirtschaft; dann läuft er zu Fuß durch Italien, Griechenland, die Türkei. Er tritt 1928 in die KPD ein und veröffentlicht "Krieg" - ein Werk, das im Gegensatz zu Remarques Roman von der politischen Rechten kaum angegriffen wird. Zitator 1 (Renn): Mein Held gehorcht, weil er nicht weiß, um welches Zieles willen er nicht gehorchen sollte. Wegen dieses Gehorsams lieben die Nationalisten mein Buch. Sie brauchen solche Ludwig Renns, die blind gehorchen, und die kein Ziel mehr haben, weil man ihnen alle zerstört hat. Sprecher: Hier spricht Ludwig Renn vom Protagonisten seines Romans, der den Namen des Verfassers trägt - anders als bei Remarque. Das mag die Rezeption umso mehr dahin gelenkt haben, das Buch zu lesen als den ungeschminkten Erfahrungsbericht eines damals Beteiligten. So daß Carl von Ossietzky in seiner Kritik des Buches in dem Verfasser Ludwig Renn einen "Kleinstädter mit dörflichem Einschlag, von Beruf Tischler" vermutet. der anhaltende, durchdringende metallische Ton, hineingesprochen: Zitator 3 (Babtschenko): Im Krieg verändert sich der Mensch sehr rasch. Sprecher: Der Kommunist Renn wird in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet. Nach seiner Entlassung geht er nach Spanien, nimmt dort als Offizier am Bürgerkrieg teil, verbringt die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Mexiko und lebt später in der DDR, wo er 1979 stirbt. noch einmal, etwas länger, der anhaltende, durchdringende metallische Ton - bricht ab Sprecher: Im Krieg verändert sich der Mensch sehr rasch, wie Arkadi Babtschenko sagt. Und wie es Hans Erich Nossack nach dem "area bombing" in seiner Stadt Hamburg 1943 konstatiert: Zitator 1 (Nossack): Die, von denen man wußte, daß sie unvorstellbar grauenhafte Stunden erlebt hatten, die brennend durch Feuer gelaufen und über verkohlte Leichen gestolpert waren, vor deren Augen und in deren Armen Kinder erstickten, die ihr Haus zusammenstürzen sahen, in das der Vater oder ihr Mann sich gerade zurückgewandt hatte, um noch etwas zu retten, alle diese, die monatelang auf Nachricht von Vermißten hofften und die zum mindesten ihre gesamte Habe in wenigen Minuten verloren, - warum klagten und weinten sie nicht? Und warum diese Gleichgültigkeit im Tonfall, wenn sie von dem, was hinter ihnen lag, sprachen, diese leidenschaftslose Art der Rede, als berichteten sie von einem furchtbaren Begebnis aus vorgeschichtlicher Zeit, das heute nicht mehr möglich ist und dessen Erschütterungen nur noch durch unsere Träume nachklingen? noch einmal, kurz, der metallische Ton Zitator 1 (Nossack): Und dann diese gedämpfte Stimme, durch die das grelle Tageslicht hindurchdrang, und so voller Scheu, wie man nachts im Freien spricht, wenn man nicht weiß, wo noch ein heimliches Ohr sein könnte, das zuhört. Sprecher: Individuell wie gesellschaftlich entsteht so etwas wie ein cordon sanitaire; durch ihn darf keinesfalls unabgemindert, ungefiltert dasjenige dringen, was angerichtet wurde, was tatsächlich geschehen ist, doch wofür es keine Worte gibt. Zitator 1 (Nossack): Der Abgrund war ganz nah neben uns, ja, vielleicht unter uns, und wir schwebten nur durch irgendeine Gnade darüberhin. Das einzige, was wir tun konnten, war, nicht zu laut zu sein und nicht zu viel Gewicht zu haben. Es hätte nur einer von uns zu schreien brauchen, und wir wären alle verloren gewesen. Deshalb wachten die Flüchtlinge auch ängstlich für einander, daß alles die Haltung wahrte. Sprecher: Haltung wahrte Nossack, der 1901 geborene und 1977 gestorbene Erzähler, Essayist und Dramatiker, in seinem Bericht mit dem Titel "Der Untergang". Hier wird nicht geschrieen und geklagt, es spricht aber auch nicht eine fühllos gewordene, gegen alles gewappnete Seele. Was in der neu hergestellten, das heißt, in der zerstörten Welt als Wirklichkeit erlebt wird, und was demgegenüber nur als Unwirklichkeit erscheinen kann, hat sich verdreht: Zitator 1 (Nossack): Als Misi und ich durch unseren zerstörten Stadtteil gingen und nach unserer Straße suchten, sahen wir in einem Hause, das einsam und unzerstört in der Trümmerwüste stand, eine Frau die Fenster putzen. Allegri, Miserere, unter dem Zitat hervorkommend, eine Weile freistehend weiter Zitator 1 (Nossack): Wir stießen uns an, wir blieben wie gebannt stehen, wir glaubten eine Verrückte zu sehen. Das gleiche geschah, als wir Kinder einen kleinen Vorgarten säubern und harken sahen. Das war so unbegreiflich, daß wir anderen davon erzählten, als wäre es wunder was. Und eines Nachmittags gerieten wir in einen völlig unzerstörten Vorort. Die Leute saßen auf ihren Balkons und tranken Kaffee. Es war wie ein Film, es war eigentlich unmöglich. noch einmal kurz: Allegri, Miserere Sprecher: W.G. Sebald spricht von einer "Überladung und Lähmung der Denk- und Gefühlskapazität" in Situationen des Krieges wie jener in Hamburg 1943. Verdun, Hamburg, Grosny (oder Stalingrad, Saigon, Beirut, Bagdad): Immer stellt sich das Problem, und immer wieder neu, wie trotz dieser Überladung, trotz dieser Lähmung vom Erlebten gesprochen werden kann. Nüchterne rapportierende Sprache ist immer eine Möglichkeit, birgt aber die Gefahr, das Weltauflösend-Ungeheure einzugemeinden ins Normale. Sie ist andererseits geeignet, dem Grauen zum Ausdruck zu verhelfen, indem sie das Normal- und Alltaggewordene des Unausdenklichen mimetisch nachvollzieht; etwa wenn Babtschenko schreibt: Zitator 3(Babtschenko): Alle Männer, die man finden kann, werden auf den Platz geschleppt, auf einen Haufen geworfen, dann beginnt das Gemetzel. Einer drückt den Tschetschenen mit dem Bein auf den Boden, ein anderer zieht ihm die Hose aus - Sprecher: Was nun geschieht, wird knapp geschildert, als grobe Skizze eines Schlachtvorgangs - Zitator 3(Babtschenko): In einem halben Tag ist das ganze Dorf kastriert, dann zieht das Bataillon ab. Unsere Leute lassen wir am Kreuz hängen - die werden später von Spezialeinheiten abgenommen. Sprecher: Subjekt des Handelns ist das "Wir", oder ein Unbestimmter, Auswechselbarer aus der Menge: "einer", "ein anderer", wenn nicht auf die Passivform ausgewichen wird. Kaum einer von ihnen, erzählt Babtschenko, war je mit einer Frau zusammen, bevor er zur Armee kam. Zitator 3(Babtschenko): Wir alle wurden geboren - Sprecher: - läßt er einen von ihnen sagen - Zitator 3(Babtschenko): großgezogen und ausgebildet nur, damit man uns heute nach Tschetschenien schickt. Zitator 1 (Renn): Mein Held gehorcht, weil er nicht weiß, um welches Zieles willen er nicht gehorchen sollte. Sprecher: Arkadi Babtschenko, 1977 geboren, mit achtzehn Jahren, wie Tausende seiner Generation, zum Militärdienst einberufen und 1996 nach Tschetschenien versetzt, wird am Ende sagen: Zitator 3(Babtschenko): Krieg ist die stärkste Droge überhaupt. Zitator 3(Babtschenko) neu ansetzend: Ich liebe dich, Krieg. Ich liebe dich dafür, dass meine Jugend, mein Leben, mein Tod, mein Schmerz und meine Angst in dir sind [...] Du bist meine erste Frau, meine erste Liebe. Viele Jahre sind vergangen, aber niemanden konnte ich so lieben wie dich. Mit achtzehn Jahren wurde ich als naiver Welpe in dich hineingeworfen, und ich bin in dir getötet worden. Und bin wiederauferstanden als hundertjähriger Greis, krank, mit leerem Blick und ausgebrannter Seele. Du bist für immer in mir. russischer Song aus der Gegenwart, unter dem Zitat hervorkommend, eine Weile freistehend Sprecher: Krieg reduziert auf Überleben und Sterben. All die komplexen Sinn- und Beziehungsfragen des modernen Lebens scheinen abgetan, überflüssig. Krieg versetzt den Menschen in eine Wirklichkeit, die totalen Anspruch erhebt; wohl vergleichbar jener Erfahrung, die Jean Améry vom Konzentrationslager wiedergibt: Zitator 1 (Jean Améry): So nahm langsam in Auschwitz alles Geistige eine zwiefach neue Gestalt an: es wurde einerseits, psychologisch, zu etwas ganz und gar Irrealem und andererseits, sofern man es in sozialen Begriffen definiert, zu einer Art von unerlaubtem Luxus. Sprecher: Die Literatur vom Krieg - wenn sie denn nicht sich in moralisch-pädagogischer Antikriegs-Programmatik erschöpft - gibt immer auch Aufschluß über die kriegsherbeirufende Mentalität. Der Wunsch nach Komplexitätsreduktion gehört dazu: Überleben und Sterben statt jenes Unbehagens in der Unübersichtlichkeit; Gemeinschaftspathos gehört dazu, Verbundenheitssehnsucht; manchmal, wie beim frühen Ernst Jünger, ein Urnaturpathos: Leben heißt töten; ein Widerwille sich zu fügen in die Koordinaten kleinbürgerlichen Lebens. [[[Zitator 3(Babtschenko): "Auf drei Sachen müßt ihr hier aufpassen", sagt Bereznoj, "die Füße, die Zähne und den Kopf. Zweimal täglich Zähne putzen, wer das nicht tut, dem breche ich den Kiefer. Eure Stiefel schmeißt zum Teufel und geht barfuß. Wenn die Füße erst einmal anfangen zu faulen, kriegt ihr sie nie mehr geheilt. Und steckt nicht den Kopf raus, wenn geschossen wird. Alle ins Zelt, wir kommen auch ohne euch klar. Mir gefällt Bereznoj, er behandelt uns gut, schlägt uns nicht und bringt uns alles bei. Wir folgen seinem Rat und gehen barfuß. Zitator 3(Babtschenko) kommt unter den letzten Sätzen hervor: In einem halben Tag ist das ganze Dorf kastriert, dann zieht das Bataillon ab. Unsere Leute lassen wir am Kreuz hängen - die werden später von Spezialeinheiten abgenommen. Sprecher: Babtschenkos fast ausschließlich im Präsens verfaßtes Buch - Erzählungen im "Ich" und "Wir", die aber chronologisch das Geschehen fortschreiben und als ein einziger Fluß erscheinen - sperrt den Leser in dieses Präsens, in dessen Frische und Enge ein, in eine Ereignishaftigkeit, die der im zeitlichen Abstand schreibende Autor eher wiederaufleben läßt als sie zu brechen. Bei Renn herrscht das Imperfekt des sich erinnernden Soldaten, bei Remarque ein Präsens, das öfters auch dazu dient, eine Grundbefindlichkeit zu bezeichnen - Zitator 2 (Remarque): - denn unsere Lage ist zu verzweifelt, um lange sentimental sein zu können. Das ist nur möglich, solange es noch nicht ganz schlimm ist. Uns bleibt jedoch nichts anderes, als sachlich zu sein. Sprecher: - während Nossack das gerade - vor wenigen Monaten im selben Jahr '43 - Erlebte im Imperfekt festhält. Dieser Autor sei, schrieb Walter Boehlich, auf der anderen Seite des Abgrunds wieder zu sich gekommen. Das Imperfekt bei Nossack - immer wieder unterbrochen vom Präsens der Reflexion und dem Futur von Fragen - nimmt einen seltsamen Ton an: etwas von Traumprotokoll. Ein Traum, in dem Alltäglichkeit jeden Augenblick umschlägt in nie für möglich Gehaltenes, aber auch umgekehrt. Dann plötzlich ein Präsens, das besagt: Es war kein Traum: Zitator 1 (Nossack): Vor dem Eingang zu unserem Kontor hing die Decke wie ein Vorhang bis auf den Fußboden herab. Sie hängt noch heute so. Sprecher: Im Flächenbombardement gibt es für jene, die auf der Erde sind oder sich unter ihr verkriechen, kaum Heldenrollen und kaum Romantisierungsmöglichkeit. Menschen dort unten werden, wie Günter Anders sagt, zu dem Rohmaterial aus dem Asche zu produzieren ist. Die kriegsherbeirufende Mischung aus Erlebnishunger, Todesromantik und Verbundenheitssehnsucht projiziert sich dann doch eher auf das Häuflein von Männern im Schützengraben, den Stoßtrupp, die im Schlamm sich voranrobbenden Frontschweine.]]] Babtschenko hat mittlerweile erkannt, daß trotz aller dargestellten Greuel er und seine Mitsoldaten aus dem Tschetschenienkrieg von etlichen jungen Lesern als Helden empfunden werden. Er sagt das im Jahr 2008 - in einem BBC-Interview -, nachdem er auch am zweiten Tschetschenienkrieg teilgenommen hat. Der Babtschenko des neuen Jahrzehnts hat sich vom Soldatsein gelöst und betreibt zusammen mit anderen eine Internet-Zeitschrift, die Iskusstwo wojny heißt: Art of War, Kunst des Krieges. Das Motto der Zeitschrift lautet: "Der Krieg in der ersten Person". Die wirkliche Erfahrung - artikuliert von einstigen Kriegsteilnehmern - soll die offizielle Version des Krieges (welches auch immer) aufbrechen und demaskieren. Zudem soll der Austausch darüber, wie es wirklich war, eine posttraumatische Hilfe sein. Pause Sprecher: Zurück in die Gegenwart, in die einschließende Gegenwart, die tunnelhafte Gegenwart, wie sie Arkadi Babtschenko in seinem Buch "Die Farbe des Krieges" rekonstruiert: Zitator 3 (Babtschenko) kommt unter dem Sprechertext hervor: Unser Leben ist ein Tag. derselbe Zitator 3 (Babtschenko) neu ansetzend:Wir haben kein Alter, unser Leben ist ein Tag. Als Säuglinge werden wir in der Morgendämmerung geboren, sind mittags erwachsen und sterben am Abend. Wir hasten und eilen und durchleben das Leben. Heute sind wir schon alt. Wir sind 22.15 alt. metallischer, durchdringender Ton - bricht abrupt ab Zitator 3 (Babtschenko): Wir wärmen einander mit der Wärme unserer Körper, aber trotzdem ist jeder von uns ganz allein. Alles, was uns verbindet, ist der Krieg. Das Töten von Menschen, der Tod der Kameraden. In der Zukunft werden wir uns nicht sehen wollen. Das kennen wir schon. Man trifft sich ungern mit einem Menschen, der dich noch als Tier gekannt hat. Wie schon einmal bei Renn soll im folgenden durch das Neuansetzen deutlich werden, daß die Zitate unterschiedlichen Passagen des Buches entnommen sind Zitator 3 (Babtschenko): Wir mögen uns nicht. Zitator 3 (Babtschenko) neu ansetzend: Wir wärmen einander. Zitator 3 (Babtschenko) neu ansetzend: Wir rauchen eine. Zitator 3 (Babtschenko) neu ansetzend: Wir sind alterslos. Zitator 3 (Babtschenko) neu ansetzend: Wir mögen uns nicht. Zitator 3 (Babtschenko) neu ansetzend: Wir sitzen in der Hocke und gucken in den Himmel. Zitator 3 (Babtschenko) neu ansetzend: Wir kämpfen für unsere Kameraden und sind bereit, jetzt sofort in den Kampf zu ziehen, aber eure Medaillen könnt ihr euch ans Knie nageln. Sollen sie klimpern wie Weihnachtsbaumschmuck! Sprecher: Sollen sie klimpern! In einem Krieg, der die Kontingenz, die das Kriegsgeschehen ohnehin hat, ins Ungeahnte anwachsen läßt. Eine Armee wird vorgeführt, in der Chaos, Willkür, Alkohol, private Habgier herrschen. Zitator 3 (Babtschenko): Dieser Krieg ist auf Diebstahl gebaut, sein Zweck ist der Diebstahl. Sprecher: Ganze Panzerfahrzeuge, berichtet Babtschenko, werden den Tschetschenen verkauft, die Soldaten verkaufen Patronen, die Köche verschieben Dosenfleisch; betrunkene Offiziere demütigen rituell, prügeln und quälen die ihnen Untergebenen, die den Druck, wo sie nur können, an noch Schwächere weitergeben. Zitator 3 (Babtschenko): Wir können nicht kauen, wir können nicht tief einatmen - das Brustbein ist von den Faustschlägen der Altgedienten so malträtiert, daß es wie ein einziger blauer Fleck aussieht. Luft bekommen wir nur mit flachen, häufigen Atemzügen. Zitator 3 (Babtschenko) neu ansetzend: Krieg ist die stärkste Droge überhaupt. Sprecher: Ein Rauschmittel also, das die Wirklichkeit anders sehen läßt, grundlegend anders, ohne daß ein allmählicher und selbstverantworteter Weg aus Erfahrung und Gedanke zu diesem Zielpunkt geführt hätte. Ein Vorgang der Abkürzung, der Effektivierung, zugleich der Überwältigung. Von diesem Zielpunkt zu berichten, an den das Rauschmittel Krieg - vorwiegend als Horror-Trip - das Individuum versetzt, ist offenbar das Schwierigste. Und so wie Überlebende des Konzentrationslagers immer wieder berichteten, die zivile Wirklichkeit nicht als ganz wirklich erleben zu können (es ist geschehen, also ist es wieder möglich, also wohnt es irgendwo in diesen Fassaden), so haben auch Kriegsheimkehrer, wie Arkadi Babtschenko, oft genug den erlebten Krieg aus ihrem Leben nie wieder entfernen können und wollen. Zitator 3 (Babtschenko): Du und ich, wir sind ein Ganzes. Nicht du und ich, sondern wir. Ich sehe die Welt mit deinen Augen, messe die Menschen an deinen Maßstäben. Für mich gibt es keinen Frieden mehr. Für mich ist immer Krieg. Das erste Mal hast du mich noch lebend ausgespuckt, hast mich gehen lassen, aber ich konnte nicht allein, ich bin zurückgekehrt. Sprecher: In den zweiten Tschetschenienkrieg zog Arkadi Babtschenko im Jahr 1999, diesmal als Söldner. Zitator 3 (Babtschenko): Ich bin für mich hingegangen, nicht wegen der Feinde oder um zu töten. Allegri, Miserere, freistehend, dann leise unterlegend Zitator 1 (Nossack): Es war einmal ein Mensch, den hatte keine Mutter geboren. Eine Faust stieß ihn nackt in die Welt hinein, und eine Stimme rief: Sieh zu, wie du weiterkommst. Da öffnete er die Augen und wußte nichts anzufangen mit dem, was ihn umgab. Und er wagte nicht, hinter sich zu blicken, denn hinter ihm war nichts als Feuer. 1