COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitfragen, 15.07.2013 Der Champion Deutschland - Fluch oder Segen für Europa? Ein Feature von Caspar Dohmen Atmo 1.1 Fußball Tor-Tooooor. Arien Robben macht das Tor zum 2 zu 1 Atmo Fußballstadion unterlegen Sprecher Im Mai 2013 tragen zwei deutsche Mannschaften das Endspiel um die Krone des europäischen Fußballs aus - zum ersten Mal in der 58-jährigen Geschichte des Wettbewerbs. Es hat Symbolkraft das Bayern München und Borussia Dortmund gerade zu diesem Zeitpunkt die langjährige sportliche Vorherrschaft der englischen, spanischen und italienischen Clubs brechen. Sprecherin Denn Deutschland dominiert schon mit einem Viertel der industriellen Wertschöpfung die Wirtschaft der Europäischen Union und seitdem andere Volkswirtschaften wie Italien, Frankreich oder Spanien schwächeln, gibt es eine politische Machtverschiebung. Sprecher Angela Merkel ist unangefochten Europas wichtigste Politikerin. Atmo 1.2 Fußball Lahm bei der Kanzlerin eine Umarmung, eine herzliche Umarmung. Sprecher Wohin entwickelt sich Europa? Die Beantwortung dieser Frage ist für die Regierungen in Washington, Delhi oder Beijing oft gleichbedeutend mit der Frage: Was wollen die Deutschen? Atmo 1.3 Fußball Jetzt bekommt Philipp Lahm den Pokal. 22.54 Uhr in London. Sprecherin Seit dem Ausbruch der Finanzkrise mischen sich Misstöne in das europäische Miteinander. Viele Bürger in den Krisenländern der EU geben Deutschland eine Mitschuld an ihrer Misere. Griechische Zeitungen drucken Cartoons in denen Angela Merkel das Land wie eine Marionette an Fäden dirigiert. Atmo Pfeifende Fußballfans Sprecher Deutschland sei die arroganteste Macht Europas, befinden im Frühling 2013 laut einer Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts PEW die Mehrheit der Bürger in Italien, Spanien, Polen, Tschechien und Griechenland. Deutschlands Rolle ist Gegenstand lebhafter Debatten. Atmo Sprechchor Stadion Sprecherin Das Land sei zu groß für Europa und zu klein für die Welt, formulierte einst der US- Politiker Henry Kissinger die deutsche Frage - sie ist zurück auf der politischen Agenda. So titelte das britische Magazin Economist im Juni 2013 mit dem "unwilligen Hegemon Deutschland". Fest steht aber auch: Ohne Berlin kann man den Karren Europa nicht flott machen. Sprecher vom Dienst Der Champion Deutschland - Fluch oder Segen für Europa? Ein Feature von Caspar Dohmen Atmo Ende Fußballstadion Sprecher Große Teile der deutschen Elite und Öffentlichkeit sind überzeugt: Sprecherin Wenn die Länder im Süden den Gürtel ordentlich enger schnallen. Sprecher Wenn sie sparen, mehr investieren und weniger konsumieren. Sprecherin Dann werden sie ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern und aus der Krise kommen. Sprecherin Hat Deutschland mit dieser Rezeptur nicht selbst sein ökonomisches Comeback geschafft? Sprecher Das stimmt - aber es ist nur ein Teil der Wahrheit. Atmo 2 Entfremdete Europahymne unterlegen Sprecherin Denn Deutschlands Erfolg hat gravierende Nebenwirkungen für die Handelspartner, besonders in der Eurozone. Sprecher Das liegt an einer einfachen ökonomischen Gesetzmäßigkeit, auf die der britische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky in der Lounge eines Berliner Hotels hinweist. 1. O-Ton Richard Skidelsky But you have to pay in the end because it's... all economic transactions are two sided. Übersetzer Am Ende muss man bezahlen. Denn bei allen Geschäften gibt es zwei Seiten. Man kann auf Dauer nicht erfolgreich sein, wenn der Handelspartner keinen Erfolg hat. Denn er muss weiter deine Waren kaufen. Deswegen ist die Idee eines einzelnen erfolgreichen Landes in einer Union von Ländern das, was wir ein Oxymoron nennen. You can`t be successful if someone else is unsuccessful because they have to buy your staff and so the idea of a uniquely economically successful country in a union of countries is what we call an oxymoron. Sprecherin Unter einem Oxymoron versteht man einen Widerspruch in sich. Das deutsche Wirtschaftsmodell mit seinen hohen Überschüssen im Außenhandel wäre damit so etwas wie ein stummer Schrei, schwarze Milch oder Einheit in Vielfalt. Atmo 2 Entfremdete Europahymne aufblenden, kurz freistellen, überblenden zu Atmo 3 Fabrik einblenden/unterlegen 2. O-Ton Carsten Schwarzenberg Die Scheinwerfer, dass sehen sie an den Geräten werden immer komplexer, immer hochwertiger. Heutzutage sprechen wir einmal über Reflexionssysteme. Das sind dann hier beispielsweise die Reflektoren, die sie sehen, oder Projektionssysteme, wo die Lichtverteilung über Linsen abgebildet wird. Daneben haben wir Designelemente, das sehen sie ja in dem Audi A8 Scheinwerfer, wo es dann bei den ja Automobilisten auch um ja sozusagen Corporate Design geht, Wiedererkennungswert, wenn sie ein Auto auf sich zukommen sehen oder halt auch hinter dem Fahrzeug herfahren. Sprecher Carsten Schwarzenberg trägt einen grauen Kittel, darauf das gelb-blaue Logo des Automobilzulieferers Hella aus dem nordrhein-westfälischen Lippstadt. Der Diplom- Ingenieur steht in einem Vorraum des Werks 2 und zeigt auf eine Glasvitrine mit vier verschiedenen LED-Leuchten. Solche Scheinwerfer mit Leuchtdioden werden vor allem in Luxusautos eingebaut. Atmo 3 Fabrik kurz aufblenden und freistellen Sprecher Schwarzenberger betritt die Montagehalle C 10. In den Gängen fahren Gabelstapler containerweise Teile zu den Arbeitsplätzen von Menschen und Robotern. 3. O-Ton Carsten Schwarzenberg Die meisten Montagelinien - wenn wir jetzt hier einmal reinschauen - sind symmetrisch aufgebaut. Das heißt, wir haben eine Produktionslinie um linke Scheinwerfer, eine Produktionslinie um rechte Scheinwerfer herzustellen. Dabei gibt es verschiedene Arbeitsstationen, die im Prinzip immer auf so eine hoch automatisierte Klebefügezelle hinarbeiten. Sprecher Wer in globalen Märkten tätig ist, der muss sich anstrengen. Das gilt besonders für die Automobilzulieferer. Vor 15 Jahren gab es weltweit rund 30.000 selbständige Zulieferer, heute sind es nur noch rund 3000. Sprecherin Hella legt sich mächtig ins Zeug. Das Familienunternehmen stockte vergangenes Geschäftsjahr die Investitionen um 39 Prozent auf 430 Millionen Euro auf. Fast ein Fünftel der 29.000 Mitarbeiter arbeitet in der Forschung und Entwicklung - mit Erfolg. Die Nase vorne hatte die Firma bei der Entwicklung von LED-Scheinwerfer. 4. O-Ton Rolf Breidenbach Gut für uns ist ja immer das Verhältnis zwischen Lohnentwicklung und Produktivitätsentwicklung entscheidend. Und da haben wir über einen langen Zeitraum in Deutschland eine sehr positive Entwicklung gesehen. Sprecher Rolf Breidenbach führt das Traditionsunternehmen mit 70 Standorten in 30 Ländern. Er sitzt in einem schlichten Besprechungsraum und schildert die Herausforderung: 1500 bis 2000 Wettbewerber gebe es je nach Produktfeld und deswegen sei das A und O für die Firma die Wettbewerbsfähigkeit. Aus Sicht des Unternehmens gab es hier zu Lande Fortschritte. 5. O-Ton Rolf Breidenbach Das heißt also, was die Entwicklung der Faktorkosten angeht, hat sich Deutschland im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten sehr positiv entwickelt und das haben wir natürlich auch gemerkt. Also, unsere Möglichkeiten Wertschöpfung in Deutschland darzustellen, hat sich sehr positiv entwickelt in, ich sage mal einem Zeitraum der letzten zehn Jahre vielleicht. Sprecher Mit positiven Konsequenzen. 6. O-Ton Rolf Breidenbach Also die gesamte Basis, Innovationsarbeit, die Vorentwicklungsarbeit, die ersten Produkte wurden hier am Standort entwickelt und wir sind natürlich sehr, sehr froh, dass man in einem solch hoch umkämpften Markt wie dem Zulieferermarkt, solche Dinge auch noch komplett in Deutschland darstellen kann. Sprecherin Es gibt viele Hellas in Deutschland, ob Automobilzulieferer, Maschinenbauer oder sonstige Spezialisten. Dass sie konkurrenzfähige Produkte für den Weltmarkt in Deutschland produzieren und nicht wie beispielsweise fast die gesamte Textilindustrie oder Unterhaltungselektronik in Billiglohnländer abgewandert sind, ist keine Selbstverständlichkeit. Vorangegangen ist ein gesellschaftlicher Kraftakt. Er hat eine weitgehende Deindustrialisierung Deutschlands verhindert, wie sie beispielsweise in Großbritannien stattgefunden hat. Atmo 3 Demonstration Sprecher Mitte der neunziger Jahre ist die Euphorie über die Wiedervereinigung in Deutschland verflogen. 7. O-Ton Roman Herzog Was ist los mit unserem Land? Sprecherin Unternehmen verlagern Teile ihrer Produktion und Jobs nach Osteuropa. Sprecher Die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen steigt auf vier Millionen. Sprecherin Die junge Berliner Republik ist Schlusslicht beim Wachstum in Europa. Sprecher Das US-Magazin Newsweek spricht von der "deutschen Krankheit". Sprecherin Bundespräsident Roman Herzog trägt im Berliner Hotel Adlon am 26. April 1997 seine Sicht der Lage vor. 8. O-Ton Roman Herzog Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression - das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang, aber einen Dreiklang in Moll. Sprecherin Er fordert drastische Änderungen. 9. O-Ton Roman Herzog Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen: Sprecherin Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften geben sich einen Ruck und schließen ein "Bündnis für Arbeit". Sie wollen gemeinsam Jobs schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen verbessern. Noch stärker beflügelte die Agenda 2010 der rot- grünen Bundesregierung die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Sprecherin 2 Die Wirtschaft wird dereguliert. Sprecher Das Steuersystem reformiert. Sprecherin Der Arbeitsmarkt umgebaut. Atmo 4 Song Demo Berlin Schon Wahnsinn, schon Wahnsinn. Der Standort BRD. Wenn ein Ruck durch unser Land geht und man sitzt im ICE. Und das Gerede von den Renten, was sollen die Prognosen. Das wird schon alles irgendwie, auch die Arbeitslosen. Das regelt schon der Bahr ja klar. Das renkt sich alles ein und außerdem, es müssen ja nicht alle glücklich sein. Schon Wahnsinn. Schon Wahnsinn, der Standort BRD. Wenn ein Ruck durch unser Land geht und man sitzt im ICE. Sprecher Die Agenda wirkt. Sprecherin Die Arbeitslosigkeit sinkt von elf auf unter sechs Prozent. Sprecher Die Jugendarbeitslosigkeit liegt heute in Deutschland bei acht Prozent, in Europa ist sie dreimal so hoch. Sprecherin Deutschland hält auf dem stark wachsenden Weltmarkt seinen Anteil von knapp sechs Prozent, verkauft also absolut betrachtet, immer mehr Güter. Das gelingt keinem anderen früh industrialisierten Land. Sprecher Fette Jahre 10. O-Ton Dirk Heilmann Die sehen so aus, dass der Wohlstand in Deutschland wächst, also vor allem der Wohlstand pro Kopf auch wächst. Dass wir ein nachhaltiges Wachstum haben. Dass wir eine Phase haben, in der wir Vollbeschäftigung haben werden. Sprecher Dirk Heilmann - Chefökonom bei der Wirtschaftstageszeitung Handelsblatt - beschreibt die guten Aussichten Deutschlands auch wegen der Weichenstellung durch die Agenda-Politik in dem Buch "Fette Jahre". 11. O-Ton Dirk Heilmann Das wir dadurch Möglichkeiten haben werden, in Bildung zu investieren und Möglichkeiten haben werden, auch noch mal Dinge zu verändern, in Richtung soziale Gerechtigkeit, also sozusagen, dafür zu sorgen, dass an den Erträgen der Globalisierung, die die deutschen Unternehmen sehr reichlich einfahren, möglichst die ganze Bevölkerung teilhat. Atmo Demo Sprecherin Eine Erfolgsgeschichte für viele. Aber es gibt auch eine Schattenseite. 12. O-Ton Thomas Händel Ich habe das selber in Betrieben erlebt. Beschäftigte, die Angst haben vor Arbeitsplatzverlust und dem Absturz in Arbeitslosengeld II, sind nicht so bereit für weitere Lohnsteigerungen, auch wenn sie ökonomisch möglich wären zu kämpfen. Das war immer ein Problem, das wir hatten in den letzten Jahren und diese Phase muss glaube ich in den Gewerkschaften gut aufgearbeitet werden, um sie zu überwinden. Sprecher Fordert der Linken-Europaparlamentarier Thomas Händel, der früher die IG Metall in Fürth führte. Eine Schieflage in puncto Gerechtigkeit sehen auch viele Bürger in Deutschland und protestieren, wiederholt im Rahmen einer von diversen NGOs getragenen einjährigen Kampagne zum Thema Um-fair-teilen. Darunter ist auch die Attac-Aktivistin Nicole Drehe. 13. O-Ton Nicole Drehe Es gab irgendwie durch die Agenda 2010 einen ziemlichen Kurswechsel politisch und danach ging es immer so scheibchenweise weiter. Aber wenn wir die Studien, die es dazu gibt, was Lohnpolitik etc. betrifft, sind wir ziemlich schlecht dran. Die Menschen die jetzt von Armut betroffen sind, oder gefährdet sind, arm zu werden, dass ist im europäischen Vergleich, da sind wir mit Deutschland ziemlich weit vorne. Sprecherin Etwa jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeitet mittlerweile im Niedriglohnsektor. Der Anteil ist damit nur etwas geringer als in den USA und etwa genauso hoch wie in England. In Frankreich ist der Anteil von Beschäftigten mit geringen Löhnen dagegen nur halb so hoch. Für einen Großteil der Menschen in Deutschland stagnierte der Lebensstandard. Die Vermögensverteilung ist höchst ungleich. Das alles gehört zur Kehrseite des erfolgreichen Wirtschaftsmodells Deutschland. Sprecher Angela Merkel drängt Europa trotzdem dem deutschen Modell zu folgen. Sie ist überzeugt davon, dass der Alte Kontinent reformiert werden muss. Anhand von drei Zahlen macht sie dies gerne deutlich, auch 14. O-Ton Angela Merkel Europa hat heute noch etwa sieben Prozent der Weltbevölkerung. Europa hat knapp, wenn das Wirtschaftswachstum wieder etwas in Gang kommt, vielleicht wieder so 25 Prozent des Weltinlandsprodukts der Erde und Europa hat 50 Prozent der Sozialausgaben. Sprecher Europa muss sich aus Sicht der Kanzlerin mächtig anstrengen, um sich dies auch künftig leisten zu können. Deutlich formuliert sie ihre europäische Agenda bei dem Davoser Treffen der Wirtschaftselite Anfang 2013. Sie will den Alten Kontinent auf Wettbewerbsfähigkeit trimmen. 15. O-Ton Angela Merkel Ich stelle mir das so vor - und darüber sprechen wir jetzt in der Europäischen Union - , dass wir analog zum Fiskalpakt einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit machen, in dem die Nationalstaaten Abkommen, Verträge mit der Kommission schließen, wo sie sich jeweils sozusagen verpflichten, Elemente der Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die noch nicht dem notwendigen Stand der Wettbewerbsfähigkeit in diesen Ländern entsprechen. Dabei wird es oft um Dinge gehen wie Lohnzusatzkosten, Lohnstückkosten, Forschungsausgaben, Infrastrukturausgaben, die Effizienz der Verwaltungen. 16. Atmo-O-Ton Veranstaltung Rosa Luxemburg Stiftung Ja, dann begrüße ich euch heute alle herzlich zu unserer Veranstaltung heute. Wir haben eine relativ dramatische Situation im Hintergrund, warum wir das auch veranstalten. Man kann wirklich davon reden, dass die Verzweiflung in den Krisenländern wächst und natürlich auch in der Bundesrepublik die Zustimmung zum europäischen Projekt zu bröckeln beginnt. Sprecher Der Kurs der Bundeskanzlerin stößt auf Widerstand bei den Teilnehmern einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Haltung der Linken in der Eurokrise. Aus Athen ist der Ökonom Theodoros Paraskevopoulos angereist. In den sechziger Jahren studierte er Wirtschaft an der Kieler Universität. Heute berät er die linke Partei SYRIZA in Griechenland in Wirtschaftsfragen. 17. O-Ton Theodoros Paraskevopoulos Die Agenda 2010, das war eine Politik, die in der Konstruktion der Europäischen Währungsunion passte. Und die wird jetzt überall in Europa durchgesetzt. Und dagegen müssen wir etwas tun, weil das zum Schluss Europa vernichten wird. Sprecher Die Agendapolitik lehnt er als neoliberalen Politikansatz ab. 18. O-Ton Theodoros Paraskevopoulos Das ist eine Politik, die sich von Anfang an gegen den kleinen Mann gerichtet hat, auch in Deutschland. Sprecher Natürlich wehren sich diejenigen, die etwas zu verlieren haben. Aber jenseits von Gerechtigkeit stellt sich die Frage, ob die Übertragung des deutschen Wirtschaftsmodells auf die anderen Eurostaaten wirtschaftlich sinnvoll ist? Atmo Fabrik Sprecherin Made in Germany ist gefragt: Spezialmaschinen, elektrotechnische Erzeugnisse, Chemikalien und Fahrzeuge gehen weg wie geschnitten Brot. Maschinen und Elektrotechnik zählen in den vier dynamischen Schwellenländern Brasilien, Russland, Indien und China zu den wichtigsten Importgütern. Können die anderen Länder - insbesondere in Europa - erfolgreiche deutsche Wirtschaftsstrukturen kopieren. Der Ökonom Michael Hüther, Leiter des arbeitgebernahen Instituts der Wirtschaft in Köln, ist skeptisch. 19. O-Ton Michael Hüther Man kann volkswirtschaftlichen Strukturwandel nicht wirklich einfach kopieren, denn das, was ich mit dem historischen Rückblick andeute, heißt ja, es gibt Pfadabhängigkeiten. Irgendwann machen sie mal eine Wegbiegung anders als die anderen oder sie haben nie so begonnen, Frankreich war nie stark industrialisiert. 1970 als Deutschland 40 Prozent Industrieanteil hatte war der in Frankreich bei 25. Das holt man dann nicht irgendwie auf, vor allem, wenn es nicht in der Fläche unterlegt ist, wenn es nicht in regionalen Clustern und Netzwerken unterlegt ist. Deswegen ist das sehr, sehr schwierig. Sprecher Idealerweise sollte eine fortschrittliche Volkswirtschaft wie Deutschland ihre Wettbewerbsposition durch Innovationen verteidigen, also ganz im Sinne des Ökonomen Josef Schumpeter, der diesen Prozess der schöpferischen Zerstörung als konstitutives Element des Kapitalismus bezeichnet hat. So verdrängte das Auto die Pferdekutsche, der Computer die Schreibmaschine oder das MP3-Format die CD. Sprecherin Die deutsche Volkswirtschaft schneidet in puncto Innovation jedoch vergleichsweise schwach ab. 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts flossen 1991 in Forschung und Entwicklung - heute sind es weniger als 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deutschland ist das Schlusslicht unter den größten sieben Industrieländern. Sprecher Für den jüngsten Erfolg Deutschlands auf den Weltmärkten sind zwei Faktoren sehr wesentlich: Die Einführung des Euro und Zurückhaltung bei Löhnen. Thomas Händel: 20. O-Ton Thomas Händel Dieses Bündnis für Arbeit hat aber zu einer lang anhaltenden lohnpolitischen Zurückhaltung geführt, in der die Produktivitätsspielräume, die Verteilungsspielräume, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, nicht ausgeschöpft wurden. Sprecherin Davon haben deutsche Exporteure profitiert. Aber was bedeutet dies für das Verhältnis zwischen Handel treibenden Volkswirtschaften? Sprecher 2 Heiner Flassbeck war bis vor kurzem Chefvolkswirt bei der UNO-Organisation für Handel und Entwicklung UNCTAD. Er beschreibt wie die Reallöhne - also der Lohn nach Abzug der Inflation - zwischen 2001 und 2011 in Deutschland stagnierten. Er erläutert wie gleichzeitig Beschäftigte in anderen Ländern höhere Löhne durchsetzten. Der Wettbewerbsvorteil Deutschlands... 21. O-Ton Heiner Flassbeck ...der liegt in der Größenordnung zwischen 20 und 40 Prozent, zwischen 20 und 40 Prozent, selbst gegenüber Frankreich sind es 20 Prozent und das ist in einer Währungsunion absolut tödlich, weil die anderen Länder praktisch keine Möglichkeit haben, ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen, was sie tun müssen, weil sie sonst permanent Marktanteile verlieren und permanent noch mehr Schulden machen würden. Sprecherin Seit der Einführung des Euro ist ein wichtiger Anpassungsmechanismus zwischen den beteiligten Ländern der Währungsunion weggefallen. Die Länder verfügen nicht mehr über eine eigene Währung, die sie auf- oder abwerten können. Zuvor hatten Weichwährungsländer wie Frankreich, Spanien oder Italien regelmäßig Franc, Peseta oder Lira gegenüber der D-Mark abgewertet. Das verschaffte heimischen Firmen Luft, weil deren Produkte nun vergleichsweise billiger waren als die deutschen Produkte. Diese Anpassung ist in der Eurozone Geschichte. Seit der Gründung der Währungsunion hat Deutschland seine Exporte auf knapp eine Billion Euro verdoppelt. Gerne feiert sich Deutschland als Exportweltmeister. Atmo 4 Song Demo Berlin Schon Wahnsinn, schon Wahnsinn. Der Standort BRD. Wenn ein Ruck durch unser Land geht und man sitzt im ICE. Atmo Startschuss Sprecher Unternehmen müssen im Konkurrenzkampf auf ihre Kosten achten. Sprecherin Aber taugt diese Idee auch für den Umgang von Staaten? Schließlich sprechen Unternehmer, Politiker, Professoren und Journalisten häufig vom Standortwettbewerb und vergleichen Steuern, Löhne, Sozialabgaben und Produktivität. Sprecher Die Rede ist vom "Wettkampf der Nationen". Es geht um Weltmeister, Mittelmaß und rote Laternen. Dabei ist selten die Rede davon, dass die Idee vom Wettbewerb der Nationen höchst fragwürdig ist. Heiner Flassbeck: 22. O-Ton Heiner Flassbeck Wettbewerbsfähigkeit ist ein relatives Konzept und man kann es immer nur gegen jemand werden. Alle können nicht wettbewerbsfähiger werden. Alle können produktiver werden, also ihre Lebensverhältnisse verbessern. Aber gegen jemand wettbewerbsfähig werden, muss man immer einen Partner haben. Nicht alle können Leistungsbilanzüberschüsse haben, weil es muss einen Schuldner in der Welt geben. Sprecherin Jede Handelsbilanz hat eben zwei Seiten. Was eine Volkswirtschaft als Haben verbucht, ist für den Handelspartner ein Soll. Länder können logischerweise auf Dauer nur Handel miteinander betreiben, wenn am Ende des Tages diese Bilanz ausgeglichen ist. In der Eurozone mit ihren 17 Mitgliedsstaaten ist das nicht in Sicht. Deutschland ist enteilt. Die Defizitländer müssen aber auf Dauer Marktanteile zurückerobern, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Versperrt sei ihnen der deutsche Weg, sagt Flassbeck. 23. O-Ton Heiner Flassbeck Dass ist ein Modell, was einmal funktionieren kann, was sich aber nie mehr wiederholen lassen wird, weil der gesamte Zuwachs in Deutschland kam alles vom Export, von den Exportüberschüssen, das heißt zu Lasten vor allem der anderen Europäer und zu Lasten des Restes der Welt. Und der Rest der Welt hat sich verschuldet, um deutsche Güter zu kaufen. Das ist ein Modell, wie gesagt, was erstens nicht nachhaltig ist, was niemals auf Dauer funktionieren kann, und was ja auch gerade zu Ende geht, weil die Schuldner ja alle gegen die Wand gefahren sind. Zitator 2 Ich bezweifele (...), dass sich die deutsche Bundeskanzlerin darüber im Klaren ist, dass wir Deutschen pro Jahr einen Leistungsbilanzüberschuss von 240 Milliarden Euro erzeugen. Ganz genau 237 Milliarden Euro letztes Jahr. Das ist der größte Zahlungsbilanzüberschuss, den irgendeine Nation auf der ganzen Welt erzeugt. (...) Ich bin der Meinung, wir müssen ihn wirklich abbauen. Sonst werden andere ihn abbauen, auf die Weise, die ihren Interessen dient. Sprecherin Mahnt Altkanzler Helmut Schmidt im Juni 2013 in einem Handelsblatt-Interview. Er erinnert an das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft. Als gleichberechtigte Ziele zählt es neben Preisniveaustabilität, hohem Beschäftigungsstand ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei angemessenem und stetigem Wirtschaftswachstum auf. Vom außenwirtschaftlichen Gleichgewicht sei Deutschland weit entfernt, kritisiert Schmidt. Er empfiehlt zur Reduzierung des Ungleichgewichts eine Anhebung von Löhnen und Gehältern in Deutschland. Sprecher Und die Arbeitnehmer drängen ebenfalls. Überhaupt wollen viele Beschäftigte nach Jahren lohnpolitischer Zurückhaltung stärker an den Früchten der Unternehmenserfolge beteiligt werden. Hella-Chef Rolf Breidenbach äußert dafür Verständnis, macht aber gleich eine Einschränkung. 24. O-Ton Rolf Breidenbach Auch diese Hochtechnologieprodukte müssen zu wettbewerbsfähigen Konditionen angeboten werden. Das heißt, das eine geht nicht ohne das andere. Vielleicht tritt für einen ganz, ganz kurzen Zeitraum einmal die Situation ein, dass man ein Hochtechnologieprodukt entwickelt, wo man in der ersten Produktgeneration nicht so hundertprozentig auf die Kosten gucken muss. Das ändert sich aber schlagartig spätestens mit der zweiten Generation, wo wieder alles stimmen muss, die Qualität vorne dran, dann aber auch die Kostenposition und die Technologie. Sprecherin Deutliche Lohnerhöhungen gab es nicht. IG Metall und Arbeitergeber einigten sich auf ein Plus von 3,4 Prozent für die kommenden zwölf Monate und weitere 2,2 Prozent für die folgenden acht Monate. Möglicherweise kommt es 2013 sogar wieder zu einem Reallohnverlust aller Beschäftigten in Deutschland. Sprecher Die Anpassung der Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Volkswirtschaften erfolgt stattdessen über sinkende Arbeitskosten in den Krisenländern. Auf Druck der Troika aus EZB, EU- Kommission und Internationalem Währungsfonds handeln die Regierungen. Sprecherin Was das konkret bedeutet hat Knut Giesler - IG Metall-Chef in Nordrhein-Westfalen - kürzlich in Spanien gesehen. 25. O-Ton Knut Giesler Also erst einmal erschreckt es mich, dass eine spanische Regierung es als Lösung sieht, Eingriffe in das Tarifgeschehen eines Landes zu machen. Und das passiert ja genau in Spanien. Das heißt, dass ein Arbeitgeber einseitig die Tarife ändern kann, wenn er meint, es geht einem nicht gut. Das führt dazu, dass wir wirklich zu massiven Lohnsenkungen in der spanischen Industrie kommen. Sprecherin Die Zahl gültiger Tarifverträge habe sich binnen zwei Jahren halbiert, weil die Regierung de facto den uneingeschränkten Vorrang betrieblicher Vereinbarungen festgeschrieben habe, kritisiert Giesler. Der Widerstand in den Betrieben ist gering. 26. O-Ton Knut Giesler Aber es ist natürlich auch klar, dass Kolleginnen und Kollegen, die massiv unter Druck stehen, natürlich viel eher zu Zugeständnissen bereit sind, und das muss man dann einfach auch sehen, wenn in Spanien, wenn in einer Region eine Arbeitslosigkeit von 30, 40 Prozent ist, dort ein Industriewerk ist, dass das Erpressungspotenzial für diese Menschen extrem hoch ist und das die dann versuchen noch in dieser Situation zu retten, was zu retten ist, ist nachvollziehbar. Sprecherin Giesler hält diese Entwicklung für gefährlich: 27. O-Ton Knut Giesler Spanien ist nicht das klassische Niedriglohnland. Ich kann auch in Spanien nicht einfach versuchen, die Prozesse einfach mal ein bisschen billiger zu machen, da kann ich kurzfristig was mit erreichen, aber es bleibt dabei: Ich muss, wenn ich eine Wohlstandsgesellschaft haben will, dann muss ich Arbeitsplätze schaffen, die nachhaltig sind. Ich muss Arbeitsplätze schaffen, die nicht immer bei jedem ersten Kostendruck in ein nächst billigeres Land verlagert werden. Sprecher Jetzt droht eine Abwärtsspirale in den Euroländern, die sich am Ende auch auf die Beschäftigten in Deutschland auswirken könnte. Sprecherin Es ist höchste Zeit, dass Deutschland umfassender über sein Wirtschaftsmodell und dessen Folgen für seine Handelspartner nachdenkt. Korrekturen am Geschäftsmodell der Deutschland AG können Europa helfen und den Menschen hier zu Lande. Statt auf Wettbewerbsvorteile durch niedrige Löhne könnte Deutschland auf Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation setzen. Und Deutschland sollte seine fetten Jahre nutzen. Es macht Sinn Geld auszugeben: Bei Forschung und Entwicklung genauso wie für die öffentliche Infrastruktur oder private Konsumausgaben. Vielleicht muss man ein Außenstehender sein, um die Rolle Deutschlands so nüchtern auf den Punkt bringen zu können wie der britische Ökonom Skidelsky. 28. O-Ton Richard Skidelsky I can see the german point of view. Übersetzer Ich kann die deutsche Sichtweise verstehen. Sie sind innerhalb der Eurozone die erfolgreichste Wirtschaft, und natürlich sträuben sie sich dagegen, für alle zu zahlen. There are very within in the eurozone uniquely successful economically and they are a natural reluctance to pay for everyone else. Sprecher Doch er ist fest davon überzeugt, dass Deutschland den einseitigen Spar- und Austeritätskurs verlassen muss, wenn die Eurozone wieder Erfolg haben soll. Er verweist wiederum auf eine ökonomische Gesetzmäßigkeit: 29. O-Ton Richard Skidelsky Everyone has to be successful, relatively, it`s a relitive thing. I mean of course some will be a little more successful. But you can`t have one country or three countries that are very successful and everyone else is floundering around. Übersetzer Alle müssen relativ Erfolg haben, es ist eine relative Sache. Es kann nicht ein oder drei sehr erfolgreiche Länder geben und alle anderen strampeln. Logischerweise müssen entweder die erfolgreichen Länder für die anderen bezahlen, bis diese wieder erfolgreicher sind. Aber auf diesem Weg kommt man nur schrittweise voran. Oder aber die erfolgreichen Länder verlassen die Eurozone und suchen ihr Glück auf dem Weltmarkt. Sagen, das wollen wir. Und Griechenland, Spanien und Italien können ihr eigenes Ding machen. So, I mean logically, either successful countries have just to keep paying for the others until they can maybe become a bit more successful over time. But you can only go a small amount of way with that policy. Or the successful countries have to say: let's abandon the eurozone and we'll seek our fate in world market. That`s where we will go. And Greece and Spain and Italy, they can do their own thing. Sprecher/in v. Dienst: Der Champion Deutschland Fluch oder Segen für Europa von Caspar Dohmen Es sprachen: Ilka Teichmüller und Viktor Neumann Ton: Hermann Leppich Regie: Beatrix Ackers Redaktion Martin Hartwig Produktion Deutschradio Kultur 2013 1