DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 07.01.2014 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Edith Cavell, Dr. Gottfried Benn und andere Es beginnt im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs Von Werner Dütsch URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Sprecher Edith Cavell oder Edith Cavell? Wie ist das auszusprechen? In Großbritannien wird das a betont, wie beim englischen ?travel?. Auf dem Kontinent wird sie Edith Cavell genannt, als reime sich der Name auf ?hell?. Aber wer ist Edith Cavell? Sprecherin Die 1865 geborene Tochter eines anglikanischen Gemeindepfarrers führte ein unauffälliges, dienendes Leben in England und Brüssel: Gouvernante, Kindergärtnerin, Krankenschwester. Als dieses Leben auffällig wird, ist es auch schon zu Ende. Ihr früher Tod hat ihren Namen ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Plötzlich wird sie sichtbar: in Stein gehauen, auf Medaillons und Plaketten gepresst, auf Photographien, Karikaturen, Gemälden, auf einem Kirchenfenster, auf Briefmarken. Straßen, Schulen, Hospitäler werden nach ihr benannt, auch ein Altenheim, ein Restaurant, ein Parkplatz. Ein Berg in den kanadischen Rocky Mountains und eine Brücke in Neuseeland tragen ihren Namen, ebenso eine der 350 Coronea auf der Venus. 1917 bekommt in den Niederlanden eine Rose den Namen Miss Edith Cavell. Eine Polyantha-Züchtung: Vielblütig, scharlachrot, milder Duft, schattenverträglich. 2013 wird ein schwer zu datierendes Porzellan-Service gefunden; zur Kennzeichnung gehört ein winziges Porträt, von Experten als Edith Cavell identifiziert. Andere Fachleute widersprechen. Die Fundmeldung ist vom 1. April. Sprecher Edith Cavell, Dr. Gottfried Benn und andere Es beginnt im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs Ein Feature von Werner Dütsch 2. Zitator Brüssel, 12. Oktober 1915 Das Kriegsgericht des Deutschen Reiches in Brüssel hat folgende Urteile verhängt: Zum Tode verurteilt für bandenmäßig begangenen Hochverrat: Edith Cavell, Lehrerin aus Brüssel. Philip Baucq, Architekt aus Brüssel. Jeanne de Belleville aus Montignies. Louise Thuiliez, Lehrerin aus Lille. Louis Severin, Apotheker aus Brüssel. Albert Libiez, Rechtsanwalt aus Mons. Sprecher Für dasselbe Vergehen werden vier Angeklagte zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weitere siebzehn zu Zwangsarbeit und Zuchthaus zwischen zwei und vier Jahren. 2. Zitator Was Baucq und Edith Cavell betrifft, so sind die Urteile bereits vollstreckt. Der General-Gouverneur von Brüssel macht diese Fakten der Öffentlichkeit zur Warnung bekannt. Brüssel, 12. Oktober 1915 Der Gouverneur der Stadt, General von Bissing Sprecherin Edith Cavells Familie war nicht wohlhabend. Bescheidene Schulausbildung. Sie lernt Französisch - so gut, dass ihre Lehrerin sie einer Familie in Brüssel als Gouvernante empfiehlt. 1896 ist sie wieder in England, besucht eine Schule für Krankenschwestern, wird in Londoner Hospitälern Leiterin des Nachtdienstes und Oberschwester. Einer ihrer inzwischen erwachsenen Zöglinge in Brüssel empfiehlt sie dem Chirurgen Antoine Depage. Der Gründer und Präsident des Roten Kreuzes in Belgien sucht eine Leiterin für die Ausbildung von Krankenschwestern. Ab 1907 leitet Edith Cavell die Ausbildung in seinem Hospital in Brüssel. Mit Erfolg, die Zahl ausgebildeter Schwestern nimmt ständig zu. Im August 1914 überfällt Deutschland - dem Schlieffen-Plan folgend - das neutrale Belgien und erklärt Frankreich den Krieg. England erklärt dem Deutschen Reich den Krieg. Die deutsche Besatzung in Belgien erlaubt der Engländerin Cavell die Weiterarbeit. Dr. Depages Hospital ist jetzt ein Rot-Kreuz-Krankenhaus. Ein Jahr später, am 5. August 1915, wird Edith Cavell verhaftet. Zusammen mit anderen soll sie kriegsgefangenen und versprengten englischen und französischen Soldaten zur Flucht ins neutrale Holland verholfen haben. Sprecher Die Botschaft der Vereinigten Staaten in Brüssel vertritt auch die Interessen englischer Zivilisten. Der Botschafter ? Brand Whitlock - hat 1919 Erinnerungen an seine Zeit in Brüssel veröffentlicht. Ein Kapitel ist Edith Cavell gewidmet. Sprecherin Es beginnt damit, dass Whitlock von den Deutschen wissen will, warum Miss Cavell verhaftet wurde. Er will sich um ihre Verteidigung bemühen. Oscar Freiherr von der Lancken-Wakenitz, Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Generalgouvernement in Brüssel, antwortet nach erneuter Anfrage mit einem rückdatierten Brief: Miss Cavell habe die Anschuldigungen bestätigt, der von Whitlock vorgeschlagene Anwalt könne Miss Cavell nicht aufsuchen so lange sie sich in Einzelhaft befinde, auch habe sie bereits einen Anwalt. Dieser Anwalt räumt nach Tagen ein, nicht mehr der Verteidiger zu sein. Das betreibe jetzt ein anderer. Der teilt mit, es sei ihm nicht erlaubt, Miss Cavell zu treffen und Dokumente einzusehen. Doch der Prozess werde fair sein und Gelegenheit zu bestmöglicher Verteidigung bieten. Der Kriegsgerichtsprozess beginnt am Donnertag, dem 7. Oktober, er endet am Freitag dem 8. Oktober - noch ohne Urteile. 2 Tage, 35 Angeklagte. Edith Cavell erklärt, aus England schriftlichen Dank von Soldaten erhalten zu haben, die nach England zurückkehren konnten und so ihrer Armee wieder zur Verfügung stehen. Die Anklage fordert mehrere Todesurteile. Am Montagabend erfährt die Botschaft inoffiziell, dass Miss Cavell um 17 Uhr zum Tode verurteilt worden ist und noch in der folgenden Nacht erschossen werden soll. Whitlock schickt ein Gnadengesuch an Oscar Freiherr von der Lancken-Wakenitz und an General Moritz Ferdinand Freiherr von Bissing. Der Botschaftssekretär, der Anwalt der Botschaft und der Marquis de Villalobar, der Botschafter Spaniens, suchen den Freiherrn von der Lancken-Wakenitz. Nach 22.00 Uhr können sie ihn sprechen: er bestätigt das Todesurteil für Edith Cavell und die unmittelbar bevorstehende Hinrichtung. Er verweist auf den Generalgouverneur für Belgien - Moritz Ferdinand von Bissing - und telefoniert mit ihm. Das ändert nichts. Die Hinrichtung wenige Stunden später löst in Europa und in den USA Wut und Empörung aus. Darauf antwortet mit einer Pressemitteilung der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Arthur Zimmermann: die Erschießung sei sehr bedauerlich, aber unumgänglich gewesen. Kein Grund, daraus einen besonderen Vorfall zu machen, kein Strafgesetzbuch und schon gar kein Kriegsgesetz mache einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, außer die Frau befinde sich in besonderen Umständen. Edith Cavell war nicht in anderen Umständen. In zukünftigen Darstellungen erscheint sie als reine Jungfrau, als Engel der Barmherzigkeit. 2. Zitator Wäre Miss Cavell wegen Spionage angeklagt worden, wir hätten nicht protestierend über ihre Exekution geschrieben. Spione sind sehr oft keine ritterlichen und ehrenhaften Personen, die ihrem Land unauffällig und mit tödlichem Risiko dienen. Sprecher Schreibt das britische Magazin ?Spactator? am 23. Oktober 1915 und markiert den Unterschied zwischen gottergebener, selbstloser Vaterlandsliebe ? brauchbar für die Kriegspropaganda - und einer zwielichtigen, gar frivolen Spionin, wie das die 1917 hingerichtete Mata Hari sein wird. Wenige Tage nach der Hinrichtung erscheint im Amsterdamer ?Telegraaf? ein erster Bericht über die Hinrichtung, der kein Journalist beiwohnen durfte: Sprecherin Todesschützen, erfüllt von Respekt und Bewunderung für die Todeskandidatin, zielen daneben. Miss Cavell sinkt ohnmächtig zu Boden, ein Offizier tritt hinzu und erschießt sie mit seinem Revolver. Sprecher Bald ist ein weiteres Gerücht in Umlauf: Sprecherin Ein einzelner Todesschütze weigert sich zu schießen, wird daraufhin selbst erschossen und neben Edith Cavell bestattet. Sprecher Es gibt zwei Fotos seiner Leiche auf Postkarten. Sprecherin Das sieht auf beiden Bildern sehr ähnlich, aber nicht identisch aus. Der tapfere Deutsche bekommt auch einen Namen: Rammler. Ein anderes Foto, so sagt die Beschriftung, zeigt die Hinrichtungsstätte zusammen mit dem Stuhl, auf dem Miss Cavell bei der Exekution gesessen hat. Andere Postkarten nach Zeichnungen und Gemälden zeigen sie bei hingebungsvoller Arbeit im Hospital oder im Augenblick ihrer Erschießung durch einen deutschen Offizier. Auf einer holländischen Karikatur machen sich Schweine über ihre Leiche her, die Schweinsköpfe tragen Pickelhauben. Sprecher Während der Kriegsjahre wohnt die Autorin Thea Sternheim in La Hulpe, einer wallonischen Gemeinde nahe Brüssel und Waterloo. Bei den Sternheims verkehren auch Literaten, die mit der Armee nach Belgien gekommen sind: Gottfried Benn, Carl Einstein, Otto Flake, Wilhelm Hausenstein, der Verleger Anton Kippenberg. Thea Sternheim ist mit der Familie Hostelet bekannt. Der Ingenieur und Wissenschaftler George Hostelet, zusammen mit Edith Cavell verurteilt, ist nach Deutschland deportiert worden, kann aber 1917 nach Belgien zurückkehren. Die deutschen Gäste im Hause Sternheim sind Angehörige des Deutschen Heers, Thea Sternheim hilft Flüchtlingen und Kriegsopfern und führt Tagebuch. Zitatorin (Sternheim) 3. Februar 1917 Abends (der Zug hat mehr als eine Stunde Verspätung) kommt Karl mit dem Arzt und Schriftsteller Gottfried Benn. Ein blonder, schlanker, typisch preußisch aussehender Mensch, in der Art der jungen Bredows und Unruhs. Er macht Verbeugungen beim Herein- und Hinausgehen. Verbeugungen, reicht man ihm eine Hand. Man spricht über Literatur. Ohne besondere Relation zu den Jungen schätzt er einiges von Werfel, einiges von Mann, Sternheim. Vorliebe für Hölderlin. Geringe Beziehung zum Westen, scheint mir. Entwicklung auf naturwissenschaftlicher Basis aufgebaut. Wie kommt sein Wortschatz so ins Blühen? Der Sohn eines protestantischen Pastors in der Mark, seine Mutter Genferin, Calvinistin. Unter Begriffen wie Gottes Zorn, Vaterland, Bereitschaft, für den Staat zu sterben, aufgewachsen, fragt er nicht: Wie konnte der schreckliche Krieg möglich werden, sondern antwortet: Da er einmal da ist, muss er ausgekämpft werden. Milde ist in keiner Hinsicht am Platze. Unter anderen war Benn einer jener Leute, die den Verhandlungen des Cavellschen Prozesses, der Erschießung der Cavell und des Ingenieurs Baucq beiwohnten. Er entsinnt sich Hostelets als aufrechten Menschen. ?Er hatte einen schwarzen Bart, trug eine Brille und versuchte beim Verhör in keiner Weise zu kneifen.? Die zwei zum Tode verurteilten wurden auf einen Schießstand geführt. Jeder wurde von einem Geistlichen begleitet. Man verband ihnen die Augen. Die Cavell sprach nicht mehr. Baucq aber rief: ?Devant la mort nous sommes tous des camarades.? Da schrie ihn der Kriegsgerichtsrat Streber an, die Gewehre der ganz nahstehenden Soldaten gingen los: mit zerrissener Brust fielen die Erschossenen zur Erde. Benn erzählt diesen Vorfall mit der erschreckenden Sachlichkeit eines Arztes, der einen Leichnam seziert. Alles andere, die Vorkommnisse in Louvain, in Dinant, die Fortführung und Misshandlung der Chomeurs findet er ebenfalls richtig. Auf meine Erklärung hin, wie wir uns um die Befreiung Hostelets bemühen, antwortet er: Ist es nicht ganz richtig, dass man Leute, die einem schaden wollen, einsperrt? Jede Verständigung ist aussichtslos. Man rennt mit dem Kopf gegen eine Mauer. 1. Zitator (Benn) Ich approbierte, promovierte, doktorierte, schrieb über Zuckerkrankheiten im Heer, Impfungen bei Tripper, Bauchfelllücken, Krebsstatistiken, erhielt die Goldene Medaille der Universität Berlin für eine Arbeit über Epilepsie, was ich an Literatur verfasste, schrieb ich mit Ausnahme der ,Morgue?, die 1912 bei A.R. Meyer erschien, im Frühjahr 1916 in Brüssel-: ich war Arzt am Prostituiertenkrankenhaus, ein ganz isolierter Posten, lebte in einem konfiszierten Haus, elf Zimmer, allein mit meinem Burschen, hatte wenig Dienst, durfte in Zivil gehen, war mit nichts behaftet, hing an niemandem, verstand die Sprache kaum, strich durch die Straßen, fremdes Volk; eigentümlicher Frühling, drei Monate ganz ohne Vergleich, was war die Kanonade von Yser, ohne die kein Tag verging, das Leben schwang in einer Sphäre von Schweigen und Verlorenheit, ich lebte am Rande, wo das Dasein fällt und das Ich beginnt, ich denke oft an diese Wochen zurück, sie waren das Leben, sie werden nicht wiederkommen, alles andere war Bruch. Sprecher Benn ist von 1914 bis 1917 Militärarzt in Brüssel, zuständig für Geschlechtskrankheiten. Zitatorin 21. Mai 1917 Ruhig in meinem Zimmer gesessen. Die Kinder machen mit der Köchin einen Spaziergang nach Overyssche, um dort die Stauffsche Terme zu besichtigen. Kommt der Dr. Benn. Sitzt eine Weile mit uns auf der Terrasse. Trinkt Tee. Geht zeitig. Was er denkt, so politisch, literarisch oder menschlich, wird mir immer noch nicht klar. 12. Juni 1917 Benns Gedicht ?Fleisch?. Stark. Bedeutend. Aber schrecklich zugleich. Ist aber das Extrem nach dieser Richtung hin nicht auch eine Fälschung? Musik Sprecher Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches erschien 1918 ein Buch, das zunächst kaum Leser fand. 2. Zitator Was war es anderes als süßlicher Unernst und erbärmlicher Mangel an tragischem Sinn, wenn die Ententewelt die standrechtliche Erschießung einer englischen Frau beplärrte, die in Belgien ihr Pflegerinnenkleid mißbrauchte, um belgischen Soldaten über die Grenze zu helfen? Sie zu heroisieren war erlaubt; aber nur unter der Annahme, dass die Cavell kein leichtfertiges Gänschen war, sondern wusste, was sie tat, die möglichen Folgen ihrer nicht einmal rein patriotischen (denn sie war keine Belgierin), sondern politischen Handlung kannte und bereit war, sie gegebenenfalls zu tragen. Man entehrte sie nicht, man ehrte sie, indem man sie vor die Flinten stellte, und - ?Menschlichkeit ist selbstverständlich? dachte wohl der Offizier, der die Exekutionsabteilung kommandierte und die Vorschriften durchbrach, indem er die ohnmächtig Gewordene mit einem Revolverschuß tötete, so dass sie ihre nicht entehrende, aber ernste und freie Schuld mit einem unmerklichen Tode bezahlte. Eine politische Handlung zu begehen, die vor die Flintenläufe führen kann, sollte nur der sich befugt und berufen glauben, der einigermaßen sicher ist, angesichts der Flintenläufe nicht ohnmächtig zu werden. Sprecher Thomas Mann hat das geschrieben in seinen ?Betrachtungen eines Unpolitischen.? Sprecherin 1919 antwortet der Berliner Pfarrer Paul Le Seur einem Pfarrer in der Schweiz auf die Vorwürfe zur deutschen Kriegsschuld und zur Tötung Edith Cavells. 1. Zitator Ich bin über vier Jahre in Brüssel als Garnisonspfarrer gewesen, bis zum Zusammenbruch. ... Eines Tages sagte mir der Kriegsgerichtsrat, dessen schwere Pflicht es war, die Prozesse wegen Spionage und Kriegsverrat zu führen, ich müsse am nächsten Morgen einer Engländerin, die erschossen würde, zur Seite stehen ...Edith Cavell Meine Aufgabe war ausschließlich die des Seelsorgers. Aber das kann ich bezeugen, dass sich erstens die traurige Handlung ohne jeden Zwischenfall vollzogen hat; dass m.E. Miss Cavell ohne Schmerzen sofort tot war; dass, soweit ich sehen konnte, alle Beteiligten sich bemüht haben, die Verurteilte so ritterlich wie möglich zu behandeln.... Ein Urteil über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens steht mir nicht zu. Weder bin ich Jurist, noch habe ich direkte Kenntnis der Akten. Mein Laienurteil ist: juristisch scheint mir das Todesurteil durchaus zu Recht zu bestehen. Politisch war es m.E. ein sehr schwerer Fehler. ? Ausdrücklich möchte ich noch bemerken, dass Miss Cavell ein belgischer Rechtsbeistand gewährt worden ist. Sprecherin 1940 wird der Augenzeuge, der Theologe Paul Le Seur, auf der Mitarbeiterliste einer Einrichtung evangelischer Landeskirchen geführt: es ist das ?Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben.? 1919 wird Edith Cavell exhumiert und nach England überführt. Trauerfeier in Westminster Abbey mit König Georg V. Bestattet wird Edith Cavell im Osten Englands, nahe der Kathedrale von Norwich. Die Zeremonien sind auch in Filmen zu sehen: Menschenmengen, sehr viele Soldaten, viele Krankenschwestern - auch die in Uniformen und marschierend. 1920 wird in London ein Cavell-Monument des Bildhauers Sir Georg Frampton enthüllt. Eine zeitgenössische Denkmalkritik: 2. Zitator Da Sir George Frampton zweifellos geahnt hat, dass dieses Konglomerat und Ungetüm aus Stein von sich aus keinerlei Sinn vermittelt, hat er für den Passanten ein paar Inschriften installiert, damit dieser begreift, worum es bei dem Denkmal geht. ?Für König und Vaterland? steht da geschrieben, oder ?Hingebung? oder ?Opfer?. Außerdem gibt es eine Marmorstatue von Edith Cavell vorne auf einem Sockel. Diese Statue, obwohl ziemlich uninspiriert, ist das Beste an dem Monument; sie ist ein gutes Beispiel für die einfallslose Porträtkunst, wie sie an englischen Kunstakademien von jeher gepflegt wird. Sprecherin Filmaufnahmen zeigen die Statue bei der Enthüllung, die Statue im Spotlight in der Nacht, die Errichtung der Statue mit einem gigantischen Gerüst - während der Arbeit fährt ein Pferdefuhrwerk durchs Bild. Aufschrift: Cadbury?s Cocoa Chocolate. Sprecher 1920 kommen britische Justizbeamte zu dem Schluss, Edith Cavell sei von den Deutschen hart behandelt worden, ihre Hinrichtung jedoch rechtens, so dass ihr Fall aus den britischen Listen deutscher Kriegsverbrechen gestrichen wird. Sprecherin Am 17. September 1927 meldet der ?Evening Standard?: Der englische Regisseur und Produzent Herbert Wilcox arbeitet an einem Edith Cavell-Film. Der geplante Titel beschwört die Erschießung herauf: ?Dawn? soll der Film heißen. Am 27. September wendet sich der deutsche Botschaftsrat in London an den Staatssekretär des Foreign Office: Der Film sei eine Störung der Völkerverständigung und gehöre verboten. Antwort: die Regierung kann keine Filmzensur ausüben. Am 1. November drängt der deutsche Außenminister Gustav Stresemann den englischen Botschafter in Berlin, sich für ein Verbot des Films einzusetzen. Das Auswärtige Amt versucht auch über die Botschaft in Brüssel Einfluss zu nehmen. Das Foreign Office an die Botschafter in Berlin und Brüssel: natürlich keine Zensur, aber wenn sich beide Länder an den Produzenten wenden, will das Foreign Office das unterstützen, nur darf das nicht bekannt werden. Sir Austin Chamberlain, Englands Außenminister, muss vor dem Unterhaus die Frage beantworten, ob das Foreign Office von Versuchen anderer Länder weiß, Einfluss auf britische Filme zu nehmen. Chamberlain spricht von einer inoffiziellen Anfrage zu einem Film, Land und Titel bleiben unerwähnt. Gustav Stresemann und Austin Chamberlain, die für die Verträge von Locarno den Friedens-Nobelpreis bekommen haben, bewegt die Sorge, ein Cavell-Film könne in beiden Ländern Ressentiments provozieren. Chamberlain: 2. Zitator Heutzutage ist nichts heilig und Respekt ist ein ausrangierter Wert, aber die Idee eines Films über diese Person und auf diese Weise erfüllt mich mit einem Ekel für den mir die Worte fehlen. ... Wenn irgendetwas das lautere Gold von Miss Cavells Geschichte beschmutzen kann, es ist diese abscheuliche Ausbeutung. Sprecher Was also tun? Stresemann verärgern oder vor der britischen Öffentlichkeit als Zensor erscheinen? Sprecherin Begleitet von dem Bemühen, die Öffentlichkeit in Unkenntnis zu lassen, beschäftigen sich mit einem Film - den es noch gar nicht gibt - Minister und Botschafter, das British Board of Film Censors, das britische Kabinett, das Innen- und das Kriegsministerium, das Imperial War Museum, das London Council Committee, das National Council of Woman - und noch ein dritter Nobelpreisträger: George Bernard Shaw, der den fertigen Film gutheißen wird. Sprecher Im Februar 1928 beginnt - den Film kennt immer noch niemand - in der deutschen Presse eine Diskussion über das Filmprojekt. Notwendige Aufarbeitung der Geschichte oder antideutsche Propaganda? Sind solche Stoffe überhaupt für das Kino geeignet? Sprecherin Im April 1928 ist der Film fertig, Chamberlain weigert sich ihn anzuschauen. Der britische Zensor verbietet ihn. Der Produzent erwirkt die Freigabe für London durch das London Council Committee. Weitere regionale Freigaben folgen. Die Auflagen: Entfernt werden müssen der deutsche Soldat, der sich weigert, auf Edith Cavell zu schießen, seine anschließende Erschießung und die Gräber der beiden Toten. Wilcox erfüllt alle Auflagen. Eine ehemalige Kollegin von Edith Cavell, Ada Bodart, eine der 35 Angeklagten des Kriegsgerichtsprozesses in Brüssel und damals zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, gibt aus Protest gegen die Aufführung des Film ihren Orden zurück, The Order of the British Empire. Im Juni wird ?Dawn? in Berlin der Presse vorgeführt. Der Film ist anders als erwartet, ernst, pietätvoll. Alle haben für ihr Land gehandelt. Alle sind Opfer des Krieges. Der Produzent will auf den Weltmarkt. Der deutsche Markt fällt aus: Es findet sich kein Verleiher. Auch gerät der Film in den Windschatten der überaus erfolgreichen ersten Tonfilme. In einigen Ländern wird er verboten. Sprecher Während der Debatte in Deutschland, noch vor der Aufführung des Films, meldet sich Gottfried Benn zu Wort. Am 23. Februar 1928 erscheint im ?8-Uhr-Abendblatt der Nationalzeitung? sein Text ?Wie Miss Cavell erschossen wurde?. 1. Zitator Ich werde nur erzählen, wessen ich mich erinnere. Und ich erinnere mich ihrer, um es gleich zu sagen, als einer Handelnden, die für ihre Taten büßte, als der kühnen Tochter eines großen Volkes, das sich mit uns im Krieg befand. Ich war Oberarzt am Gouvernement Brüssel seit den ersten Tagen der Besetzung. Eines Abends im Spätherbst 1915 erhalte ich den Befehl, am nächsten Morgen an einer bestimmten Stelle auf ein Auto zu warten und an einen unbekannten Ort zu fahren. In das Auto steigen außer mir zwei Kriegsgerichtsräte, einer dienstlich, der andere aus Interesse. Wir fahren durch die dunklen Straßen zum Tir national, dem Scheibenstand der Brüsseler Garnison an der Peripherie der Stadt. Letzter Akt. Es dauerte kaum eine Minute. Die Kompanie präsentiert, der Kriegsgerichtsrat liest das Todesurteil vor. Der Belgier und die Engländerin bekommen eine weiße Binde über die Augen und die Hände an ihren Pfahl gebunden. Ein Kommando für beide: Feuer, aus wenigen Metern Abstand, und zwölf Kugeln, die treffen. Beide sind tot. Der Belgier ist umgesunken. Miss Cavell steht aufrecht am Pfahl. Ihre Verletzungen betreffen hauptsächlich den Brustkorb, Herz und Lunge; sie ist vollkommen und absolut momentan tot; ganz verkehrt, im Film zu sagen, dass sie angeschossen sich gequält habe und durch einen Fangschuss am Boden getötet worden sei. Sie war vielmehr noch während des Rufes Feuer sofort und unbezweifelbar tot. Nun schreite ich an den Pfahl, wir nehmen sie ab, ich fasse ihren Puls und drücke ihr die Augen zu. Dann legen wir sie in einen kleinen gelben Sarg, der abseits steht. Sie wird sofort beigesetzt, die Stelle soll unbekannt bleiben. Man befürchtet Unruhen wegen ihres Todes oder eine Nationale Prozession aus der Stadt, darum galt Eile und dann Schweigen um ihr Grab. ... Der Prozess gegen Edith Cavell galt etwa zwanzig Angeklagten, an ihrer Spitze die Engländerin. ... Interessante Verschwörer, soziales Durcheinander: die belgische Prinzessin Croy, die französische Gräfin Belleville, Intellektuelle, Rechtsanwälte, ein Apothekerpaar aus Namur, Ingenieur Baucq, ... schließlich armselige Kohlenarbeiter aus der Borinage, die man für ein paar Francs pro Nacht gemietet hatte, die Gruppen durch die Wälder zu führen. Abenteuerlust, Patriotismus, frechster Hohn gegen uns, die Boches, Anklagen der Verschwörer unter- und gegeneinander, Verzweiflung, Ohnmacht, nationale Verhetzung, alles spielte sich während der zwei Tage der Verhandlung vor uns ab. ... Wie ist die Erschießung von Miss Cavell zu beurteilen? Formell ist sie zu Recht erfolgt. Sie hatte als Mann gehandelt und wurde von uns als Mann bestraft. Sie war aktiv gegen die deutschen Heere vorgegangen, und sie wurde von diesen Heeren zermalmt. Sie war in den Krieg eingetreten, und der Krieg vernichtete sie? Ich glaube, dass die Frau von heute für diese Konsequenz nicht nur Verständnis hat, sondern sie fordert. ... Das große Phänomen des historischen Prozesses, sowohl als Ganzes tief und widersinnig wie im einzelnen tragisch und absurd, könnte es getragen und geschaffen werden von einer Menschheit, die mit Begnadigung rechnet? Nein, die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks, und die Pfosten des Pantheons sind mit Blut gestrichen derer, die handeln und dann leiden, wie das Gesetz des Lebens es befielt. Sprecherin 1932 wird Benn Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. 1933 setzt er große Erwartungen in den Nationalsozialismus. Er schreibt ihm mit verschiedenen Texten entgegen. Der Arzt Benn redet umfänglicher Sterilisierung Untüchtiger das Wort. 1. Zitator Das also Rasse Züchten auch immer heißt: Geist züchten. Sprecher Auf schreckliche Weise wird Benn Recht behalten, wenn er schreibt: 1. Zitator Das Maß an Interesse, das die Führung des neuen Deutschlands den Fragen der Kunst entgegenbringt, ist außerordentlich. Sprecher 1933 finden in Deutschlands Städten Bücherverbrennungen statt. Dazu hat Benn sich nie geäußert. Sprecherin Im selben Jahr wird Benn angegriffen. Börries Freiherr von Münchhausen ? auch er Mitglied der Akademie der Künste - bezeichnet die Expressionisten ? er nennt dabei ausdrücklich Benn - als Deserteure, Zuchthäusler und Verbrecher. Und der Freiherr bezeichnet Benn als Juden. Benn antwortet, die deutschen Expressionisten seien Arier, sich selbst bezeichnet er als einen 500-prozentigen. Sprecher 1934 ist Filippo Marinetti Gast in Berlin. Großer Empfang, Gottfried Benn, Vizepräsident der neuen Union Nationaler Schriftsteller, begrüßt seine Exzellenz Marinetti, das Mitglied der Königlich Italienischen Akademie, den Präsidenten des italienischen Schriftstellerverbandes, den Führer der Futuristen. 1. Zitator Ich bin sicher, dass Ihr für alle Dinge des Tapferen und des Ernsten so empfänglicher und schöpferischer Sinn den preußischen Stil in sich aufnehmen wird, erlauben Sie mir, Ihnen dessen aristokratischen und moralischen Rang noch einmal in der unvergleichlichen Maxime des Grafen Schlieffen vor Augen zu führen, sie lautet: ?Viel leisten, wenig hervortreten, mehr sein als scheinen? - eine Maxime, die sich neben allen Männermaximen romanischer und slawischer Völker wird behaupten können. Wir alle hoffen, dass Sie von Berlin den Eindruck mitnehmen und in Rom verkünden werden, dass die neue deutsche Gesinnung die beste alte in sich aufgenommen hat und unter der bedeutenden Führung berufen ist, an dem untheatralischen, an dem großartig kalten Stil mitzuarbeiten, in den Europa hineinwächst. ... Mitten in einem Zeitalter stumpf gewordener, feiger und überladener Instinkte verlangten und gründeten Sie eine Kunst, die dem Feuer der Schlachten und dem Angriff der Helden nicht widersprach. Ihr Manifest wirkte verblüffend, als es erschien, es wirkt heute noch verblüffender, da alle Ihre Formulierungen Geschichte wurden. Sie forderten die ?Liebe zur Gefahr?, die ?Gewöhnung an Energie und Verwegenheit?, ?den Mut?, ?die Unerschrockenheit?, ? die Rebellion?, ?den Angriffspunkt, ?den Laufschritt?, ?den Todessprung?, und dies nannten Sie ?die schönen Ideen, für die man stirbt?. ? Wir haben von hier aus verfolgt, wie Ihr Futurismus den Faschismus mit erschuf, ... und wir haben mit äußerster Spannung wahrgenommen, wie aus Ihrem futuristischen Gedankenkreis, seinem Willen, seinen Kampfstaffeln drei grundlegende Werte des Faschismus aufstiegen: das Schwarzhemd in der Farbe des Schreckens und des Todes, der Kampfruf ?a noia? und das Schlachtenlied Giovinezza-: wie ein moderner Künstler in den politischen Gesetzen seines Landes geschichtlich unsterblich wurde. das erblicken wir in Ihnen, unserem Gast aus Rom....Form und Zucht: die beiden Symbole der neuen Reiche; Zucht und Stil im Staat und in der Kunst: die Grundlage des imperativen Weltbildes, das ich kommen sehe. Die ganze Zukunft, die wir haben, ist dies: der Staat und die Kunst-, die Geburt des Zentauren hatten Sie in ihrem Manifest verkündet: dies ist sie. Sprecher Benn hält die Rede am 29. März 1934. Einen Monat später, am 25. April schreibt er an seinen langjährigen Briefpartner, den Juristen, Kaufmann und Kunstsammler Dr. Friedrich Wilhelm Oelze: 1. Zitator Lieber verehrter Herr Oelze, die Sache über Edith Cavell damals im Rundfunk wurde nichts, sie wurde im letzten Augenblick verboten. Sprecher Nicht überliefert ist, was Benn beabsichtigte. Noch einmal die Darstellung der Erschießung? Mit welchen Absichten? Benn weiß, dass Oelze oft in England ist und bittet ihn um Auskunft zu drei Prominenten Herren, die den Namen Benn tragen. 1. Zitator Ich wüsste nun sehr gerne, ob diese englischen Benns, direkt ausgesprochen, Juden oder Arier sind. Sprecher Im August 1934 schreibt er an Ina Seidel: 1. Zitator Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende. Sprecherin 1935 vollzieht Benn das, was er ?die aristokratische Form der Emigration? nennt, er tritt wieder in die Armee ein. 1936 wird er in der SS-Zeitung ?Das schwarze Chor? und im ?Völkischen Beobachter? diffamiert. ?Widernatürliche Schweinereien? heißt es da und ?warme Luft?; woraufhin Benn die Erklärung abgeben muss, nicht homosexuell zu sein. Im selben Jahr wird der Abdruck von 4 Gedichten verboten. 1936 schreibt und veröffentlicht Benn das Gedicht ?Einsamer nie ? ? 1954, zwei Jahr vor seinem Tod, hat er es selbst gesprochen: Originalton Einsamer nie als im August: Erfüllungsstunde -, im Gelände die roten und die goldenen Brände, doch wo ist deiner Gärten Lust? Die Seen hell, die Himmel weich, die Äcker rein und glänzen leise, doch wo sind Sieg und Siegsbeweise aus dem von dir vertretenen Reich? Wo alles sich durch Glück beweist und tauscht den Blick und tauscht die Ringe im Weingeruch, im Rausch der Dinge, -: dienst du dem Gegenglück, dem Geist. Sprecherin 1938 wird Benn aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Publikationsverbot. Benn sieht sich zu einer ausführlichen Stellungnahme an den Heeres-Sanitätsinspekteur der Reichswehr und Generalstabsarzt Prof. Dr. Anton Waldmann genötigt. Holger Hof hat das Schreiben 2011 in seiner Benn-Biografie veröffentlicht. 1. Zitator Meine Gegner werden zweifellos versuchen, mich als literarische Persönlichkeit zu verdächtigen und für untragbar zu erklären in der Richtung des Militärischen, der Wehrmacht. Ich bitte daher gehorsamst, Kenntnis nehmen zu wollen von dem beigefügten Band ?Was wir vom Krieg nicht wissen?, in dem mein Aufsatz über die Erschießung der Edith Cavell steht. Dieser Aufsatz erschien nachweislich 1928, also in der Hochblüte der demokratisch-pazifistischen Aera, des Kulturbolschewismus, wenn man es so ausdrücken will. Dieser Aufsatz ist national, militärisch und offiziersmässig. Er zeigt eindeutig meine positive, von Wehrwillen und militärischer Gesinnung getragene Weltauffassung. Es gehörte im damaligen Augenblick Unerschrockenheit dazu, die Dinge so darzustellen. Er ist nicht etwa durch Hinweise auf melancholische oder tragische Gedichte aufzuheben. Ich bitte, diesen Aufsatz in der Gesamtbeurteilung meiner Person nicht außer Acht lassen zu wollen. Sprecherin 1939 dreht der Engländer Herbert Wilcox einen zweiten Cavell-Film. Diesmal in Hollywood: ?Nurse Edith Cavell?: Remake einer weitgehend fiktiven Geschichte mit viel Nacht, Treppen, Türen, Flucht und Versteck, mit einer Krankenschwester ohne Neigungen und Wünsche, die zu Ruhe und Mut auffordert. Ohne Fragen sieht sie einem gottgewollten Ende entgegen. Premiere ist am 22. September 1939, da hat der 2. Weltkrieg bereits begonnen. 1940 wird Deutschland Belgien ein zweites Mal überfallen. Der 1. Weltkrieg rückt in weite Ferne. Sprecher Im 2. Weltkrieg ist Benns Brieffreund Oelze in Brüssel stationiert. Er bekommt Post: 1. Zitator 11.4.1942 Lieber Her Oelze, wenn Sie mal an einem Sonntag eine freie Stunde haben, gehen Sie bitte von der Port Louise aus die Avenue Louise herunter, recht Seite. Da geht bald die Chaussee de Charleroi ab, ein paar Schritte hinein u. wieder rechts kommt eine kleine Straße Rue St. Bernard Nr. 1. Gehörte mir u. meinem Burschen, ein großes Haus, einem Emigranten enteignet. Dort in der 1. Etage waren meine Wohn u. Arbeitszimmer. Dort wirkte Rönne in Hochblüte... Mein Standquartier war die Port Louise, dort die Kinos, die Cafés, vor allem das damals sehr elegante Café Toison d?or. Bald werden die großen Rhododendronbeete blühn dort und in der Avenue nach Tervueren. Darf ich Ihnen meinen Baedecker von Brüssel schicken? Er ist alt, 1914, oder haben Sie einen besseren? Sprecher 1952 ist Benn noch einmal in Belgien. Lyrikerkongress in Knokke. 1. Zitator ...da ich hier fremd bin und die meisten mich nicht kennen, erlaube ich mir zu erwähnen, dass ich der alten Generation angehöre, jener, die die expressionistische genannt wird und etwa um 1912 ihre Produktion begann, also wenige Jahre nach dem Erscheinen des futuristischen Manifestes von Marinetti, das am 20. II. 1909 im Pariser ?Figaro? stand, und das bis heute eines der eindrucksvollsten Dokumente der modernen Kunst geblieben ist. ...Ich beginne die Auseinandersetzung über die Lyrik meiner Generation mit einem Namen, der die größte Erschütterung in Deutschland war, die es gab ... - ich beginne mit Nietzsche. Wenn ich diesen Namen sage, bitte ich Sie, an nichts Politisches zu denken. Nietzsche hörte 1890 zu schreiben auf, er ist unschuldig daran, dass sich 50 Jahre später die Diktatoren ihr Bild bei ihm bestellten. Nietzsche führte uns aus dem Bildungsmäßigen, dem Gebildeten, Wissenschaftlichen, dem Familiären und Gutmütigen, das der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert vielfach eignete, in das gedanklich Raffinierte, in die Formulierung um des Ausdrucks willen, er führte die Vorstellung der Artistik in Deutschland ein, ? und er krönte alles dies mit drei rätselhaften Worten: Olymp des Scheins. Sprecher Benn nach der Veranstaltung: 1. Zitator ...ich hatte den Eindruck, es kam nicht an. Sprecher Nietzsche und Marinetti - und die Zuhörer sollen 1952 an nichts Politisches denken. Nicht an Nietzsches Rechtfertigung der Welt als ästhetisches Phänomen, nicht an Marinettis Verherrlichung des Krieges. Die Ästhetisierung der Politik, wo - mit den Worten von Serenus Zeitblom - ?das Avantgardistische mit dem Reaktionären zusammenfällt.? Kein Wort Benns über seine Kriegsjahre in Belgien. Sprecherin 2002 kommt eine BBC-Dokumentation zu dem Schluss, dass Edith Cavell höchstwahrscheinlich in Spionage verwickelt war und mit dem britischen Geheimdienst in Verbindung gestanden haben muss. In Queensgate ? einem Stadtteil des ostenglischen Peterborough - wurden Parkplätze nach Personen benannt, denen sich die Stadt verbunden fühlt. Einer davon trug den Namen Edith Cavell. Alle vier Parkplätze sind inzwischen mit Farben gekennzeichnet und benannt: Grün, Blau, Rot, Gelb. Die lokale historische Gesellschaft hat das beklagt. Andere fanden die alten Namen verwirrend. Jüngere Parkplatzbenutzer mögen sich gefragt haben: Wer um alles in der Welt ist Edith Cavell? Musik Absage: Edith Cavell, Dr. Gottfried Benn und andere Es beginnt im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs Ein Feature von Werner Dütsch Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2013. Es sprachen: Claudia Mischke, Walter Gontermann, Renate Fuhrmann, Jochen Langner und Reinhart Firchow. Ton und Technik: Ernst Hartmann und Anna Dhein Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Hermann Theißen 21