O-Ton 01 Schülerin Manchmal denk ich schon, ich hab heute gar keinen Bock auf Mathe. Manchmal denkt man das auch vielleicht, weil man die Hausaufgaben vergessen hat, weiß ich ja nicht. Autor Dieses Unbehagen gegen die Mathematik: warum geht es vielen Leuten so wie dieser Schülerin? Eine mögliche Antwort findet sich im Buch: ?Die Entdeckung des Unendlichen? von David Foster Wallace. Zitator - Foster Wallace ?Es ist ein absoluter Mythos, dass der Mensch von Natur aus neugierig und auf die Wahrheit aus sei und vor allem alles wissen möchte. Es gibt in der Tat eine ganze Menge Zeug, von dem wir nichts wissen wollen. Beleg dafür ist die ungeheure Zahl sehr grundlegender Fragen und Themen, über die wir nicht abstrakt nachdenken mögen. Theorie: Die Bedrohungen und Gefahren abstrakten Denkens sind ein guter Grund, warum wir inzwischen alle so gern geschäftig sind und uns ständig mit Reizen bombardieren lassen.? Musik 01, SND ? 15/16 kurzer Akzent Autor Ein Widerwillen gegen das von realen Dingen abgetrennte Denken . Vielleicht hat sich, gerade weil Mathe in einer selbstgeschaffenen Welt stattfindet, das Gerücht der ?angeborenen Matheschwäche? erhalten. Doch diese existiere gar nicht - zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Oklahoma State University, in der speziell mit dem Klischee aufgeräumt wird, dass Mädchen von Natur aus schlechter in Mathe seien als Jungs. Eine Schwäche in Mathe werde einem beigebracht und dann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Musik 01 SND ? 15/16 Akzent  Autor Am anderen Ende des Koordinatensystems gibt es dagegen scheinbar eine Anhäufung von Hochbegabten, so häufig liest und hört man das Wort ?Genie? im Zusammenhang mit der Mathematik. Musik 01 SND ? 15/16 Akzent  Autor Martin Grötschel ist Mathematik-Professor an der Uni Berlin und betreibt am Konrad Zuse Zentrum anwendungsorientierte Mathematik. Niemandem fliegt hier etwas zu, sagt er, weder den vermeintlichen Genies, noch den Schülern, die behaupten, sie könnten es einfach nicht. O-Ton 02 Grötschel Wenn Sie sagen, Mathematik hat Ihnen keinen Spaß gemacht, dann war das in der Regel so, Sie haben die Hausaufgaben nicht gemacht. Sie haben nicht gelernt, sich auf den Hosenboden zu setzen und lange hart dran zu arbeiten, sondern Sie haben früher aufgegeben. Den professionellen Mathematikern geht es ja nicht anders. Die Probleme, die ich auf den Tisch kriege, kann ich auch nicht lösen. Da sitzen wir dann auch Tage, Monate, Jahre dran, bis wir die raus haben. Aber wir haben das Gefühl: Das kriegen wir schon irgendwie hin. Dann sitzen Sie Tage, und jeder Versuch geht schief und Sie kriegen's nicht raus, dann werden Sie auch frustriert. Da lernen Sie Hartnäckigkeit und dicke Bretter bohren, das ist etwas, was Sie in der Mathematik lernen. Musik 01 SND ? 15/16 Akzent Atmo Hubschrauber innen O-Ton 03 Beutelspacher Man kann Mathematik mit einem Gebirge vergleichen, wo die richtigen Bergsteiger von unten bis nach oben hoch kraxeln, mit Ausrüstung, und die können das und steigern sich, und haben dann oben das total gute Gefühl. Die anderen kaufen sich ne Postkarte oder einen Bildband oder machen einen Rundflug, da kann man auch schon einiges sehen, manchmal auch viel sehen, aber natürlich nicht das echte authentische Gefühl bekommen. O-Ton 04 Grötschel Hilbert hat damals 23 Probleme vorgelegt, und die haben die Entwicklung der Mathematik des 20. Jahrhunderts extrem beeinflusst. Und einige davon sind immer noch nicht gelöst. Und er hat einen guten Geschmack bewiesen, schwierige Probleme zu finden. Und so sah man sich im Jahr 2000 genötigt, etwas nachzulegen und so sind die Millennium-Probleme entstanden. Autor Im Jahr 2000, also 100 Jahre nach Hilbert, hat eine Stiftung , das Clay Mathematics Institute, die sieben aus ihrer Sicht wichtigsten ungelösten Probleme der Mathematik in einer Liste zusammengefasst. Wer eines dieser sogenannten Millennium-Probleme löst, erhält eine Million Dollar. Nun behauptet der kasachische Mathematiker Mukhtarbay Otelbaev, das Problem der zur Liste gehörenden Navier-Stokes-Gleichungen gelöst zu haben, mit der die Bewegungen von Flüssigkeiten und Gasen beschrieben werden können. Eines der Probleme, dessen Lösung laut Martin Grötschel auch von Bedeutung für die Allgemeinheit wäre. O-Ton 05 Grötschel Wenn man das hätte, wäre man besser, in all dem was man mit Strömungen macht. Dann können Sie unter Umständen Flugzeuge besser entwerfen und bauen. Wenn Sie mal die letzten 15 Jahre zurückgehen, verbrauchen die Flugzeuge etwa 30% weniger Sprit. Das hängt damit zusammen, dass man andere Materialien verwendet, aber auch dass man die Aerodynamik besser versteht, bessere Flügel baut, und diese Flügel haben damit zu tun, dass man die Navier-Stokes-Gleichung besser lösen kann. Autor Dass Mukhtarbay Otelbaev von seinen Mathematik-Kollegen noch skeptisch beäugt wird, hängt damit zusammen, dass man nicht weiß, ob sein vorgelegter Beweis tatsächlich korrekt ist ? und er wäre nicht der Erste, bei dem sich bei genauerer Prüfung etwas als falsch herausstellt. Doch wer findet das wie heraus? Wer einen mathematischen Beweis erbringen möchte, der muss innerhalb eines formalen Systems argumentieren. Seit Euklid und seinem im 3. Jahrhundert vor Christus entstandenen und wegweisenden Werk ?Elemente? bilden die Axiome das Fundament für die mathematische Beweisführung, also Aussagen, die sich so sehr von selbst verstehen, dass sie nicht noch einmal bewiesen werden müssen. Darauf aufbauend entwickelt der evtl. angehende Millionär dann am besten logische Schlussfolgerungen. O-Ton 06 Grötschel ? und beweist dann, dass mit den vorgegebenen Axiomen und den bereits gefundenen anderen Sätzen der neue Sachverhalt bewiesen werden kann, indem man dann eine Folge von Argumenten aufschreibt, die einem geübten Leser vermitteln, dass das korrekt ist. Das hab ich sehr vorsichtig ausgedrückt, denn der "geübte Leser" ist kein wohldefiniertes Objekt. Normal schreiben Mathematiker ihre Beweise so auf, dass die engeren Kollegen ihres eigenen Fachgebietes das verstehen. Ich kann Sätze, die jemand in der Algebra aufschreibt auch nicht verstehen, weil ich Kenntnisse über viele Sachverhalte gar nicht habe. In dem Sinne ist es nicht ganz einfach zu sagen, was ist ein korrekter Beweis. Ein korrekter Beweis ist immer nur verständlich in einem gegenwärtigen Zusammenhang des Kenntnisstandes eines Fachgebietes. Autor Das heißt im Fall der Navier-Stokes-Gleichungen erst einmal ganz praktisch, dass das veröffentlichte Schriftstück korrekt vom Russischen ins englische Fachchinesisch übertragen werden muss, und dann, dass sich Fachleute finden, die sich so gut mit der überaus komplexen Thematik auskennen, dass der Beweis beurteilt werden kann. Das kann alles dauern. Mukhtarbay Otelbaev hat es womöglich gar nicht so eilig, schließlich arbeitet er seit etwa 35 Jahren am Navier-Stokes-Problem. Musik 01 SND ? 15/16 Akzent Autor Das zweite ungelöste Millennium-Problem, dessen Lösung laut Martin Grötschel von Interesse für die Allgemeinheit wäre, ist das P gleich oder ungleich NP-Problem. Worum es dabei ungefähr geht, erklärt der Wissenschaftler und Buchautor Simon Singh in seinem jüngsten Werk ?Homers letzter Satz ? Die Simpsons und die Mathematik?. Hier erfährt man, dass einige der Autoren der Serie promovierte Mathematiker sind, die nebenbei eine Menge Mathematik in die Folgen schmuggeln. O-Ton 07 Singh There is an episode calls Treehouse of Horror VI ... a hard equals easy, P equals NP. Overvoice-Sprecher In der Folge ?Baumhaus des Schreckens 6? wird Homer in eine höhere Dimension verschleppt. Eine besondere Folge mit einem ganz anderen Animationsstil als sonst. Hinter Homers Schulter sehen wir in der Entfernung den Hinweis auf dieses ungelöste mathematische Problem, die Buchstaben P=NP. Vereinfacht kann man dazu sagen, dass es die schwierigen mathematischen Probleme gibt, bekannt als NP, und die einfachen, P. Die Frage ist, sind diese schwierigen Probleme wirklich so schwierig oder könnte es vielleicht einen generell gültigen Trick geben, der die schwierigen Probleme leicht macht. Bei den Simpsons und in dieser höheren Dimension sehen wir P=NP. David X. Cohen, Autor dieser Episode und ursprünglich Informatiker und Physiker, meint, dass eines Tages gezeigt werden kann, dass die schwierigen Probleme einfach werden, also P=NP. O-Ton 08 Grötschel Die Probleme die in der Klasse P sind, und das heißt polynomial lösbar, die beherrschen wir sehr gut, z.B. das kürzeste Wege-Problem. Wenn Sie auf Ihr Navi drücken, dann erwarten Sie, dass in zwei, drei Sek. die kürzeste Route da ist. Dahinter steckt ein Graph mit 10 Mio. Knoten und ein Algorithmus. Das hat man im Griff. Autor Zum NP-Problem wird es, wenn nicht die kürzeste Strecke zwischen Start und Ziel gewünscht ist, sondern auf dem Weg mehrere Städte besucht werden sollen und zwar in beliebiger Reihenfolge, aber auf dem kürzesten Gesamtweg. Dann sind selbst die schnellsten Computer mit der Reiseplanung überfordert. In der Realität tritt dieses Problem zum Beispiel beim Bestücken von Computerchips auf. Auch in der Schwesterserie Futurama wird das P/NP-Problem thematisiert. O-Ton 09 Singh And there is an episode ... This is truly, truly remarkable. Overvoice-Sprecher In der Folge ?Valentinstag 3000? sind hinter den Charakteren zwei Ordner zu sehen, auf dem einen steht P, auf dem anderen NP. Der Autor dieser Episode ist Jeff Westbrook und bevor er Comedy-Autor wurde, war er Professor in Yale. Seine Aussage mit diesen beiden Ordnern ist, dass die schwierigen Probleme immer in dem einen Ordner bleiben werden, und die leichten in dem anderen. P und NP werden immer getrennt voneinander sein, sein Schluss ist also P ist ungleich NP. Ziemlich irre, dass dieses große ungelöste mathematische Problem in zwei animierten Comedy-Serien diskutiert wird, die dann auch noch jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Wirklich außergewöhnlich. Autor Mathematik ist trocken und gnadenlos. Und Humor? ? ok, der oft auch. Simon Singh hat noch andere Parallelen gefunden. O-Ton 10 Singh I've intervewed the writers ? deriving humor from that. Overvoice-Sprecher Ich habe die Mathematiker unter den Autoren der Simpsons interviewt und sie gefragt, warum sie wohl so erfolgreich in Sachen Comedy sind. Eine Antwort, die mehrere gaben war: In der Mathematik geht es um Logik, und als Mathematiker spielt man mit der, dehnt, biegt und streckt sie. Dabei schießt man manchmal über das Ziel hinaus, und was eben noch logisch war, wird unlogisch, unvernünftig, und so entsteht manchmal Humor. Außerdem glaub ich, dass Mathematiker die Strukturen der Welt und der Gesellschaft anders denken und sehen, und aus diesem eigenen Bezugsrahmen heraus Humor gewinnen können. Autor Ganz nebenbei entführen die Simpsons in durchaus faszinierende Zahlenwelten, oft nur in kurzen Standbild-Gags, die so heißen, weil sie beim normalen Anschauen eigentlich übersehen werden, die also für Fans gemacht sind, die die Folgen Bild für Bild nach solchen Leckerbissen durchsuchen, um sich später z.B. im Internet darüber auszutauschen. Singh hat diese mathematischen Freeze-Frame-Gags für sein Buch zusammengetragen. In einer Folge werden die Besucher eines Baseball-Matchs auf der Videoleinwand gefragt, wie viele Zuschauer wohl im Stadion seien. O-Ton 11 Singh There are three numbers on a scoreboard ? ten biggest primes we know are all Mersenne-primes. Overvoice-Sprecher Drei ähnliche, harmlos aussehende Zahlen werden eingeblendet, die sich bei näherer Betrachtung als besondere entpuppen. Die erste, 8191, ist eine Primzahl. Sie ist also nur durch sich selbst und durch 1 teilbar. Diese ist aber zusätzlich eine spezielle, eine Mersenne-Primzahl. Die zehn größten Primzahlen, die wir kennen sind Mersenne-Primzahlen. Autor ? benannt nach dem französischen Mönch und Mathematiker Marin Mersenne. 2 hoch irgendeine Primzahl ? 1, heraus kommt eine Mersenne-Primzahl. Bei der heutzutage stattfindenden Rekordjagd mittels Computer nach immer größeren Primzahlen spielen die Mersenne-Primzahlen eine wichtige Rolle. Die nächste Zahl auf der Videoleinwand der Simpsons-Folge lautet 8128. A perfect Number, eine vollkommene Zahl, frohlockt Simon Singh. O-Ton 12 Singh That means that ... on that scoreboard in the Simpsons. Overvoice-Sprecher Das bedeutet, nimmt man alle Teiler dieser Zahl und addiert sie, erhält man zum Ergebnis wieder die Zahl, also 8128. Sechs z.B. ist die kleinste vollkommene Zahl, denn nimmt man ihre Teiler, 1, 2 und 3, und addiert sie, also 1 + 2 + 3, ergibt das sechs. 28 ist die nächste vollkommene Zahl, addiert man die Teiler 1, 2, 4, 7 und 14 erhält man wieder 28. 496 ist die dritte vollkommene Zahl und die 8128 auf der Anzeigentafel bei den Simpsons die vierte. Vollkommene Zahlen sind selten und wertvoll und erhalten hier ihre Würdigung. Autor Die dritte Zahl, 8208, ist eine sogenannte narzisstische Zahl. O-Ton 13 Singh This is a kind of number, that is so obscure, that I haven't even heard of this type of number before I started and writing and researching this book. Overvoice-Sprecher So obskur, dass ich vor meinen Recherchen zum Simpsons-Buch noch nie davon gehört hatte. Autor Die Zahl hat vier Ziffern, also 8, 2, 0 und 8. Nimmt man diese vier Ziffern jeweils einzeln hoch vier und addiert die Ergebnisse, enden wir wieder bei der Zahl 8208. Die Zahl erstellt sich also aus den ihr innewohnenden Ziffern selbst. Musik 02: Bach ? Kunst der Fuge Autor Versponnene, in sich selbst verliebte Zahlen, vollkommene Zahlen, in die Unendlichkeit ragende Primzahlen, entdeckt von einem französischen Geistlichen. Habe ich auf der Anzeigentafel bei den Simpsons womöglich eine Ahnung von der sogenannten ?Schönheit der Mathematik? erhalten? Was sagen die Menschen, die sich in dieser abstrakten Welt aufhalten, was ist dort so elegant, so harmonisch, so anmutig, dass sie von Schönheit sprechen lässt? Eine frisch diplomierte Mathematikerin weiß eine klare Antwort: O-Ton 15 Studentin Das Schöne an der Mathematik: Entweder es ist richtig oder es ist falsch. Wenn in vielen Fächern drumrum geredet wird, diskutiert wird, und man kann es aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, ist die Mathematik eine klare Sprache, leicht zu verstehen, wenn man sie mal beherrscht. Und diese absolute Richtigkeit finde ich sehr faszinierend, das gibt's kaum woanders, und ich finde, das ist gerade das Schöne. Dass man sich lange mit nem Problem beschäftigen kann und dann weiß, es gibt eine Lösung. Autor fragt dazwischen: Ist es so, dass Leute Mathematiker werden, die Klarheit brauchen oder suchen, die ihnen sonst im Leben nicht begegnet? O-Ton 15 (weiter) Studentin (lacht) Ich glaube, das ist mir ein bisschen zuviel. Aber es sind komplexe Probleme, man beschäftigt sich lange an einem Problem, braucht ne hohe Frustrationsgrenze manchmal, aber man weiß, es gibt eine Antwort, und wenn man diese erstmal erkannt hat, dann ist das eigentlich die Schönheit dahinter, es ist gar nicht mehr wichtig, was das Problem war, sondern diese Erkenntnis zum Schluss. Autor Auch Albrecht Beutelspacher, Mathematik-Professor in Gießen, deutet die Schönheit der Mathematik als eine Art Klarheit. O-Ton 16 Beutelspacher Ich würde in Begriffen der Kunstgeschichte eher sagen: Es ist sowas wie Bauhaus-Schönheit, also nicht barocke Schönheit, wo an jeder noch freien Stelle ein kleiner Engel sitzt, sondern: Form und Funktion sind das gleiche. Man hat nur das, worauf's ankommt, aber man hat auch alles, worauf's ankommt. Autor Simon Singh ist eigentlich Physiker, hat jedoch mit seinem Buch ?Fermats letzter Satz? mathematisches Territorium betreten., Bei der Arbeit zu diesem Buch war es dann irgendwann um ihn geschehen.. O-Ton 17 Singh For me mathematics was just a tool for doing physics. ... we still teach it in universities today. Overvoice-Sprecher Vorher war Mathe war für mich nur ein Werkzeug für die Physik. Doch dann erkannte ich ie eigene Schönheit der Mathematik - die Zahlenmuster, die Abstraktion der Ideen, der Fakt, dass man mit ihr nach der Unendlichkeit greifen kann. Sicher auch diese absolute Wahrheit. In den Naturwissenschaften versuchen wir sie herauszufinden, aber so sicher wie in der Mathematik können wir uns eigentlich nie sein. Logische mathematische Beweise sind zeitlos und bedingungslos gültig. Der englische Mathematiker G.H. [Dji Äitsch] Hardy sagte einmal: Wer unsterblich werden will, sollte Mathematiker werden. Wir brauchen nur auf die alten Griechen schauen: Was sie über Mathematik sagten, unterrichten wir noch heute in den Universitäten. Musik 03 - Brian Eno ? Lux (Hubschrauber innen verschwindet) Autor Die Pythagoreer, Pythagoras und seine Jünger, gelangten von der Mathematik zur Zahlenphilosophie, zur Musiktheorie und zu den Prinzipien des Seins. Alles sei Zahl, war ihr Motto, der Kosmos nach bestimmten Zahlenverhältnissen aufgebaut, Natur und Menschendasein durchdrungen von zahlenmäßig ausdrückbaren Gesetzmäßigkeiten. Die Pythagoreer entdeckten mathematische Beziehungen in Erscheinungen der realen Welt, so abstrahierten sie den Goldenen Schnitt aus Schneckenschalen und Baumringen und brachten dessen Anwendung in der Architektur voran. Sie fanden heraus, dass musikalische Intervalle stets bestimmten Längenverhältnissen auf ihrem Saiteninstrument entsprechen und ordneten den Tönen Zahlen zu, entdeckten Oktave, Quinte, Quarte und ihre Zusammenklänge. Es galt dabei, Harmonie anzustreben, denn alle Teile im Kosmos waren in ihrer Vorstellung miteinander verflochten. Vom einzelnen Menschen oder Tier bis zu den Planeten, die gemeinsam einen harmonischen Sphärenklang erzeugten. Regie: Musik Autor Bei den Griechen galt die zweidimensionale Sphäre, die Oberfläche einer Kugel wie z.B. der Erde, als Gegenstand höchster Vollkommenheit. Um die dreidimensionale Sphäre und um die Frage nach der Übertragbarkeit mathematischer Formeln vom zwei- auf den dreidimensionalen Raum geht es bei den Poincaré-Vermutungen, aufgestellt 1904 durch den französischen Mathematiker Henri Poincaré. Fast 100 Jahre lang scheiterten alle Versuche, die Vermutungen zu beweisen. 2002 gelang dies dann dem russischen Mathematiker Grigori Perelman, womit er das bisher einzige der Millennium-Probleme hat lösen können. Das damalige Medienecho war enorm, als er die eine Million Dollar Preisgeld ablehnte sowie auch die Fields-Medaille, die als Nobelpreis der Mathematik bezeichnet wird. O-Ton 18 Youtube-Ausschnitt: Ablehnung der Fields-Medaille, ca. 0'10 Autor In einem seiner sehr seltenen Interviews begründete Perelman die Ablehnung der Preise damit, dass der amerikanische Mathematiker Hamilton einen gleichwertigen Beitrag zur Lösung des Problems geleistet habe. Auch der gerne als verschrobenes Einzelgänger-Genie präsentierte Perelman lebt nicht auf einer mathematischen Insel, wo er einsam Jahrtausendprobleme löst, möglich machten dies erst die Kenntnis und Vorarbeiten von Hamilton, Ricci, Cantor, aber auch z.B. der islamischen Mathematik, die zwischen 750 und 1500 maßgebend war, bis zur Geometrie, die Euklid in ?Die Elemente? dargelegt hat. Der 47-jährige Gregori Perelman lebt heute in der Wohnung seiner Mutter in Sankt Petersburg. In der Berichterstattung über ihn lassen sich Klischees über Mathematiker entdecken: Genial, zottelig, verrückt. Martin Grötschel ist Generalsekretär der Internationalen Mathematiker Vereinigung, von der Perelman die Fields Medaille erhalten sollte: O-Ton 19 Grötschel Der Perelmann ist keineswegs verrückt, der hat einfach seine eigenen Wertevorstellungen und die lebt er und der Rest der Leute interessiert ihn nicht, und das ist etwas, was außergewöhnlich ist. Und er ist auch nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Ich mein, der hat hinterher den Clay-Preis abgeschlagen, hat gesagt, 1 Mio. Dollar, will ich nicht haben. Obwohl er von praktisch nichts lebt. Das zeigt doch ne gewisse Charakterstärke. Autor Die Verifizierung der Poincaré-Vermutungen durch Perelman jedenfalls habe keine anwendungsnahen Auswirkungen auf die Realität. So sei das zunächst häufig bei mathematischen Beweisen, sagt Martin Grötschel, z.B. auch bei der Keplerschen-Vermutung, die 1611 von Johannes Kepler aufgestellt wurde und bei der es um das dichteste Packmaß von Kugel geht. O-Ton 20 Groetschel Wenn Sie auf den Gemüsemarkt gehen und sehen, wie die Händler Apfelsinen aufeinander türmen. Da wird erstmal unten eine Fläche ausgelegt und dann werden die anderen Apfelsinen in die Löcher dazwischen gelegt und wie ne Pyramide hoch gestapelt. Jetzt ist die Frage: Ist das die dichteste Packung von Apfelsinen oder Kugeln. Kepler hat gesagt, das ist die beste Packung, aber er konnte es nicht beweisen. Autor Der amerikanische Mathematiker Tom Hales hat 1998 einen Beweis vorgelegt. O-Ton 21 Groetschel Dann haben sich 5, 6 Leute an die Prüfung des Ergebnisses gemacht, mehrere Jahre. Dann hat man einen Report geschrieben, wir sind zu 99% sicher, dass das richtig ist, aber wir sind nicht in der Lage, alle Einzelfälle in jedem Detail und endlicher Zeit zu prüfen, das geht über ihre Kräfte hinaus. Daraufhin hat der Hales gesagt, dann mach ich jetzt ein Projekt, um formal sauber zu beweisen, dass das richtig ist, und der hat jetzt mit vielen anderen Leuten einen Computerbeweis vor, wobei jeder Schritt ein beweisbar richtiger Schritt ist. Das ist ein irrer Aufwand dort. Autor Fragt sich jetzt sofort, wofür. Man kann es erahnen, der Berg ruft. O-Ton 22 Grötschel Warum klettert jemand auf den Mount Everest? Das ist dieselbe Fragestellung. Wir Menschen haben den Trieb, irgendwas Außergewöhnliches und Schwieriges zu tun. Hier ist eine Frage, die ein paar Hundert Jahre offen war, die sehr einfach ist, und erstaunlicherweise hat sie sich als ein extrem schwieriges Problem herausgestellt, und dann ist man stolz darauf, den Mount Everest zu erklimmen und dafür macht man das. Das Problem ob es gelöst ist oder nicht, hat keinerlei Bedeutung. In der Praxis ist es so, kann man annehmen es ist richtig und fertig. Aber hierbei wird auch die Argumentation der Mathematik geschärft. Wenn er jetzt mit diesem Algorithmus fertig ist, dann hat er vielleicht ne Methodik, um an vielen anderen Stellen Computerbeweise, die beweisbar richtig sind, einzuführen. Sie müssen den mathematischen Fortschritt nicht an der Theorie selbst sehen, sondern auch der Technologie, die entwickelt wurde, um diesen Satz zu beweisen. Autor Algorithmen, entwickelt für die eine Anwendung, werden später auch anderer Stelle genutzt, das ist gerade im Digitalzeitalter keine Seltenheit. Überhaupt: O-Ton 23 Grötschel Ohne Computer ist das alles nicht machbar. Da hätte man sich vor 100 Jahren Sachen ausdenken können wie man wollte, es war sinnlos, man hätte es nicht umsetzen können, und das ist das was unsere Zeit besonders macht. Autor Martin Grötschel arbeitet mit seinen Kollegen am Zentrum für Informationstechnik Berlin an konkreten mathematischen Anwendungen. Da wird z.B. für den Mobilfunk an der Kanalzuweisung, an der Kodierung und Verschlüsselung gearbeitet; auch an Navigationssystemen oder an der Umlaufplanung von Zügen. O-Ton 24 Grötschel Wir versuchen, die Züge so einzusetzen, dass alle fahrplanmäßigen Fahrten abgedeckt sind, aber die Fahrten mit so wenig Zügen wie möglich durchgeführt werden und mit so wenig Personal wie möglich, um die Kosten gering zuhalten. Autor Überall hilft die Mathematik dabei, dass Dinge effizienter laufen, so dass die Unternehmen, die sie sich leisten können mehr Geld verdienen. David Foster Wallace: Zitator Wallace Mathematisches Denken ist abstrakt, aber es ist auch gründlich privatwirtschaftlich und ergebnisorientiert. Autor Ist Mathematik heute also hauptsächlich ein Werkzeug des Kapitalismus? Nein, nein, sie sei viel mehr, sagt Simon Singh. O-Ton 25 Singh Okay, we can use m. to run a business more efficiently ... We really do live in a m. society. Overvoice-Sprecher Okay, wir können Mathematik dafür nutzen, dass Geschäfte besser laufen. Aber wir nutzen sie auch dafür, dass Flugzeuge weniger Sprit verbrauchen, also weniger Emissionen freisetzen; mit ihrer Hilfe verstehen wir, wie sich die Erdatmosphäre und das Klima verändern; sie hilft uns dabei, Ressourcen so zu verteilen, dass sie dorthin ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden; sie wird aber auch genutzt, um beispielsweise herauszufinden, welcher Impfstoff wo und wie eingesetzt werden muss, um den besten Effekt bei einer Krankheit zu erzielen; Mathematik hat einen massiven Einfluss auf unser aller Leben. Wie dieses Interview hier z.B. aufgezeichnet ist, da werden auf Mathematik basierende Algorithmen genutzt. Die ganze elektronische Welt kann überhaupt nur aufgrund von Mathematik funktionieren. Wenn wir einen animierten Film ansehen, alles mathematische Algorithmen. Wir leben in einer mathematischen Gesellschaft. O-Ton 26 Grötschel Ich denke mal die Zeit für Mathematik war selten so gut wie heute. Es gibt praktisch kein Fachgebiet mehr, in dem Mathematik nicht benutzt wird. Die Geisteswissenschaften fangen in starkem Maße an, statistische Methoden, Mustererkennung und sonst was zu nutzen. Aber die wichtigsten Fragen für unser tägliches Leben tauchen natürlich in den Technikwissenschaften, in Chemie, Physik, Informatik auf. Und jetzt die Lebenswissenschaften, mit riesigen Schritten gehen die auf die Mathematik zu, Moleküldesign, personalisierte Medizin - überall ist Mathematik. (Autor Ein Studium der Mathematik scheint sich zu lohnen, die Studenten von z.B. Martin Grötschel ... O-Ton 27 Grötschel ? finden alle tolle Jobs und kriegen gute Gehälter. O-Ton 28 Studentin Das wird immer gesagt, tatsächlich seh ich das nicht so. Autor Widerspricht die frisch diplomierte Mathematikerin. O-Ton 29 Studentin Es ist nämlich das Problem, dass die Mathematik sehr theoretisch ist. D.h. wir haben so gut wie keinen Realitätsbezug manchmal, oder er ist halt so oberflächlich, dass viele Firmen und wir selbst auch manchmal gar nicht wissen, was können wir eigentlich mit unserer Ausbildung, mit unserem Studium anfangen. Und das Klassische sind Banken und Versicherungen. Jetzt hatten wir alle nicht BWL als Nebenfach, und ist auch sehr weit weg von der theoretischen Mathematik, so dass die meisten mindestens ein Jahr brauchen, um überhaupt herauszufinden, in welcher Branche, welcher Industrie, wo Mathematiker überhaupt gesucht werden. Und die meisten Unternehmen wissen das nämlich selbst nicht genau. Man wird dann schnell in die IT-Abteilung oder Unternehmensberatung gesteckt, aber das ist natürlich ein bisschen fachfremd. Man wird einfach irgendwo eingesetzt, wenn man analytisch denken kann. Autor Weshalb sie jetzt neben der Jobsuche noch ein Informatikstudium dran hängt. Autor im Hubschrauber Wir verlassen nun den Mount Mathematica. Diese Pythagoreer... Ihr Grundsatz ?Alles ist Zahl? könnte auch heute noch gelten. Denn ist nicht alles um uns herum durchdrungen von Zahl, von Mathematik, von Abstraktion, auch und insbesondere durch die Gerätschaften, mit denen wir uns laut David Foster Wallace vor den Bedrohungen und Gefahren abstrakten Denkens ablenken? Musik 01 SND ? 15/16 Hubschraubersound Fade Out) 1