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Deutschlandradio Kultur, Literatur, 13.12.2009, 0.05 Uhr "Das Meer unterdrückt sein eigenes Rauschen" Der nicht-konforme Realismus des Georg Seidel Von Matthias Eckoldt Sprecherin Sprecher Zitator Zitatorin Im O-Ton: * Georg Seidel * Elisabeth Seidel * Irina Liebmann * Werner Buhss * Jochen Ziller * Tatjana Rese * Axel Werner * Manfred Wekwerth Regie: Musik (“Die Winterreise”) Zitator: Als wir sahen, dass es nichts zu sehen gibt, weil wir nur sahen, was wir immer zu sehen kriegen, da dachten wir, das also denken sie, die uns sehen, immer das gleiche, verwandelten uns augenblicklich in Regenwürmer und verschwanden im Erdreich, wurden aber mit Hilfe von Starkstromstößen ans Tageslicht zurückbefördert, sahen die Sonne, freuten uns über den schönen Frühlingstag und wussten trotzdem: Eine richtige Geschichte ist das auch nicht. Dann gingen wir Brot kaufen, um uns eine Brotsuppe zu kochen. Als wir aber das Wasser sahen, wurde uns so schlecht, dass wir Bier trinken mussen. Vom Bier bekamen wir einen Schädel, der so groß war, dass wir nicht mehr durch die Kneipentür ins Freie kamen. So blieben wir also in der Kneipe. Da sitzen wir noch. Regie: Musik hoch, wieder unterlegen. Sprecher: Für viele Figuren, die der Dramatiker Georg Seidel entwarf, war der Alkohol oft der einzige Halt. Seine Protagonisten wollten so gar nicht in das vom DDR-Regime entworfene optimistische Szenario zukunftsoffener sozialistischer Persönlichkeiten passen. Sprecherin: Seidels Figuren nahmen nicht ihr Schicksal, sondern das Schnapsglas in die Hand. Kneipe und Alkohol wurden in den ausnahmslos in den achtziger Jahren der DDR entstandenen Stücken zur Metapher für die Selbstzerstörung einer Gesellschaft, die sich gegen Kritik immunisiert hatte. Für die angeblichen Errungenschaften der neuen Ordnung war Seidel voller Hohn und Spott. Entsprechend schwer hatte er es mit seinen Stücken im realexistierenden Sozialismus. (01)O-Ton(Hörspiel „Carmen Kittel“): Tja, sie wollten das Paradies aufbauen auf Erden. Bei den Schachtarbeiten für die Fundamente sind sie auf Braunkohle gestoßen. Und da ging der Streit los: Bauen wir erst das Paradies auf oder bauen wir erst die Braunkohle ab. – Sie haben sich für die Braunkohle entschieden. Sprecher: Das Ende des nicht erbauten Paradieses erlebt Georg Seidel nicht mehr. Er stirbt – gerade vierundvierzigjährig – am 3. Juni 1990. Vom Anfang des Vereinigungsjahres datiert das einzige Tondokument, das von Georg Seidel existiert: (02)O-Ton(Georg Seidel): Ich bin bei diesen ganzen Demonstrationen dabei gewesen. Aber, wenn man das genau nimmt, das fing ja alles viel früher an. Wir haben ja schon vor zwanzig Jahren mit Leuten zusammengesessen und haben über bestimmte Themen geredet, haben uns Gedanken gemacht über die Zukunft dieser Gesellschaft, dieses Landes. Und man hatte innerhalb dieser zwanzig Jahre oft den Eindruck, dass es eigentlich nichts mehr wird, dass die Ideen, die wir hatten, im Sande verlaufen. Und auf einmal, es ist fast wie ein Wunder, auf einmal ist das dann alles dagewesen, konnte sich öffentlich artikulieren. Wie das dann weiterging, dass manches jetzt wieder anfängt, im Sande zu verlaufen, das ist eine andere Geschichte. Aber wie das auf einmal alles da war, ganz viele Leute, die sich Gedanken gemacht haben und sich engagierten, auch wirklich mit hohem persönlichen Einsatz. Dass das doch irgendwo Früchte getragen hat. Sprecher: Der Dramatiker Werner Buhss war einer der Weggefährten Georg Seidel: (03)O-Ton(Buhss03): Seidel war ein Leidender. Das meine ich nicht auf seine Krankheit bezogen, sondern auf die ihn umgebende Wirklichkeit. Das war er persönlich, das war er im Umgang mit Freunden, und das lese ich auch in den Texten. Also eine Leidensfähigkeit – das ist kein egozentrisches Leiden. Das ist ein Mitleiden an Dingen, die unerträglich sind. Regie: Musikakzent Sprecherin: Georg Seidel wurde am 28. September 1945 in Dessau geboren. Zitator: Aber meine Geschichte beginnt früher. Ich im Bauch meiner Mutter, im Luftschutzkeller. Draußen fielen Bomben. Meine Mutter hielt meine Schwester im Arm. Sie war an diesem Abend bei einer Schneiderin, um sich ein Kleid ändern zu lassen. Als meine Mutter den Luftschutzkeller verließ, tobte ein Feuersturm durch die Stadt. Meine Schwester schlief im Wagen. Das geänderte Kleid hatte meine Mutter über die Zudecke gebreitet. Der Sturm riss das Kleid vom Wagen. Meine Mutter rannte dem Kleid hinterher. Brennende Balken flogen aus den Ruinen. Einer traf den Kinderwagen. Der Kinderwagen brannte, das Kleid verbrannte im Feuer. Meine Schwester kam mit Brandwunden davon. Sprecher: Bereits als Schüler verschafft sich Georg Seidel Ansehen bei seinen Klassenkameraden, indem er für sie Liebesverse schreibt. Er bekommt den Spitznamen: Der Dichter. Im Hause seiner Eltern betreibt er ein kleines Puppentheater. Und für ihn ist es damals bereits klar: Er will Theaterautor werden. Sprecherin: Zum Abitur wird er nicht zugelassen, weil er zu oft die Ideologie der Arbeiterpartei verspottet hat. Seidel muss sich in der Praxis bewähren. Er absolviert eine Ausbildung als Werkzeugmacher und holt das Abitur im zweiten Bildungsweg nach. 1968 wird er in einem ingenieurwissenschaftlichen Studiengang an der TU Karl-Marx-Stadt – heute Chemnitz – immatrikuliert. Sprecher: Aus Protest gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Armeen in die Tschechoslowakei verweigert er den Wehrdienst. Sein Studium ist damit rasch beendet. Bereits nach acht Wochen wird er wieder exmatrikuliert. Sprecherin: Das Zwangssystem der Armee beschäftigt Seidel in seinen Stücken und Prosafragmenten immer wieder: Zitator: Weil der Sohn des Materiallagerverwalters nicht Soldat werden wollte, schrie ihn der Materiallagerverwalter an: Was ist denn schlimmer, Zuchthaus oder Kaserne? Der Sohn schrie zurück: Für mich ist die Kaserne ein Zuchthaus. Dieser Satz erregte den Materiallagerverwalter so, dass er aus Sorge um seinen Sohn wild auf ihn einschlug. Der Sohn fiel um und war sofort tot. Der Materiallagerverwalter kam ins Zuchthaus. Sprecherin: Die Theaterregisseurin und enge Freundin Seidels Tatjana Rese: (04)O-Ton(Rese17): Ich denke also die Paarung eines moralischen Rigorismus, mit dem der Georg der Realität und der Welt überhaupt begegnet ist plus die Fähigkeit, Dinge sehr subjektiv, aber sehr genau und sehr scharf zu sehen und über Geschichten und Anekdoten, die ich ja sozusagen aus der Realität herausfiltere und die ich erzähle, weil ich damit etwas übers Leben erzählen will, das war glaube ich eine ganz große Fähigkeit von Georg Seidel. Und das war so ein Moment, was ihn prädestiniert hat zu schreiben, Autor zu sein. Sprecher: Seidel geht als Bühnenarbeiter ans Dessauer Theater. Und er schreibt: Stückentwürfe, Szenen, Gedichte, Kurzprosa. Schließlich bewirbt er sich am Leipziger Literaturinstitut. Die dramatische Dichte der Texte und der Wortwitz gefallen den Juroren. Er bekommt die Zulassung zum Studium. Sprecherin: Die Schriftstellerin Irina Liebmann: (05)O-Ton(Liebmann47): Die Gleichheit, also das Bedürfnis nach einem Gegenüber, das finde ich bei Georg ganz stark und beispielhaft gut. Auf jeden Fall kommt bei ihm der einzelne Mensch zu Wort. Und er will auch die Augenhöhe nicht verlassen. Das ist jedenfalls mein Eindruck, und das zeichnet ihn aus gegenüber anderen. Also wenn man nimmt: Diese ganze aufklärerische Idee, die zu einer terroristischen Idee ja wird, also bei Müller oder schon bei Brecht im Grunde, dass jemand so tut, als ob er wüsste, wie es war, wie es richtiger wäre, oder überhaupt schon dieses Sprachrohrhafte, das ist ja schon ein anderer Blickwinkel. Da ist ja das Gegenüber schon verlassen. Die Augenhöhe ist verlassen. Sprecherin: Als Seidel jedoch den Wehrdienstzeit ohne Waffe abgeleistet hat, zieht das Institut die Immatrikulations-Zusage zurück. Jetzt heißt es: Zitator: Ihre Texte sind voller Ressentiments gegen die sozialistische Gesellschaft. Sprecher: Auf Seidels Einspruch antwortet Institutsleiter Max Walter Schulz: Zitator: Ihrer Berufsausbildung nach sind Sie Arbeiter. Wenn heute ein Arbeiter die öffentliche literarische Aussage versucht, dann verlangt unsere Gesellschaft allerdings, dass er dabei die Position der herrschenden Arbeiterklasse einnimmt. Aber von dieser Position ist bei Ihnen nichts zu entdecken. Sprecherin: 1991 wird Georg Seidel postum der Preis der Mühlheimer Theatertage verliehen. In ihrer Laudatio sagt Irina Liebmann: (06)O-Ton(Liebmann11): Georg Seidel hält zu dem, was er sieht. Zu sich selbst, zu den Schmerzen, die ihm das zufügt, und die ihm zugefügt wurden, weil er sich nicht verleugnen konnte und auch nicht wollte. So hat er gelebt. Nicht aus Prinzip, sondern weil es ihm gar nicht anders möglich war. Achtungsvoll. Es hat seine ganze Kraft gekostet. Regie: Musikakzent Sprecher: Seidel fand schließlich Arbeit als Beleuchter am Deutschen Theater in Berlin. Vom Stellwerk aus studierte er Kleist, Hauptmann, Tschechow und Büchner. Zitator: Alle Werke, die der Dichter interpretierbar fand, die verbrannte er, alle Werke, die für nicht interpretierbar galten, wurden von der Öffentlichkeit in eine Kalkgrube geworfen. So gesehen hatte der Dichter gar nichts geleistet. Als ihm das klar wurde, ging er ins Grüne, pflückte einen Strauß Wiesenkerbel, teilte ihn in zwei Teile. Einen Teil schenkte er seiner allerbesten Freundin, den anderen schenkte er seiner Frau. Die beiden Frauen freuten sich sehr. Da war auch der Dichter sehr glücklich und weinte auf einen herumstehenden Panzer, so dass dieser augenblicklich verrostet in sich zusammenfiel - und die Soldaten, die darin wohnten, kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Womit sich die an sich harmlose Geschichte zu einer Obdachlosentragödie verformte. Sprecherin: Georg Seidel findet Förderer. An erster Stelle Ilse Galfert. Als Cheflektorin des einflussreichsten DDR-Theaterverlages „Henschel“ und Chefdramaturgin des Deutschen Theaters Berlin nahm sie sich der Stücke des Mittedreißigjährigen an. Unter der Überschrift: Hinweis auf einen Dichter stellt sie den angehenden Dramatiker 1981 erstmals einem breiteren Publikum vor und nimmt auf die ersten Zeilen seines Stückes „Kondensmilchpanorama“ bezug: Zitator: Mutter - setzt sich, wickelt Elastikbinden von ihren Beinen: Geschafft Urlaub paar Wochen nichts tun Laß mich drei Tage sitzen auf meinem Hintern Die Beine hoch Bauen eine Brücke zum nächsten Stuhl keinen Finger rühren Keinen Gedanken haben Die Arbeit vergessen Nichts hören Nichts sehen So wird mir besser Dann fahren wir los Australien, Amerika, Asien Meinetwegen alles in einer Woche Aber vorher laß mich das machen Der Schweiß muss abtropfen Ausruhen Schlafen Fußbäder. Zitatorin: 12 Zeilen, es ist der Stückanfang von Seidels Kondensmilchpanorama – Seidels zweitem Stück – und schon sind wir mit diesem Bild im Bilde, worum es gehen wird. Nämlich um die positiven Lebensveränderungen in unserer Gesellschaft, die stattfinden, und um die Menschen, die manchmal mehr von ihnen betroffen sind, als dass sie sich schon wie endlich freigesetzte Wesen fühlen. Abstrahierend gesagt: Das Theater wird von diesem Autor gebraucht zur Untersuchung der soziologischen Spanne zwischen gesellschaftlich fixiertem Glücksgewinn und der gewissen Alltagsnormung des Lebens in den heutzutage perfektionierten Lebensstandards. Und das derzeitige Fazit ist: Mit zuviel Wohlstandsanspruch auf der einen Seite ebenso wie im Verschleiß einer Tagaus-Tagein-Gewöhnung an ein unentwegtes Gleichmaß der Tage andererseits, kommen die Menschen noch nicht alle durchweg an den Glückgewinn heran, der generell erreicht ist. Sprecher: Vorsichtiger und zugleich fundierter konnte man sicherlich in der DDR einen Autor wie Georg Seidel nicht spannend machen. Jochen Ziller, Lektor beim Henschel-Verlag und Theater-Regisseur begann sich für den angehenden Dramatiker zu interessieren. Sprecherin: 1981 nutzte er die Chance, das erste Werk von Seidel auf die Bühne zu bringen. Ihn hatte das Schweriner Theater eingeladen, eine Inszenierung zeitgenössischer Dramatik zu übernehmen. (07)O-Ton(Jochen Ziller12): “Kondensmilchpanorama” Hab’ ich gelesen. Und der Text hat mich sofort angesprungen. Und ich hab gesagt: Entweder du machst das in Schwerin oder gar nichts. Und da bin ich hochgefahren. Glückselig, dass ich ein Stück hatte. Und komm zu der Chefdramaturgin, der Bärbel Jacksch, und die sagt: Du, ich hab ein Stück für dich. Und ich sage: Du brauchst kein Stück für mich haben, ich hab ein Stück. Und es wollte der Zufall: Wir hatten beide “Kondensmilchpanorama.” Sprecher: Seidel verschränkt die Urlaubsgeschichten zweier Generationen miteinander. Vater und Mutter machen einen diszipliniert-disziplinierenden gewerkschaftlich organisierten Urlaub. Sie dürfen nicht zu spät am Ferienort ankommen, und wissen schon, dass sie nicht erholt abfahren werden. Jutta und Klaus, Tochter und Schwiegersohn, haben sich zwischen all den privaten Sehnsüchten und den gesellschaftlichen Beschränktheiten im Alltag soweit auseinandergelebt, dass sie erst recht im Urlaub nicht zusammenkommen können. Sie verreisen getrennt. Sprecherin: Seidel bemüht nicht die Umschreibung, die Parabel, die Metapher, um verdeckt auf Schieflagen in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, was in der DDR-Literatur oft praktiziert wird. Er spricht alles direkt aus, gestaltet Figuren, die ihren Glücksanspruch nicht durchsetzen können. Sprecher: „Kondensmilchpanorama“ ist mehr als eine Talentprobe. In der brillanten Verdichtung der Alltagssprache und den immer kurz vor dem Höhepunkt angeschnittenen Situationen wird bereits eine ausgefeilte Stilistik deutlich. Seidel zeigt zudem ein starkes rhythmisches Gespür. Immer wieder brechen rasante Temposteigerungen in den Text ein. Zitator: Also das Meer Das Meer ist wie immer Schaumkämme und Schiffe. Man badet, liegt rum im Sand, der Strand ist ein Bett, gebaut für einen riesigen Fisch aus zehntausend braunbläßlichen Schuppen, so liegen wir da, Leib zwischen Leibern und dampfen aus die Gerüche der Arbeit, sehen in die schlagenden Wellen wie rollende Jamben zerbrechen sie schäumend am schräg sandigen Ufer, spülen heran die glitschigen Quallen das Ende des Meeres zu pflastern einen Weg aus rotleuchtenden Sternen. (08)O-Ton(Ziller13): Die Resonanz auf Stück und Aufführung waren nun nicht so, dass man da die Hoffnung haben konnte, das geht groß weiter. Es begann eigentlich schon im Vorfeld der Uraufführung ... das, was ich als politisches Denunziantentum bezeichnen würde, und wo weit ab von jeder Kunstkritik ... der Georg mit dieser ersten Aufführung in eine politische Ecke gestellt wurde, die es ihm sehr schwer gemacht hat und die es auch den Theatern sehr schwer werden ließ, sich für ihn einzusetzen. Ihm wurde vorgeworfen seine Konzentration auf die Nebensächlichkeiten und auf die unwichtigen Vorgänge im gesellschaftlichen Leben dieses Landes. Ihm wurde vorgeworfen ... besonders was den Schluß des Stückes betraf seine resignative Schwarzmalerei. Mit gängigen ästhetischen Slogans konnte man Georg nicht beikommen: Da war kein positiver Held, da war keine optimistische Perspektive, und das ist schon bei “Kondensmilchpanorama” losgegangen und hat sich später noch in fataler Weise ... verschärft. Regie: Musikakzent Sprecher: Vier Jahre muss Georg Seidel auf die Aufführung seiner nächsten Arbeit warten. In seinem Stück „Jochen Schanotta“ erzählt er die Geschichte eines jungen Mannes, der hochfliegende Träumen, aber im Alltag von Schule, Betrieb und Armee scheitert. Zitator: Nein, es geht nicht mehr anders. Wenn ich so dasitze, ihr macht den Mund auf, alles ist so normal und geradeaus, ich selber kann schon einen geraden Strich ziehen ohne Lineal, aber in meinem Kopf, alles so rund gewimmelt, es geht nicht mehr. Ich frage mich, was habe ich bis jetzt gemacht, außer was ich jeden Tag mache: Ich lerne, lerne, lerne, mir muss bald der Schädel platzen. Physik muss jetzt sein, Chemie muss jetzt sein, es muss funktionieren, irgendwie muss das funktionieren, wie alles irgendwie funktionieren muss, lerne auch funktionieren, das Leben geht weiter. Fortschritt habt ihr gesagt, wir haben Fähnchen geschwenkt, Frieden habt ihr gesagt, wir haben nicht nur Fähnchen geschwenkt. Es fand statt, alles nach Plan – und ihr habt uns Hoffnung auf Freiheit gemacht. Ihr habt uns betrogen. Ja, wir dürfen so rumlaufen, wir dürfen paar Faxen machen, wir dürfen laute Musik hören, die ganz harten Schläge, das ist keine Freiheit, ihr toleriert uns aus Angst. Sprecherin: Die Gesellschaftskritik geht an die Fundamente und kulminiert in einem Satz, der die Partei- und Kulturfunktionäre erzürnt: Zitator: Alles mit Draht umwickelt, das Land, damits nicht auseinanderfällt. Sprecher: Dem Werk steht ein beschwerlicher Weg bevor. “Jochen Schanotta” wird 1985 am Berliner Ensemble uraufgeführt. Der Intendant des Hauses, Manfred Wekwerth, macht seinen gesamten Einfluß geltend, um das Stück gegen die Parteileitung des Theaters, gegen den Chefdramaturgen Jochen Tenschert und gegen den Brecht-Schwiegersohn Ekkehard Schall durchzusetzen. (09)O-Ton(Wekwerth20) 0:11:33: Die waren immer gegen neue Projekte. ... Die waren immer gegen alles, was nicht die absolute Sicherheit des Berliner Ensembles hatte und dann auch über Brecht hinausging – also nicht hinaus, sondern weiterging. Da gabs schon solche Gruppierungen. Aber Gott sei Dank hatte ich mich ja drum gekümmert, dass ich der Intendant war und keinen Vorgesetzten hatte. ... Bei uns war es üblich, dass jeder Mitarbeiter nach Generalproben Einschätzungen schrieb. Also wenn Sie so wollen verfrühte Zeitungskritiken. Und da gabs gerade von Tenschert und Schall vernichtende Kritiken. Sprecherin: Wekwerth hat in diesem Kampf die besseren Voraussetzungen, ist er doch Präsident der Akademie der Künste und Mitglied des SED-Zentralkommitees. Sein Sieg in dieser Auseinandersetzung stellt sich schließlich jedoch als Pyrrhussieg heraus. (10)O-Ton(Ziller21): Die zweite Hürde war das Ministerium für Volksbildung. Und es hat tage- und nächtelange Diskussionen gegeben. Erstens ob das Stück kommt, weil es von diesen Leuten ... ein Angriff auf das Bildungssystem der DDR war ... Das ist gut gelesen, ja! (lacht) Es war andererseits nun auch Wekwerth im Zugzwang, auch im Hause zu sagen: Das kommt jetzt unter allen Umständen. Und aus dieser Verquickung sind dann die Kompromisse entstanden und die Schwierigkeiten. ... Ich weiß gar nicht ... von wem das kam, jedenfalls das war dann der Hauptzorn von Georg, dass „Karls Enkel“ – ein Liedertheater, damals angeführt von Steffen Mensching und Hans-Eckehardt Wenzel, in diese Aufführung mit eigenen Texten eingebaut wurden, die in unfeiner Weise nicht nur den Text aufweichten, sondern ihn ironisierten. Es ging nicht nur gegen die Haltung des Stückes, sondern auch gegen die Haltung des Autors, was ein bißchen zu fett war. (11)O-Ton(Wekwerth22): Gerade weil eben die Hauptfigur vom Seidel wenig motiviert, aber sehr ausgeprägt ist, schien es uns richtig, dass diese Ebene der Lieder – denn die haben ja keine kompromißvollen Lieder gesungen - … die ganze Sache ich finde nicht harmloser, aber sie machte sie heiterer. Also die Grimmigkeit, die auf dem Theater nicht umschlägt in Kritik des Zuschauers, sondern dann auch die Gefahr der Langeweile besteht. Und da fand ich auch, dass „Karls Enkel“, die ja von sich aus eine aufmüpfige Truppe waren ... dass die den Schanotta zwar ernst nahmen, aber ihn auch als Theaterfigur mit Ironie bedachten. (12)O-Ton(Buhss23): Das war so unsäglich, weil das Provokante dieses Stücks durch deren dämliche – kann ich nur sagen – dämliche Kommentare negiert wurde. Und da entstand dann sowas wie: Es war ja sogar die Uraufführung des Stückes. Da wird ein Autor gespielt und in der Kommentarebene, die das Theater dazuliefert wird der Autor madig gemacht. Und das ist ein Vorgang, der war dummdreist. Also erstmal literarisch vollkommen blödsinnig, theatralisch idiotisch. Und ein Stück unter dem Vorwand, es wäre zu dünn und müßte aufgepoppt werden, durch die populäre Truppe. Das wurde zum Schluß immer mehr eine Veranstaltung von „Karls Enkeln“ und nicht mehr der Autor Seidel auf der Bühne des BE. (13)O-Ton(Ziller24): Das Ding ist dann rausgekommen, und das ist eigentlich das einzige Plus. ... Machen wir uns nichts vor: Berliner Ensemble. ... Sozusagen war da wie so ein politischer Stempel drauf: Das Stück kann man spielen. Es gab dazu eine Pressevereinbarung in Berlin, dass das Stück zu verreißen ist, die ist uns Jahre später von den Kritikern bestätigt worden. Zitator: Seidel gibt einen Entwurf von Wirklichkeit, den ich Ahnungslosigkeitsdramaturgie nennen möchte. Sprecherin: Schreibt Günther Ebert im „Neuen Deutschland“: Zitator: Es kommt immer wieder vor, dass jemand seinen Nabel für die Welt hält. Aber das gibt kein tragfähiges, dramaturgisches Konzept. Deutlich wurde, dass eine derart beschränkte Sicht für die Darstellung unserer Wirklichkeit inkompetent macht. Die Chance für eine Qualifizierung des Autors kann nur darin bestehen, dass seine Arbeit künftig kritischer an den realen Ansprüchen unserer gesellschaftlichen Entwicklung gemessen wird. Verpflichtung auch für Dramaturgie, möglicherweise nicht nur für die des „Berliner Ensembles“. Sprecher: Dass die DDR-Presse tobt, ist nicht verwunderlich – schließlich steht mit Schanotta ein junger Mann auf der Bühne, der eigentlich voll Hoffnung und Zuversicht sein sollte. Aber er zeigt sich weder von den gesellschaftlichen Werten der DDR, noch von deren Disziplinierungsmechanismen beeindruckt. Sprecherin: Seidels „Schanotta“ kann man als eine konsequente Weiterführung des Plenzdorfschen Edgar Wibeau lesen. Gibt dieser sich mit Rockmusik und Jeans zufrieden, so kann Schanotta an solchen Scheinfreiheiten nichts Erfüllendes finden. Er will das Ganze greifen und muss scheitern. Seine Revolte in der Schule endet mit dem Rausschmiss, seine Wandertour durch die DDR stößt unweigerlich auf Grenzen: Die Armee verfolgt Schanotta bis ins letzte Versteck und holt ihn schließlich ab. Sprecher: Dabei begnügt sich Seidel nicht mit einer naturalistischen Nachzeichnung des Weges seines Helden, sondern durchbricht die Szenen immer wieder durch furiose Stakkati, die den Text überhöhen und eine bedrohliche Beschleunigung erzeugen: Zitator: Ich weiß. Ich weiß nicht. Das schwarze Schaf. Wollschaf. Kreuzstich. Messerstich. Messerschneide. Hufschmiede. Feuer. Gesucht werden die Toten. Die Hitze, der Sand, Sandstein? Steinplatten. Wir. Ansage: Zugedurchfahrt, ein Güterzug kam. Schmierölgeruch. Krach. Eisen auf Eisen. Das Beben der Schienen. Schotter sprang. Schatten. Fahrtwind. Abkühlung. Der Zug war schnell durch. Warten. Mann und Eimer. Himbeeren kam. Korb. Ziegenlippen, Steinpilze. Wort auf Wort. Wortfetzen. Sprecherin: Für Tatjana Rese war das Stück zwei Jahre nach der Uraufführung am Berliner Ensemble Seidels das Regiedebüt in Schwedt an der Oder. (14)O-Ton(Rese48): Dieses Spiel zwischen den Worten und den Texten, derer eine Figur habhaft werden kann und den Texten, die einfach über so einem Abend auch liegen. Die einfach so eine Abstraktion haben, dass ich sie als Figur gar nicht fressen kann. Was natürlich für Schauspieler erstmal ein oft unangenehme Angelegenheit ist. Aber das provoziert ja auch bestimmte Dinge. Das provoziert, nichtillustrativ zu arbeiten. Das provoziert, Bild und Text zu trennen. Oder auch emotionale Dinge, die zwischen Figuren auch bitteschön passieren möchten auf der Bühne zu trennen von einem Text, der dazu gehört. Ich hab das als große Qualität empfunden, dass die Figuren nicht alle Texte absorbieren können. Und das war so die Hauptarbeit auch mit den Schauspielern. Das hört sich im nachhinein immer so leicht dann an und theoretisch. Das ist natürlich auch schwer. Zitator: Hänsel und Stadtmusikanten. Waldweg und Lastwagen. Tarnfarben. Farnkraut. Kleinstadt. Brückengedröhn. Flußmündung. Fischsterben. Waggonfabrik. Mausoleum. Tierpark. Lokschuppen. Bahnsteig drei. Wir waren am Ende. Ziel. Ziel, wir waren am Ziel angelangt. Das ist das Ende? Bin ich wieder normal? Durchschnitt? Ein Durchgeschnittenes? Alle Wasser fließen. Die Luft wäre raus. (15)O-Ton(Rese26): Wir haben dann viele Besuchergespräche gemacht. ... Und das Tolle war, dass in den Gesprächen nicht über Kunst geredet wurde, sondern dass die Leute plötzlich ihre eigene Geschichte auspackten. Und dass die Leute plötzlich über die Themen, die dort passiert waren auf der Bühne, redeten. Und das ging bis dahin, dass bei irgendeinem Gespräch eine junge Frau aufstand und ihre Geschichte als Krankenpflegerin erzählte. Und plötzlich standen wir da – als Theaterleute – und sagten: Das ist Klette. Also die weibliche Hauptfigur in dem Stück. Also das waren ganz tolle Erfahrungen, was die Resonanz des Publikums betraf. Regie: Lied freistehend, dann unterlegen. (16)O-Ton(Hörspiel “Carmen Kittel”30): Friß jeder Friß jeder sein Brot Leben ist langsames Sterben. Es sterben die Sümpfe Es grünt überall. Gras wächst und Gänseblümchen. Aber das gelbe vons Ei, das Gelbe vons Ei, das Gelbe vons Ei, Sumpfdotterblumen Blühn nur im Sumpf. Wir sind das Gelbe, das Gelbe, das Gelbe. Drum grabt uns nicht das Wasser ab, dem Sumpf und seinen Blumen, wir müßten sonst, was wir nicht wolln, Gänsblümchen werden. Wird’s werden, wird’s nicht, wird’s werden, wird’s nicht, wir schreien in Gottes Angesicht: Wir sind in Not Der Sumpf geht tot, Gott scheiß uns neue Sümpfe. Sprecher: Georg Seidel lässt sich von den Hindernissen, die ihm von Partei- und Kulturkadern in den Weg geräumt werden, nicht abhalten, weiter zu schreiben. Rasch findet er einen neuen Stoff, und schon 1988 gibt es wieder eine Uraufführung: “Carmen Kittel”. Sprecherin: Das Stück liest sich wie eine Adaption von Hauptmanns „Ratten“. Seidel entflechtet die Hauptmannsche Fabel und reduziert sie auf den Leidensweg seiner Hauptfigur, die in einer Kartoffelschälbrigade arbeitet. Sprecher: 1990 produziert der DDR-Rundfunk den Text als Hörspiel: (17)O-Ton(Hörspiel“Carmen Kittel”31): Kartoffeln, dieses dumpfe Gemüse. Sowas ernährt ein ganzes Volk. Darum wird’s hier auch nie eine anständige Revolution geben. Der Deutsche muss erst seine Eßgewohnheiten ändern. Die Kartoffel, das Graue. Immer unter der Erde. Das nie das Sonnenlicht sieht. Und wenn doch, grün wird. Wie unser eins rot vor Scham. Sprecher: Carmen findet während ihrer Schwangerschaft – und einzig durch sie – Kontakt mit der Gesellschaft. Das Kind lässt sie jedoch aus sozialen Gründen abtreiben. Von ihrem „Arbeitskollektiv“, das in dem Kind die Verbindung zu Carmen sieht, wird sie schließlich genötigt, ihre Schwangerschaft weiter zu spielen. Die Frauen aus der Kartoffelschälbrigade kümmern sich um die Außenseiterin, entschuldigen jede Disziplinlosigkeit, arbeiten sogar für die vermeintlich angehende Mutter mit. Sprecherin: In die Enge getrieben, stiehlt Carmen schließlich ein Kind, um es den Frauen vorweisen zu können. Im Wahn bringt sie es um. Sprecher: Mit „Carmen Kittel“, das in Ost- wie in Westdeutschland, aber ebenso in Atlanta oder dem tschechischen Liberec gespielt wird, ist Seidel endgültig zum Theaterautor gereift. Er erzählt von Menschen, die unter den abstrakten Ideen von der Revolution und ihrer bürokratisch-dünkelhaften Umsetzung leiden. Mit seinen Stücken schafft er einen neuen, nicht-konformen Realismus, indem er völlig auf abstrakte Erwägungen über die Möglichkeit gerechter Gesellschaftsordnungen verzichtet. (18)O-Ton(Buhss18): Schreiben von Theater ist ein ziemlich langer Prozeß. Grundsätzlich, was ich so wichtig finde ist, dass Seidel zu den Autoren gehört, die auch formal und im Zeit-Raum-Kontinuum der Texte nicht geflüchtet sind. Das sind nicht allzu viele. Gerade jüngere Theaterleute, gerade in der DDR haben ja sehr viel versucht über ... eine Sklavensprache sich zu artikulieren. Und Seidel gehörte zu denen, die ziemlich genau – ohne naturalistisch zu sein – genau ihre Wirklichkeit versucht haben, auf die Bühne zu bringen. In „Schanotta“, in „Villa Jugend“ ganz besonders stark, aber auch in den ersten Stücken, die sicher noch große formale Probleme haben. Ich weiß, als ich das erste Mal Seidel gelesen habe, habe ich gedacht: Naja. Da waren noch so modische Tendenzen drin, bißchen was Abgegucktes. Aber das wurde immer klarer, immer sauberer, immer bühnen- und schaupielergerechter. (19)O-Ton(Werner49): Es fällt einem bei den Texten von Georg auch nicht schwer, eine psychologische Tiefe zu finden in den Figuren. Die ist da. Sprecherin: Axel Werner vom Berliner Ensemble spielte 1988 in der Inszenierung von „Carmen Kittel“, Anfang der Neunziger wirkte er auch in Seidels Stück „Villa Jugend“ mit. (20)O-Ton(dito): Und man kann sich – wenn man das sehr ernsthaft behauptet – kann man sich voll auf diese Texte verlassen. Und dann entstehen – so ist es mir bei beiden Figuren gegangen – Figuren, die jenseits jener Clownerie oder Oberflächlichkeit sind, die auch ihre Befindlichkeiten haben und ihre Ängste und ihre Enttäuschungen. Die Sprache ist so in Klötzen teilweise oder in Brocken. Es wird immer so ein Ding hingesetzt. Und dann das nächste. Und dann noch ein Ding. Und man könnte sagen, dass es dazwischen so einen Abriss gibt. Dass da plötzlich etwas zu Ende ist und dann fängt was neues an. Das, was dazwischen dann halt liegt dieser Zwischenraum, ist die Möglichkeit für den Schauspieler oder Regisseur diese Brücken zu bauen. Oder aber das völlig frei zu lassen und zu sagen: Ruhe, Ruhe. Und dann geht das Nächste los. Das sind Sachen, die merkt man und geht damit um, oder es funktioniert nicht. Das macht schon Spaß, vor allem wenn man dann in der Vorstellung auch merkt, wie es dann knistert. Regie: Musik Sprecher: Im Jahr des Mauerfalls gehört Seidel zu den meistgespielten deutschen Autoren. Seine Stücke werden in den Theatern von Luzern, Greifswald, Heidelberg, Eisenach, Konstanz, Rudolstadt, Neustrelitz, Berlin, Düsseldorf, Esslingen, Pforzheim, Dresden und Heilbronn aufgeführt. Sprecherin: Mitte Oktober neunundachtzig erhält Georg Seidel einen Anruf von der Schillergesellschaft Weimar. Man wolle, so sagt der Anrufer, das Andenken Schillers ehren, indem man die zeitgenössische Dramatik unterstützt. Zu diesem Zweck vergibt man in diesem Jahr zum ersten Mal den Schillerpreis. Sprecher: Der erste Kandidat solle er, Georg Seidel, sein. Termin für die Preisverleihung sei der zehnte November Neunzehnhundertneunundachtzig. (21)O-Ton(Georg Seidel50): Ich hab dann an die Leute vom Schillerhaus einen Brief geschrieben und gesagt, dass ich jetzt diesen Preis kriege, das ist so ein Schlußstrich unter all das, was ich bis jetzt gemacht habe, weil die Art von Stücken vielleicht nicht mehr gebraucht werden ..... Das ist wie so ein Schlußstrich unter eine bestimmte Art von Arbeit und dafür kriege ich diesen Preis, und das hat mich sehr gefreut. Sprecher: Elisabeth Seidel, die sich nach dem Tod ihres Mannes um die Herausgabe seiner Texte verdient machte. (22)O-Ton(Elisabeth Seidel52): Und dann sind wir noch am Abend nach Weimar gefahren und wohnten im “Elefanten”. Ich saß mit unserem Sohn Christoph am Tisch. Und Jochen Ziller, der die Laudatio halten sollte, kam bei uns vorbei und sagte ganz lapidar: Wißt Ihr eigentlich schon: Die Mauer ist offen. ... Und ich hab darauf gar nicht reagiert, weil das auch so absurd war. Und ich sagte zu Christoph: Hast Du ... das auch gehört, was der gesagt hat? Und Christoph sagte: Ja, ich hab es auch gehört. Dann sind wir nochmal hingegangen zu Ziller, und da hat der mir das bestätigt. Aber unmittelbar stand diese Schillerpreis-Verleihung bevor, und wir sind ohne groß darüber zu reden da hingefahren. Und er hat dann diesen Preis in Empfang genommen. Sprecherin: In seiner Dankesrede legt Seidel noch einmal die Finger auf die Wunden des sozialistischen Projekts: Zitator: Ohnmacht und Ordnung, oder der Bogen, der sich spannt von den niedergeschlagenen Sklavenaufständen bis zum Slanski-Prozeß in Prag. Als ob hier die Geschichte schon aufhört. Gemordet wird auf verschiedene Weise. Ich sage nicht nur China, ich sage auch Rumänien, mit dem dieses Land, das auch mein Land ist, so heftig befreundet ist. Dem Fürsten, der seine Landeskinder im Würgegriff hält Karl-Marx-Orden anheftet. So klappert das Blech an der Brust, damit er die Schreie des Volkes nicht hört. Die Toten meines Landes gehen zum Nulltarif über die Grenze. Sind es die Toten? Oder was wird aus den Ruinen wachsen, vor denen sie fliehen. Was haben die Menschen geleistet in diesem Land? Beschäftigt mit dem Weltfrieden, vertröstet auf Zukunft, die eine zu Beton versteinerte Gegenwart wurde, aus der man Kasernen, Mauern und Menschenkäfige machte. (23)O-Ton(Seidel51): Kurios war ja, am 10. früh hab’ ich diesen Preis gekriegt und hab überhaupt nicht gewußt, dass die Mauer offen war. Das sehe ich eigentlich als das Ulkige an diesem Preis. Dadurch hat der Preis, so schön er ist, auch einen Witz. (24)O-Ton(Elisabeth Seidel16): Danach war er völlig aufgeregt. ... Er war begeistert, einfach. Er guckte ganz glücklich: Die Mauer ist weg. Sprecher: Die Ehrung war überfällig. Theaterleute wussten längst, welche Qualität die Stücke aus Seidels Feder hatten. Einzelne Regisseure und Intendanten hatten immer wieder Aufführungen durchgesetzt, trotz des enormen Widerstandes der Kulturbürokratie. Regie: Musik unterlegen. Zitator: Der Mensch, würde ich sagen, der Mensch überfordert sich. Nehmen Sie nur mich. Wenn ich früh in den Dienst fahre, die öffentlichen Verkehrsmittel bringen mich um, nehme ich den eigenen Wagen, dann bringt mich der Straßenverkehr um. Es bringt mich nicht richtig um; wenn ich dann aber am Schreibtisch sitze, ich bin doch total erledigt. Ich aber soll denken, der Kopf soll denken, wissen Sie, was mir da einfällt? Das Meer unterdrückt bald sein eigenes Rauschen. (25)O-Ton(Rese29): Er konnte sich über den Baum, der in seinem Hof abgesägt werden sollte mit der selben Vehemenz aufregen oder einsetzen, wie er sich für die Rumänen einsetzte oder wie er sich über politische Zustände in der DDR erregte. Und ich glaube aus diesem tief in seiner Seele sitzenden Gefühl gegen Unrecht, kam auch so eine Kraft, Dinge mit so einer Schärfe zu sehen. (26)O-Ton(Ziller33): Und dann kam eben diese – muss ich mal wirklich sagen – Granate ”Villa Jugend”. (27)O-Ton(Hörspiel“Villa Jugend”34): Weiß der Teufel, wohin das noch führt. Warum sind Sie so schweigsam? Innerlich nimmt man schon Abschied. Bereuen Sie es denn? Ich? Nein! Ich bereue nichts! Für uns alle wird es ein Abenteuer. Eben, begießen wirs, Herr Neitzel. Auf das Abenteuer. Ich trinke nicht, danke. Wie, Sie trinken nicht. Man wird doch verrückt ohne. Sie müssen die Fundamente durchsägen. (28)O-Ton(Ziller35): Das war ‘89 im Juli, lernten sich bei mir zu Hause Marquardt und Seidel kennen. Und redeten und redeten und redeten. ... Jedenfalls von dem Tage ging das Gedrängel nach “dem Stück” – mehr wussten wir ja nicht, los. Wir wussten, es ist die mittlere Generation. Davon hatte der Georg dem Fritz erzählt. Und dann kurz vor Weihnachten kam das Stück. Dann haben wir das alle schnell gelesen und haben gesagt: Das machen wir. Und dann begann die zwar kurze aber intensive Zusammenarbeit mit Georg bis eigentlich zur letzten Lebensminute, was dann sehr kompliziert war. Weil er wußte, es ist nicht fertig, aber er wußte, er ist fertig. Und das war furchtbar. Sprecherin: „Villa Jugend“ erzählt die Geschichte eines Abschieds. Ein Lehrer und Bürgermeister verkauft nach einem Selbstmordversuch sein Haus, weil er mit seiner Frau in eine andere Stadt gehen will. Sie hat seinerzeit der Familie zuliebe auf die Pianistinnen-Laufbahn verzichtet und wurde auch Lehrerin. Nun aber folgt sie ihrem Mann nicht mehr. Sie stirbt, wie es im Text heißt, an Gram. Sprecher: Die Villa, in der das Ehepaar mit ihren Kinder lebte, steht mit ihren verrotteten Fundamenten für das ganze Land. Eine böse, eine gnadenlose Abrechnung mit der DDR. Sprecherin: Karl-Heinz Liefers besorgte die Hörspielinszenierung im Deutschlandsender Kultur: (29)O-Ton(Hörspiel “Villa Jugend”36): Die haben das Haus verkauft und mir ist, als hätten sie unsere Kindheit gleich mit verkauft. Hier geht irgendwas zu Ende, was längst zu Ende ist. Aber jetzt merke ich es erst. Wir hatten doch eine sehr schöne Kindheit. Valeska, hatten wir eine schöne Kindheit? Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr! (30)O-Ton(Buhss37): In den letzten Jahren der DDR waren alle Chancen verspielt. Und eine dramatische Figur, die sich auf dem Boden dieses Landes bewegte, hatte keine Chancen mehr. Die Wirklichkeit ließ das nicht mehr zu. ... Da ist Seidel nur symptomatisch für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. ... Ich glaube das ist einfach, weil er es so sensibel erlebt hat und durchlebt hat, eine unausweichliche Konsequenz gewesen. (31)O-Ton(Hörspiel “Villa Jugend”38): Ein milder Abend. Bald zirpen wieder die Grillen. Hier gibt’s keine Grillen. Ich weiß, wo du herkommst. Was für ein Haus du gehabt hast. Wieso bist du in eine so dreckige Gegend gezogen? Hier verlernt man das Atmen. Hier verlernt man das Lachen. Hier gibt’s keinen Himmel, kein Blau. Nur besoffene Menschen. Neitzel, ich bin ein Schwein, weil ich noch funktioniere. (32)O-Ton(Buhss53): In Villa Jugend gibt es so viele berührende Momente, wo die Figuren an den Rand ihrer Möglichkeit kommen und das reflektieren und begreifen. ... Das Zarte in den Texten, dieses Kompendium an Schmerz und Leid, das verlangt von Schauspielern Fähigkeiten, die sehr viele nicht mehr haben oder verlernt haben oder ihnen zu wenig abgefordert wurde. Das ist es ja. Seidel ist ja nicht spektakulär. Sondern die Figuren haben ihr Zentrum, ihre Zerbrechlichkeit und ihre ungeheure Gefährdung. Und zum Teil ist die sogar wortlos. Sprecherin: Als “Villa Jugend” schließlich im Herbst 1990 am Berliner Ensemble in der Inszenierung von Fritz Marquardt uraufgeführt wird, ist Georg Seidel bereits tot. Zitator: Ich begreife nicht, was ich aus mir gemacht habe, wie das geworden ist, was Ich zu sich sagt. Ich begreife nicht Welt und was das ist Luft, das die Flugzeuge trägt, Düsenjäger, ich kann mein Leben nicht mehr verändern, ich liege im Sterben, aber kann man mich nicht noch einmal herausreißen, dieses Ende, anders, anders und andere Anfänge, eine andere Mitte, andere Schlußstriche, ich war auf dem Konservatorium, ich liebte die schwarzen Tasten, die weißen Tasten, ich will diese Erinnerung nicht, ich bin hier zu Hause, was ich gemacht habe, ich habe meine Personenkennzahl als Telefonnummer benutzt, ein Großhandel meldete sich, ein Großhandel für Plastwaren und Gummi. (33)O-Ton(Elisabeth Seidel41): Also er hat nie geklagt, über Schmerzen schon, weil er die ja auch hatte. Aber sonst habe ich ihn nie so ganz verzweifelt gesehen. Nur ein Mal. Das war schon kurz vor seinem Tod. Es kamen Freunde zu Besuch. Und da ich sehr angebunden war, wollte ich diese Anwesenheit der Freunde nutzen, um ... irgendwas zu besorgen. Und ich ging ‘runter. Es war Juni, und es blühten diese großen Holunderdolden, diese weißen Teller. Und ich dachte: Ach. Er war ja so ein Geruchsmensch. Das ist so richtig eine Junipflanze. Nimmst ihm einfach so einen Teller mit hoch. Und gab ihm die, als ich wieder hochkam. Und mit dieser Dolde muss es ihm so schlagartig klargeworden sein: Das ist zum letzten Mal, dass du das erlebst. Und da sagte er auf einmal: Geht raus, geht alle raus. Er wollte wohl einfach nicht zeigen, wie schwer ihm das wurde. ... Da hatte er den Tod vor Augen. ... Er rief uns dann aber wieder rein. Er hatte sich schnell wieder gefangen. Aber das war der einzigste Moment der Schwäche, die ich bei ihm erlebt habe. (34)O-Ton(Liebmann42): Als du starbst, warst du selbst so alt wie deine Figuren. Alles brach auseinander, das ganze Land, in dem wir so lange gelebt hatten. Und das Stück war immer noch nicht fertig. ... Erinnerst du dich an die vielen Gespräche: Aushalten. Es ist nicht zum Aushalten. Und was gerade wieder passiert war, die Posten vor dem Haus in deiner Straße. ... Manchmal über längere Zeit dasselbe Gesicht am offenen Fenster im Haus gegenüber. Lacht und betrachtet dich. Dich in deinem Haus, mich in meinem. Und gemeinsam reden wir drüber. Aushalten. Das wolltest du. Zitator: Wie kann es eine Zeit geben, eine neue Zeit. ... Neu, da lächele ich nur, neu, die Zeit wird nur bewegt mit anderen Instrumenten, das ist Geschichte. Zog man gestern noch Pferdewagen in die Schlacht, werden morgen Rechenautomaten mit Helikoptern an die Front fliegen, die Front ist in den Köpfen der Menschen, es lebe das neue Gehirntier, es lebe die Damenstrumpfhose als Maske gegen den Atomblitz. Spielt Lotto und gewinnt eine Reise zum Mars. (35)O-Ton(Buhss44): Georg war einer, der, wenn die Kacke in der DDR noch weiter gestunken hätte und noch länger gedauert hätte, hätte er es noch ausgehalten, gerade drum, weil der hätte es gar nicht fertiggebracht, aus der Scheiße zu fliehen und andere drinzulassen. ... Das war von vornherein klar, dass er das bis zum Schluß auskostet, deswegen glaube ich auch, dass es kein Zufall ist, dass er nicht einmal mehr den Tag der deutschen Einheit erlebt hat. ... Sein Leben ist die Nachkriegsentwicklung in diesem Teil Deutschlands, und die hat er aufgeschrieben. Und das Zusammenfallen dieser Zäsuren – ich meine das auch gar nicht mystisch – ich glaube einfach, dass ein angelegter, biologischer Krankheitsprozeß durch so einen äußeren Begleitumstand einfach forciert wird. Die Ereignisse sich so reinzuholen – das sah man ihm ja auch an – wie er sowohl von seiner Krankheit, als auch von seinem Erleben zerfressen wurde. Zitator: Das ist meine Heimat, verstehst du, meine Heimat, hier, hier, hier, und überall hier, das ist meine Heimat, da geh ich nicht weg, da geht keiner weg, wenn er nicht muss, verstehst, ich bin hier zu Hausse, das ist meine Heimat, ich geh ins Theater, ich gehe ins Kino, ich gehe überall hin, aber ich gehe nicht weg, ich kann hier nicht weg, niemals kann ich, irgendwohingehn, das ist nicht weggehn verstehst du, weggehn ist Fremde, ich, wie soll eine Fremde, eine sich Fremde es aushalten in der Fremde, versteh mich, weil ich mir fremd bin, darum kann ich nicht weg, niemals. Überall die, die sich nicht zufriedengeben, die mehr wollen, mich auch noch, wohin der Wagen, in welche Grube, auf welchem Paß soll ich erfrieren, ist Glück eine Leidenschaft, oder ist Glück ein Gefühl, jetzt will ich philosophieren, aus Angst vor dem Leben fange ich an zu philosophieren. Regie: Musikakzent (36)O-Ton(Elisabeth Seidel43): Er hatte so eine Heiterkeit. Er hat immer auch Witze gemacht. Und ich weiß, dass eine Kollegin noch kurz vor seinem Tod kam, drei Tage vor seinem Tod, eine Dramatiker-Kollegin. ... Elfriede Müller. Und die kam mit guten Sachen. So ein bißchen Wein und er freute sich so und sagte: Elfriede ist gekommen. Wir müssen mit Elfriede ein Fest feiern. Und wir beiden Frauen haben in der Küche gesessen und geheult. Und haben gesagt: Jetzt müssen wir irgendwas machen. Also ein schönes kleines Tischchen und mit ihm lustig sein. Und das war auch noch richtig gut. Sprecher: Am 3. Juni 1990 erlag Georg Seidel seinem Krebsleiden. (37)O-Ton(Georg Seidel45): Wir haben in diesem Leben kein Glück. Zieht man auf dem Rummel ein Los – das meiste sind Nieten. Geht man zum Frühlingsball und will mit der Serviererin vom Bahnhofsbüfett tanzen, was sagen sie zu mir? Solche wie Ihr, die sind mir zu viereckig, ja, viereckig. Alles entzieht sich. Das ist meine Erfahrung. Lieben kann man am Ende nur noch sich selber. Sprecherin: Postum erschien von Georg Seidel der Erzählband „In seiner Freizeit las der Angeklagte Märchen“. Das Buch enthält pointierte Prosaminiaturen, die weitgehend auf eine Story verzichten. Manche wirken wie Figurenskizzen, andere wie Traumsequenzen, wieder andere wie Spottverse. Gemeinsam ist ihnen die unglaubliche Kraft, mit der sie den falschen Schein der Normalität wegwischen, ihn auflösen in einem befreienden Lachen. Zitator: Ein Mann lag im Bett, um zu denken. Aber er wusste nicht, was er denken sollte. Einschlafen konnte er auch nicht. Seine Frau, die ihm vielleicht ein tröstendes Wort gesagt hätte, war noch auf der Parteiversammlung. Zum Glück, sagte der Mann, tut mir das Kreuz weh, so ist wenigstens was. Sprecher: Vierunddreißig Kurzerzählungen hatte Seidel noch zu Lebzeiten unter dem Titel „Register“ zur Veröffentlichung bestimmt. Seidels Witwe Elisabeth gab dann zusammen mit Irina Liebmann das Buch bei Kiepenheuer und Witsch heraus: (38)O-Ton(Elisabeth Seidel54): Was ich gefunden hab, das sind ganz viele Papiere in völlig chaotischem Zustand. Ich hab das alles in Gemüsekisten gepackt so wie es kam, und ich muss eigentlich Blatt für Blatt ansehen und einem Gebiet dann zuordnen. Und dies war nur, weil wir gerne diese Register veröffentlichen wollten und ich beim Durchsehen eines Stapels schon auf so viel gestoßen bin, haben wir das gleich genutzt, und haben gemeint, wir könnten daraus ein Buch machen. Aber es ist noch ganz viel Unbearbeitetes. Zitator: Die Gasthausgeschichte endet so: Das Gasthaus zum Braunen Hirsch, das schon lange kein beliebtes Ausflugslokal mehr ist, weil es ein verstopftes Pissbecken hat, wurde vom Volksmund umgetauft in Grüne Kuh. Der gesunde Menschenverstand, der viele Doppelzentner Gehirn auf die Waage bringt, dichtete: In der Grünen Kuh, ist das Toilettenrohr zu. Daraufhin wurde das Gasthaus ganz geschlossen, was eine gewisse Frau Hoyer sehr ärgert, denn sie hatte an das Gasthaus immer Petersilie verkauft. Sprecherin: Im April 1992 wurde Seidels nachgelassenes Stück „Friedensfeier“ in Graz uraufgeführt, das die zufällige Erschießung des Komponisten Anton Webern von einem amerikanischen Soldaten Monate nach Kriegsende, zum Thema hat. Ab Mitte der neunziger Jahre verschwanden Seidels Stücke von den deutschen Spielplänen. Sprecher: Auch sein Buch „In der Freizeit las der Angeklagte Märchen“ ist mittlerweile vergriffen. (39)O-Ton(Georg Seidel46): Bücher! Hat man denn, frag ich, immer die richtigen? Ist es denn die richtige Wahrheit, in die man sich vertieft? Nein. Lesen macht müde. Und das Auge blind. Der Körper wird träge. Und Weisheit macht insgesamt auch nur verdrießlich. Aber das alles ist auch schon gesagt. Denkt man sich Neues, hat man Angst, es auszusprechen. Mut fehlt. Wozu auch? Das Neue ist nicht immer gut. Neu oder nicht neu. Es bleibt eh alles beim Alten. Da, wo die Sonne aufgeht, geht sie nicht unter. Steht man Kopf, steht man nicht auf den Füßen, wer tot ist, der landet im Grab. Die Krankenhäuser – die Kranken werden in Irrenhäuser gesteckt. Und will man sich aus der Welt hungern, kommt die Fürsorge und stopft dir das Maul. Was soll bloß werden? Gibt man uns Schläge, werden wir störrisch, gibt man uns keine, werden wir faul. Ist zuviel Arbeit, dann wird gestöhnt, gibt’s keine, sterben wir vor Langeweile. In diesem Frieden – geh mal ins Theater – gedeihen die Dramen schlecht. Alles wird uns zugrunde richten. Aber dann wird man schon sehen. – Jetzt habe ich mich auch noch verlesen. Naja, gut. Regie: Musik hoch und aus.