COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. DeutschlandRadio Kultur Sendedatum 10.04.2014 Der Nahtod - Blick in die andere Welt oder Halluzination des sterbenden Gehirns? Autorinnen: Susanne Billig und Petra Geist Musik 1 Schwebende Klänge 1 Z I T A T O R 1 Gilgamesch verließ diese Welt und kroch durch einen dunklen endlosen Tunnel. Schließlich sah er Licht und einen wunderschönen Garten. O-Ton 1 ALOIS SERWATY Da passierte irgendetwas, was ich nicht gewohnt war. Ich hatte das Gefühl, dass ich, ja, so halbhoch plötzlich im Operationssaal dort schwebte, vom Körper gelöst, also das, was mein Ich-Bewusstsein, meine Identität, mein Person-Sein ausmachte, das war offenkundig nicht mehr im Körper, sondern schwebte da irgendwo über der Operationsszene; und ich sah meinen Körper da unten liegen und auch die Ärzte, das Personal, das sich an diesem Körper dort zu schaffen machte. Z I T A T O R 2 Die Bäume trugen Perlen und Juwelen und ein wunderbares Licht sandte über alles seine Strahlen. O-Ton 2 SABINE MEHNE Und da passierte es eben, dass ich ganz, ganz plötzlich und überraschend meinen Körper verlassen habe und ich bin über den Kopf quasi aus mir ausgestiegen, und das ging so schnell und so leicht, dass ich selbst überrascht, ein Stück auch erschrocken war, aber am meisten auch glücklich war, weil ich kein Raum- und Zeitgefühl mehr hatte, und weil ich mit diesem wunderschönen Licht verschmolzen bin. Es war eine andere Form der Wahrnehmung, es war ein großer Frieden und eben diese bedingungslose Liebe - eine Liebe, die es auf der Erde einfach nicht gibt. Musik 2 Klänge verzerren Z I T A T O R 3 Gilgamesch wünschte im Jenseits zu bleiben. Aber der Sonnengott schickte ihn durch den Tunnel zurück in dieses Leben. O-Ton 3 SABINE MEHNE Und dann hat es auch wieder Peng gemacht: Ich war wieder durch den Kopf in den Körper; das habe ich allerdings als grässlich empfunden, als wie ein Hinein-gestopft-Werden in eine viel zu kleine Körperlichkeit. Es war ganz grässlich, diese Enge wieder zu spüren und natürlich auch diesen großen Schmerz, den ich dann wieder empfinden musste. AUTORIN 1 Das Gilgamesch-Epos, fast zweieinhalbtausend Jahr alt, zwei Menschen heute. Ihre Erfahrungen - erstaunlich ähnlich: Ein Tunnel, an dessen Ende Licht erstrahlt. Eine nicht in Worte zu fassende, überströmende Liebe. Das Ich, das aus dem Körper tritt, im Raum schwebt. Hyperrealistisch fühlt sich diese Reise an - bis der Reisende an eine Grenze stößt und zurückkehrt in den Körper und das Leben. Musik 3 Ruhige Klänge 1 AUTORIN 2 1975 veröffentlichte der US-amerikanische Arzt Raymond Moody den Bestseller "Leben nach dem Tod". Darin berichtet der Pionier der Nahtod-Forschung von einhundertfünfzig Menschen, die als medizinisch tot galten und doch zurückgekehrt sind. Rechnet man repräsentative Studien hoch, dann haben in den vergangenen fünfzig Jahren weltweit fünfundzwanzig Millionen Menschen eine Nahtod-Erfahrung gemacht und gegenwärtig wissen in Deutschland mehr als drei Millionen Menschen, wie sich ein solches Erlebnis anfühlt. Alois Serwaty ist einer von ihnen und erlebte den Zustand gleich zweimal während einer Herzkatheter-Untersuchung. O-Ton 4 ALOIS SERWATY Das Gefühl, aus dem Körper auszusteigen den Körper abzulegen, wie so einen alten Mantel, der lästig geworden ist, und dann, ja, ein unglaubliches Gefühl der Freiheit und der Ruhe, des Friedens und des Glücks und wiederum dieser merkwürdige Schwebezustand. Das war zunächst mal unglaublich irritierend. Was passiert jetzt? Stirbst du? Ist das der Tod? Wenn dieser Zustand einfach so verschwindet, bist du dann gestorben? AUTORIN 3 Sichere Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Schon die Bezeichnung Nahtod-Erfahrung ist umstritten und wenig exakt, schließlich können ganz unterschiedliche Anlässe den außergewöhnlichen Bewusstseinszustand hervorrufen: Ein Herzstillstand, also der tatsächliche klinische Tod eines Menschen, zählt ebenso hinzu wie ein Unfall, eine schwere Krankheit, die komplizierte Geburt eines Kindes oder eine tiefe Meditation. Alois Serwaty, seit vielen Jahren Vorsitzender des Vereins "Netzwerk Nahtod-Erfahrung", sagt: O-Ton 5 ALOIS SERWATY Es ist so eine Art Container-Begriff, Cluster-Begriff, da wird vieles rein gepackt, manches, was hinein gehört, und auch manches, was nicht hinein gehört, sowohl in der populärwissenschaftlichen Diskussion, als auch in der wissenschaftlichen Diskussion. Musik 4 Elektronische Klänge 1 AUTORIN 4 Seit Mitte der siebziger Jahre wurden einige Dutzend wissenschaftliche Studien zum Nahtod-Phänomen publiziert. Gelder gibt es für solche Forschung wenig, da sie als randständig und exotisch gilt. Viele Studien waren zudem mit Mängeln behaftet und werteten die Erzählungen von Menschen aus, deren Nahtod-Erfahrung teils Jahre zurücklag. Neuere Studien werden "prospektiv" angelegt: Forscher interviewen auf Intensivstationen alle erfolgreich wiederbelebten Herzstillstand-Patienten und werten eventuelle Nahtod-Erfahrungen aus. Doch mit den naturwissenschaftlichen Methoden des Messens und Experimentierens lässt sich das Phänomen schwerlich untersuchen. Nahtod-Zustände künstlich zu induzieren, verbietet sich aus ethischen Gründen, denn dann müsste man Probanden experimentell einer Art Todesnähe aussetzen - mit sämtlichen möglichen Komplikationen. Und Menschen im Todeskampf dürfen aus ethischen Gründen keinem Sonderexperiment wie etwa einem Gehirnscan ausgesetzt werden. Im Klinikalltag bleibt schon gar keine Zeit, sich mit dem Thema zu befassen. Im medizinischen Mainstream haben sich darum sachlich scheinende Erklärungen durchgesetzt. Eine davon lautet: Nahtod-Erfahrungen sind reines Wunschdenken. Sie entspringen der Hoffnung des krisengeschüttelten Menschen auf ein Weiterleben nach dem Tod. Sam Parnia, Assistenzprofessor für Intensivmedizin und Leiter des Wiederbelebungsteams an der Universitätsklinik von Stony Brook auf Long Island in New York, weist jedoch auf die Nahtod-Erfahrungen von Kindern hin, die in der Forschung seit den 1980er Jahren dokumentiert sind. Darüber schreibt er in seinem Buch "Der Tod muss nicht das Ende sein": S P R E C H E R 1 Der Unterschied war, dass all das mit dem Wortschatz eines Kindes beschrieben wurde, oft beim Spiel. Obwohl ihre Interpretation dessen, was sie gesehen hatten, auf ihrer eigenen Verstandesebene stattfand, war klar, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatte wie die Erwachsenen. Noch signifikanter war die Tatsache, dass einige der befragten Kinder erst zwei oder drei Jahre alt waren, als sie ihre Erfahrungen machten. AUTORIN 5 Eine andere vielfach von Medizinern favorisierte Erklärung ist die "Hypothese vom sterbenden Gehirn": Akuter Sauerstoffmangel, Kohlendioxidüberschuss und die Überflutung mit neurochemischen Botenstoffen sollen das Nahtod-Erleben erzeugen. Das klingt zunächst logisch, doch bei näherer Betrachtung tun sich Erklärungslücken auf. So tritt die Hälfte aller Nahtod-Erfahrungen in Situationen auf, in denen ein Sauerstoffmangel nachweislich keine Rolle spielt, etwa wenn ein Bergsteiger abstürzt und sich subjektiv in Todesgefahr wähnt. Wilfried Kuhn, Professor für Neurologie in Schweinfurt, sieht seit dreißig Jahren täglich Patienten mit Sauerstoffmangel. O-Ton 6 WILFRIED KUHN Die sind wahnhaft verändert. Sie sind delirant, sagt man, also die sind ganz unruhig. Zittern, geben keine adäquaten Auskünfte. Also es ist ein völlig anderes Bild, so dass man sagen muss: Ein Sauerstoffmangel alleine erklärt mit Sicherheit nicht die Nahtod-Erfahrungen. AUTORIN 6 Eine weitere Theorie versucht den vorbeiziehenden Lebensfilm physiologisch zu erklären. Danach schädigt der Sterbeprozess den Hippocampus, eine kleine Region im Gehirn, die an der Speicherung von Gedächtnisinhalten mitwirkt. Nun werden diese plötzlich freigegeben. Allerdings erinnern sich Menschen im Nahtod-Erlebnis keineswegs nur an ihr eigenes Leben. O-Ton 7 WILFRIED KUHN Sie erleben ihre Handlungen, ihre eigenen Handlungen, aber auch die Auswirkungen auf die unmittelbar betroffenen Menschen, sowohl emotional, wie auch in kognitiver Hinsicht, also was die denken und so weiter, und deswegen ist das ein Lebenspanorama, das über das eigene Leben hinausgeht. Musik 5 Ruhige Klänge 2 AUTORIN 7 Das bestätigt auch Sabine Mehne. Die Physiotherapeutin erkrankte 1995 an Krebs. Völlig entkräftet, allerdings nicht in Todesgefahr, glitt sie während einer Ultraschalluntersuchung in den außergewöhnlichen Bewusstseinszustand. O-Ton 8 SABINE MEHNE Das sehr Bewegende war eben, dass ich alle Gefühle von jeder Situation in diesem Moment in einer Intensität nachempfinden konnte, das war einfach überwältigend, weil es waren ja nicht nur meine Gefühle, sondern auch die von den Menschen, mit denen ich die jeweilige Situation eben nacherlebt habe und letztendlich wurde alles in diesem Licht quasi in eine andere Dimension gehoben, so dass es wie zu einer Art Versöhnung kam. AUTORIN 8 Ob Sauerstoffmangel, CO2-Überschuss oder ein Mangel an Botenstoffen: Weder ist nachgewiesen, dass sich solche hirnchemischen Veränderungen mit Nahtoderfahrungen tatsächlich korrelieren lassen, noch treten die Erlebnisse immer dann auf, wenn das Gehirn sich in den entsprechenden chemischen Ausnahmezuständen befindet. Deshalb bleibt die Idee vom sterbenden Gehirn bislang eine Hypothese. Doch könnten Nahtoderfahrungen nicht einfach Halluzinationen sein? Auch die werden häufig als hyperreal empfunden. Für den Neurologen Wilfried Kuhn spricht dagegen, dass Nahtoderfahrung alle einem sehr ähnlichen Schema folgen. O-Ton 9 WILFRIED KUHN Während bei den pathologischen Halluzinationen in der Psychiatrie die sehr individuell gefärbt sind, die keinerlei klare Strukturen im Vergleich mit anderen Menschen zulassen. O-Ton 10 SABINE MEHNE Ich hatte ja während dieser Hochdosis-Chemotherapie dann auch Halluzinationen, da kamen zum Beispiel ständig so riesige Fratzen und Gesichter aus der Wand und das fand ich sehr beängstigend, aber ich wusste trotzdem auch, das es was Irreales ist. Und diese Nahtoderfahrung war halt absolut real; das hatte ja was mit mir zu tun, und mit meinem Leben und man vergisst diese Halluzinationen auch und eine Nahtoderfahrung kann man gar nicht vergessen. Das ist unmöglich. AUTORIN 9 Der Nahtod als hirnchemische Illusion? Für Sam Parnia ist diese Deutung grundsätzlich ohne Aussagekraft. S P R E C H E R 2 Die Aktivierung eines bestimmten Gehirnareals bedeutet nicht etwa, dass etwas eine Halluzination ist. Jede menschliche Erfahrung wird durch eine chemische Veränderung im Gehirn vermittelt, aber dadurch, dass wir diese Veränderung identifizieren, können wir die Realität der Erfahrung wieder negieren noch beweisen. Musik 6 Schwebende Klänge 1 O-Ton 11 ALOIS SERWATY Und in diesem merkwürdigen Zustand dann die Überzeugung: Du stirbst nicht. Es gibt den Tod nicht. Und irgendwann war meine Aufmerksamkeit gerichtet auf ein medizinisches Gerät, und hab mir das auch gemerkt, das war so eine Art Plakette, was da drauf stand, und ließ mir allerdings später bestätigen, durch eine Krankenschwester, dass diese Beobachtung, die ich da gemacht habe, richtig gewesen sei, und, ja, dass ich sie aus dieser Lage auf dem OP-Tisch auch hätte gar nicht machen können. AUTORIN 10 Sehen Menschen während eines Nahtoderlebnisses tatsächlich ihre reale Umgebung, wie sie selbst und auch behandelnde Ärzte vielfach behaupten? Nur wenn sich solche Berichte hieb- und stichfest beweisen lassen, wäre eine weitere, gewichtige Erklärung des Nahtodphänomens widerlegt. Skeptiker vermuten, dass der außergewöhnliche Bewusstseinszustand gar nicht dann auftritt, wenn das Gehirn komatös oder klinisch tot ist, sondern kurz bevor Tod oder Koma eintreten oder direkt nachdem der Patient wiederbelebt wurde oder wieder aufwacht. Erst im Nachhinein datiert der Patient sein Erlebnis um. Die weltweite "AWARE-Studie", geleitet von Sam Parnia, geht den Berichten auf den Grund. "AWARE" steht dabei für "Awareness during Resuscitation", "Bewusstsein während der Wiederbelebung". Seit 2008 untersuchen fünfundzwanzig große Krankenhäuser in Europa, Kanada und den USA insgesamt eintausendfünfhundert Herzstillstand-Überlebende. Die beteiligten Forscher prüfen unter anderem mit im Raum installierten Objekten, ob Menschen in einer Nahtoderfahrung sich selbst und die arbeitenden Ärzte tatsächlich von oben gesehen haben können. Ende 2014 sollen erste Studienergebnisse vorliegen. Die AWARE-Studie hat mit Hindernissen zu kämpfen - zum Beispiel der mangelhaften Qualität der Wiederbelebungsmaßnahmen in vielen Krankenhäusern: Ein Großteil der Patienten verstirbt. Oft erhalten Herzstillstand-Überlebende enorme Mengen an Beruhigungsmitteln oder ihr Gehirn durchläuft schwere Entzündungsprozesse, so dass bei neunzig Prozent der Überlebenden jede Erinnerung an den Herzstillstand ausgelöscht wird. Um die Forschung so exakt wie möglich zu konzipieren, untersucht die Studie nur "tatsächliche Todeserfahrungen", erklärt Sam Parnia in seinem Buch. S P R E C H E R 3 Als Arzt weiß ich, dass Menschen, die einen Herzstillstand hatten, nach dem derzeitigen medizinischen Wissensstand nicht dem Tod nah waren. Sie waren tot. Aus diesem Grund denke ich, dass das Nahtoderlebnis genauer als "tatsächliches Todeserlebnis" bezeichnet werden sollte. Jeder, der stirbt, verliert sein Bewusstsein mit der Unmittelbarkeit eines Hammerschlags, und die elektrische Aktivität im Gehirn kommt innerhalb von etwa zehn Sekunden zum Erliegen. Musik 7 Elektronische Klänge 2 AUTORIN 11 Intensivmediziner können heute einen Toten ins Leben zurückholen, denn der Tod verläuft als Prozess und die Zellen des Toten leben weiter: Nervenzellen und die Neuronen des Gehirns noch etwa acht Stunden, Fettzellen dreizehn, die Haut vierundzwanzig Stunden. Bis auch die letzte Knochenzelle gestorben ist, können vier Tage vergehen. Damit ist der Tod ein Stück wie reversibel geworden und die moderne Medizin muss forschend in das Reich des Todes vordringen, fordert der Intensivmediziner. S P R E C H E R 4 Wenn wir das nicht tun, vernachlässigen wir unsere Pflicht, Menschen zu schützen, die einen Herzstillstand hatten, aber erfolgreich und ohne Hirnschäden wieder belebt werden können. AUTORIN 12 Mit Hilfe der modernen Intensivmedizin werden heute schon immer mehr Menschen aus dem Prozess des Todes ins Leben zurückgeholt. In zwanzig Jahren, so hofft Sam Parnia, könnte die Zeitspanne für Wiederbelebungen sogar zwölf bis vierundzwanzig Stunden betragen. Schon jetzt plädiert er dafür, dass auf allen Intensivstationen spezielle Kühlvorrichtungen angeschafft werden sollten. Kälte kann Zerfallsprozesse im Gehirn verzögern, so dass künstlich unterkühlte Todeskandidaten eine höhere Chance haben, ohne Hirnschäden ins Leben zurückgeholt zu werden. Der Tod ist längst in der Medizin angekommen und solle nicht länger als Domäne der Religion oder Mystik gelten, sagt der Arzt. Denn schließlich müssen alle Menschen sterben - auch Atheisten. S P R E C H E R 5 Konzepte wie Bewusstsein, Seele oder Jenseits werden traditionell zwar als nicht wissenschaftlich betrachtet, aber der wissenschaftliche Fortschritt - und ganz besonders das Bestreben, Leben zu retten und den Tod zu verstehen und damit zu überwinden, selbst nachdem er eingetreten ist - hat uns dazu gebracht, mit wissenschaftlichen Mitteln ergründen zu wollen, was hier passiert. Auch wenn das Thema Tod und was geschieht, wenn wir sterben, traditionell als eine religiöse oder philosophische Frage wahrgenommen wird, ist klar, dass es sich hier um ein Wissensgebiet handelt, das wissenschaftliche Objektivität erfordert. Musik 8 Ruhige Klänge 3 AUTORIN 13 Ist die Nahtoderfahrung tatsächlich universell zu allen Zeiten, in allen Kulturen? Taucht immer der Tunnel auf, scheint immer das Licht der Liebe? Keineswegs, sagt Hubert Knoblauch, Professor für Soziologie. Ein Blick in ethnologische Quellen zeige, wie stark solche Berichte von Kultur zu Kultur variieren. In Indien reitet man schon mal auf einer Kuh in den Himmel oder wird von den allgegenwärtigen Bürokraten und Buchhaltern des Landes am Zutritt zum Jenseits gehindert. O-Ton 12 HUBERT KNOBLAUCH Wir wissen zum Beispiel, dass selbst in die Grundmotive hinein in einigen chinesischen Berichten, das Hinausgehen aus dem Körper in chinesischen Berichten nach unten geht und nicht nach oben. AUTORIN 14 Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein sind Nahtod-Erlebnisse kirchliches Hoheitsgebiet, bevölkert von christlichen Motiven. In mittelalterlichen Visionen erschienen die Apostel oder Karl der Große zur Abholung ins Jenseits, und es sind Nahtod-Erzählungen überliefert, O-Ton 13 HUBERT KNOBLAUCH in denen die Mönche in ihrer Todesnähe-Erfahrung ihre verstorbenen Mit-Mönche treffen. In ihre Gemeinschaft der verstorbenen Mönche gewissermaßen zurückkehren zum Beispiel. AUTORIN 15 Christliche Bilder tauchen heute nur noch in sechs Prozent der westlichen Nahtod-Erfahrungen auf. Auch die Hölle - früher durchaus üblich - findet sich nur noch bei konservativen Christen in den USA. Die Motive sind individueller und abstrakter geworden. Statt die gesamte Mönchsgemeinschaft oder alle Verstorbenen des Dorfes wiederzusehen, trifft man heute einzelne wichtige Menschen. Statt Gottvater oder Mutter Maria tauchen heute "Lichtwesen" auf - oder gleich das pure Licht. O-Ton 14 HUBERT KNOBLAUCH Für die Sozial-und Kulturwissenschaft ist das natürlich sehr reizvoll, denn wir beobachten gleichzeitig eine stetige Abnahme des religiösen Wissens zum Beispiel. So dass uns diese zunehmende Abstraktion auch verständlich ist. Musik 9 Ruhige Klänge 3 AUTORIN 16 1999 publizierte Hubert Knoblauch eine grundlegende und noch heute viel beachtete Studie. Darin untersuchte er mehr als zweitausend Menschen in Ost und West auf ihre Nahtoderfahrungen - ein repräsentativer Zufallsquerschnitt durch die Bevölkerung, dessen Ergebnisse sich auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen lassen. Die Probanden wurden mündlich zum Interview gebeten und füllten zusätzlich einen umfassenden Fragebogen aus. Das Ergebnis: 4,3 Prozent der Deutschen haben schon einmal eine Nahtoderfahrung durchlebt. Damals zeigten sich auch deutliche Unterschiede zwischen Ost und West. Ostdeutsche beschrieben ihre Erfahrungen häufig als nicht realistisch und Traum-ähnlich, und häufiger als Westdeutsche empfanden sie die Erfahrung als unangenehm. O-Ton 15 HUBERT KNOBLAUCH Das hat tatsächlich auch oder vermutlich den Hintergrund, dass in Ostdeutschland die Nahtoderfahrungen entweder unbekannt waren oder dass sie auch als pathologisch, psycho-pathologisch charakterisiert wurde, und deswegen auch keine, noch weniger Öffentlichkeit hatte, als, man muss es auch erwähnen, in Westdeutschland noch die Achtziger, Neunzigerjahre. AUTORIN 17 In der Perspektive der soziologischen Forschung streuen die Berichte erheblich und spiegeln vielfältige biografische, kulturelle und soziale Einflüsse wider, betont Hubert Knoblauch. O-Ton 16 HUBERT KNOBLAUCH Keine gleicht der anderen. Es gibt gewisse motivische Überschneidungen, natürlich. Aber selbst bei denen, die dem Standardtypus entsprechen, sind die Unterschiede frappierend und erklärenswert. Also jemand kann eine wunderbare Lichterfahrung machen, es erscheint ein Geistwesen und es erscheint ein Ton C, den sie aus einem Mozart-Stück kennt. Das ist ein völlig einzigartiges Phänomen, es war nur in diesem Fall drin. AUTORIN 18 In vielen Interviews stieß der Soziologe auf solche individuellen Motive. Dass sich der Mythos darüber hält, Nahtoderfahrungen würden immer dieselben Motive und Sequenzen enthalten, hat für ihn viel mit der medizinischen Nahtod-Forschung zu tun. Studien und Fragebögen fragten stets nur die Standardmotive ab, wie Tunnelerfahrungen oder Lichterscheinungen. Die forschenden Mediziner reflektierten zu wenig, was es bedeute, Daten durch Interviews zu generieren. Interviews erzeugen Suggestionen, die vom Studiendesign abgefangen werden müssten, was aber nicht geschehe. Musik 10 Ruhige Klänge 3 AUTORIN 19 Nahtod-Erfahrungen spiegeln den kulturellen und psychologischen Umgang mit Tod und Sterben wider, davon ist der Soziologe überzeugt. Darum treten solche Erlebnisse auch dann auf, wenn die Todesnähe nur imaginiert wird, etwa bei einem vermeintlich tödlichen Autounfall. In seiner Todesangst greift der Mensch auf innere Bilder und Bewältigungsstrategien zurück, weil gemeinsame Rituale fehlen, muss sich der Einzelne den Weg in den Tod innerlich, psychologisch bahnen. O-Ton 17 HUBERT KNOBLAUCH Die Erfahrung selber hat einen Sinn. Sie hat damit zu tun, dass wir uns offenbar mit dem Tod beschäftigen. Und sie haben mit dem Tod insofern zu tun, als sie den Sinn des Todes als Erfahrung erschließen. Und das ist auch der Glaube, den viele in die Nahtoderfahrung setzen, und möglicherweise gar nicht zu Unrecht: Dass wir über diese besonderen Erfahrungen einen Schlüssel über Bereiche haben, die uns jedenfalls alltäglich nicht zugänglich sind. Musik 11 Ruhige Klänge 2 AUTORIN 20 Doch bis ein Mensch es schafft, eine Nahtoderfahrung in sein Leben zu integrieren, vergeht oft eine dornige Zeit. O-Ton 18 SABINE MEHNE Ich hätte gerne gesprochen; ich wusste ja vier Jahre auch nicht, was, wie man das nennt. Ich konnte es eben für mich nicht einordnen, das hat mich sehr verängstigt, weil ich ja auch phasenweise selber dachte, ich bin verrückt geworden und ich wollte kein Risiko eingehen, von irgend jemandem tatsächlich in diese Schublade einsortiert zu werden. Also hab ich geschwiegen und habe still und heimlich vor mich hin gelitten. AUTORIN 21 Manche verheimlichen das aufwühlende Erlebnis Jahrzehnte lang. Ehen und Beziehungen können daran zerbrechen, weiß Alois Serwaty vom "Netzwerk Nahtod-Erfahrung". Das Erlebnis fühle sich an wie die Überwältigung durch eine andere Macht, der man sich einfach nicht entziehen könne. O-Ton 19 ALOIS SERWATY Und das überschwemmt Sie so, dass Sie sozusagen, ich möchte das mal etwas drastisch ausdrücken, in eine Art Missionierung verfallen und glauben nun, das, was Sie dort erlebt haben, eins zu eins in diese Wirklichkeit übertragen zu können! Und dieser Konflikt, der ist natürlich nicht so schnell auflösbar und der bereitet Ihnen auch weiterhin sehr große Schwierigkeiten. AUTORIN 22 Kindern und Jugendlichen fehlt ein gefestigtes Weltbild. Darum kann eine solche Erfahrung sie vor besonders große Schwierigkeiten stellen. O-Ton 20 ALOIS SERWATY Ich kenne einen Fall, der Junge hatte mit fünfzehn eine sehr intensive Nahtoderfahrung, bei einem ganz trivialen Unfall, und das, was er dort erlebt hat, das hat ihn so erschüttert und drei Jahre so beschäftigt, dass er dann freiwillig aus dem Leben geschieden ist, um in diese andere Realität überzugehen. O-Ton 21 SABINE MEHNE Die Sehnsucht geht eben hin zu diesem Licht, zu dieser anderen Dimension. Da war die Sehnsucht bei mir am Anfang wahnsinnig groß, das hat mir auch wirklich Lebenskraft genommen, bis ich wirklich mühsam gelernt habe: Ich muss gar nicht diese Sehnsucht haben, weil, das Licht ist immer in mir drin. AUTORIN 23 In einer Langzeitstudie, publiziert in dem Fachmagazin "The Lancet", konnte Pim van Lommel vor einigen Jahren zeigen, dass sich Menschen mit Nahtoderfahrung in vielfacher Weise ändern, wenn die Integration des Erlebten in das Leben und Fühlen gelingt: Häufiger als andere glauben sie an ein Weiterleben nach dem Tod, auch die Angst vor dem Sterben nimmt ab. Ihre Bereitschaft, Gefühle zu zeigen, wächst und ihre Beziehungen zu anderen Menschen werden liebevoller. Gleichzeitig verlieren Geld und Besitz für sie an Bedeutung. Sabine Mehne. O-Ton 22 SABINE MEHNE Für mich gibt es ein Leben ohne diesen Körper. Reines Bewusstsein könnte ich es nennen, aber es ist auch ein Begriff, der schon etwas benutzt ist. Ja, und durch dieses tiefe innere Wissen und diese Überzeugung, die ich in mir trage hab ich auch ein ganz anderes, erweitertes Zeitempfinden von einem Tag; ja, für mich ist das Leben einfach jeden Tag ein Geschenk, jeden Tag Auferstehung, jeden Tag freue ich mich, obwohl ich weiß, dass es begrenzt ist. Ich koste es viel mehr aus. Ich habe sowieso keine Angst mehr vor dem Tod, und ich habe auch keine Angst mehr vor dem Leben. Musik 12 Schwebende Klänge 1 AUTORIN 24 Wenn es um Nahtoderfahrungen geht, ist oft vom "Blick ins Jenseits" die Rede - Nahtod-Erfahrene empfinden diesen Begriff meist als reißerisch und unangemessen. Doch sprengen solche Erlebnisse tatsächlich das materialistische Weltbild? Erlauben sie den Blick in eine andere Dimension der Wirklichkeit? Es gibt Forscher, die sich einer solchen Deutung anschließen, auch wenn sie dafür hart kritisiert werden. Pim van Lommel verweist in solchen Fällen gerne auf die Quantenphysik, die weiß, dass Elementarteilchen über große Entfernungen hinweg aufeinander einwirken können - vielfach nachgewiesen, der Wirkmechanismus bleibt ein Rätsel. Für den niederländischen Kardiologen könnte dieser nicht-lokale Raum die Grundlage des Bewusstseins bilden. In der Nahtoderfahrung werde es dem Menschen möglich, in diesen "transpersonalen Bewusstseinsraum" einzutreten. Davon ist auch Sam Parnia überzeugt. Wie anders soll man es interpretieren, wenn Menschen Bewusstseinsphänomene nach dem Herzstillstand erleben? Schließlich ist "Herzstillstand" auch nur ein anderes Wort für Tod. S P R E C H E R 6 Diese Erfahrungen scheinen so etwas wie ein wissenschaftliches Paradox zu sein. Sie werfen die Frage auf, wie Menschen ohne ein funktionierendes Gehirn klare, gut strukturierte Denkprozesse mit Erinnerungen haben können. Wenn das Gehirn die Festplatte für unsere Erinnerungen ist, wie können dann Erinnerungen erzeugt und gespeichert werden, wenn das Gehirn gar nicht funktioniert und keine elektrische Aktivität vorhanden ist? AUTORIN 25 Nach vorherrschender Lehrmeinung bringen die elektrochemischen Prozesse des Gehirns das menschliche Bewusstsein hervor. Doch auch dafür steht ein Beweis bislang aus. Zwar verstehen Hirnforscher bis in winzigste Prozesse, auf welche Weise Gehirnzellen Signale übertragen, aber das ist etwas fundamental Anderes als ein Gedanke, schreibt Sam Parnia. S P R E C H E R 7 Wir wissen, dass Zellen Elektrizität durch die Bewegung von chemischen Molekülen erzeugen, aber wir haben einfach keine Ahnung, ob und wie sie auch Gedanken aus Strom oder Chemikalien erzeugen können. Gedanken und alles andere, was das Bewusstsein einer Person ausmacht, können nicht in ein Protein oder irgendein anderes chemisches Molekül oder noch nicht einmal in Elektrizität aufgespalten werden. In der Wissenschaft ist es uns nicht gelungen, anhand eines plausiblen biologischen Mechanismus zu erklären, wie eine Zelle oder eine Gruppe von Zellen, die zusammen arbeiten, das heißt das Gehirn, möglicherweise einen Gedanken oder eine Sammlung von Gedanken erzeugen könnte damit letztlich die Instanz hervorbringt, die wir als das menschliche Bewusstsein bezeichnen. Musik 13 Schwebende Klänge 1 (bis zum Ende) AUTORIN 26 Sind Nahtoderfahrungen Halluzinationen eines sterbenden Gehirns - oder der Eintritt in einen Bewusstseinsraum jenseits der Körpers? Unvereinbar stehen sich diese Interpretationen gegenüber. Beweise gibt es weder für die eine noch für die andere Position. Nahtod-Forscher wie Pim van Lommel und Sam Parnia möchten das Modell eines "transpersonalen Bewusstseinsraums" mit soliden, naturwissenschaftliche Methoden erforschen. Doch für die Menschen mit Nahtoderfahrungen zählt oft einfach nur das Vertrauen auf ihr Erlebnis. O-Ton 23 ALOIS SERWATY Rätsel kann man auflösen. Das ist ein intellektueller Prozess, das ist nicht allzu schwierig. Ein Geheimnis kann man nicht auflösen. Es ist Ihre Erfahrung. Diese Erfahrung kann Ihnen niemand nehmen und sie müssen ihren eigenen Weg finden, um diese Erfahrung in Ihr eigenes Leben zu integrieren, und damit zu recht zu kommen. Musik klingt aus 1 von 20