COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 26.1.2010, 19.30 Uhr "Feminismus im Négligé" Benoite Groult wird 90 Ein Porträt von Rebecca Partouche Musik ?Aux Champs-Elysées? Sprecherin 1 Das 8. Arrondissement liegt im Herzen von Paris. Zwischen Eiffelturm und Champs-Elysées. Hier befinden sich die Ministerien, die Nationalversammlung und die Militärakademie gleich neben den edelsten Geschäften der Stadt, exquisiten Modedesignern wie Christian Dior, Coco Chanel und Jean-Paul Gaultier. Gleich hinter der ?Ecole militaire? wohnt Benoite Groult. In einem der typischen Pariser Wohnhäuser mit dezenter barocker Fassade und hohem Mansardendach, der Eingang flankiert von einer edlen Modeboutique und einem teueren Antiquariat. Eine steile Treppe führt zu ihrer Wohnung in der dritten Etage im Hinterhaus. Ein Namensschild gibt es nicht. Dafür einen goldenen Türklopfer, in Form eines Wals. Darunter eine Klingel. Ich entscheide mich für die Klingel. Musik ?Aux Champs-Elysées? geht ihn Atmo über. Atmo nicht übersetzen Klingeln. ?Bonjour, Madame Groult? ?Bonjour, vous etes juste à l´heure» Sprecherin 1 Vor mir steht eine agile, kleine Person, mit wachem Blick und keckem Lächeln. Kurze Haare, sportlich maritime Kleidung. Dazu Turnschuhe. Kaum zu glauben, dass meine Gastgeberin schon 90 Jahre alt sein soll. Hinter ihr auf dem Boden liegt ein geöffneter Koffer. Gerade noch war sie in Hyères, jetzt ist sie schon wieder auf dem Sprung an die bretonische Küste. Musik ?La Mer? (hochziehen und unter Text stehen lassen) Sprecherin 1 Dort verbringt die Autorin die meiste Zeit des Jahres. Und dort ist sie aufgewachsen. Das Meer ist auch hier, in ihrer Stadtwohnung, präsent: Muscheln, Krebse, Bilder vom Meer und alles in Blau gehalten. Sprecherin 2 (O-Ton 1 ? Groult) Das Meer! Das Meer! Alle meine Häuser schauen aufs Meer, natürlich nicht hier ? in Paris ? aber in Hyères und in der Bretagne wohne ich direkt am Meer. Und natürlich habe ich auch blaue Augen. Blau steht für die Unendlichkeit, azurblau ? ?l ázur, l´azur, l´azur? wie der Dichter Mallarmé so schön sagt. [...] Haben sie den kleinen Walfisch an meiner Tür gesehen? Den hat mir mein Amerikaner geschenkt. Kurt. Ja, ich habe ihn immer behalten. Atmo Meeresrauschen hochziehen Sprecherin 1 Kurt ist das Vorbild für die männliche Hauptfigur in ihrem weltberühmten Roman ?Salz auf unserer Haut?. Es ist die Liebesgeschichte eines bretonischen Fischers und einer jungen Pariser Intellektuellen, die sich immer wieder treffen, über mehrere Jahrzehnte, bis zu seinem Tod. Nur dass Kurt im Gegensatz zu Gauvain aus dem Roman nicht Fischer war, sondern Pilot, nicht Bretone, sondern deutscher Exiljude. Aber die große Liebe im Roman ist auch die große Liebe von Benoite Groult. Und ihr amerikanischer Pilot war genauso hübsch, muskulös und? ungebildet wie der bretonische Fischer aus dem Buch. Sprecherin 2 (Zitat 1) Ich war achtzehn, als Gauvain in mein Herz und für immer in mein Leben getreten ist. Aber wir wussten es nicht, er nicht und ich nicht. Ja, doch, mit dem Herzen hat es angefangen, oder mit dem, was ich damals dafür hielt und was zunächst nichts anderes war als die Haut. Er war sechs oder sieben Jahre älter als ich, Seemann und Fischer. Die Kindheit hielt sich noch in seinen Augen, die Jugend konnte man von seinem arroganten Mund ablesen, und männliche Kraft verrieten sowohl die breiten Hände, als auch der schwerfällige Gang: Jeden Schritt sicherte er sich ab, als glaubte er sich ständig auf dem Deck eines Schiffes. Sprecherin 1 Mehrere Jahrzehnte hat Benoite Groult ihren Piloten geliebt - parallel zu ihrem letzten Ehemann ? dem Schriftsteller Paul Guimard, mit dem sie fast ein halbes Jahrhundert verheiratet war. Paul starb vor sechs Jahren, Kurt viele Jahre früher. Sie war bis zum Ende bei ihnen. Es mag merkwürdig klingen, aber Benoite Groult ist immer ein sehr treuer Mensch gewesen, treu in ihrer Fürsorge und in ihrem romantischen Liebesabenteuer. Und sie war ehrlich: Beide Männer wussten voneinander. Die Rollen waren klar verteilt. Mit Ehemann Paul teilt sie die Liebe zu Büchern. Er führt sie ans Schreiben heran und ermutigt sie, Schriftstellerin zu werden. Mit Liebhaber Kurt teilt sie? das Bett. Sprecherin 2 (O-Ton 2? Groult) Es war ein so wunderbarer Ausgleich zu meiner Ehe mit Paul [...] Ich fühlte mich immer als wäre ich 18 mit ihm. Er begehrte mich und fand mich göttlich, Kurt hat mir immer gesagt ? obwohl er auch verheiratet war und Kinder hatte ? wenn du mich willst, komme ich nach Frankreich, du wirst Bücher schreiben, und ich werde für dich kochen. Ich aber dachte: Der ist doch komplett ungebildet, hat keine Ahnung von Ludwig XIV, Voltaire, Diderot, ich kann nicht mit ihm zusammenleben. [...] Sprecherin 1 Kurt lebt die ganze Zeit in Amerika, sie in Frankreich. Die große Entfernung ist die Voraussetzung für ihre Beziehung. Denn ein gemeinsamer Alltag kam für Benoite Groult nie in Frage. Sprecherin 2 (O-Ton 3 ? Groult) Was hätte ich den ganzen Tag gemacht in einer kleinen amerikanischen Stadt, während ich auf meinen Piloten gewartet hätte, der mir von Flugzeugunglücken erzählt hätte. Ich hätte es grade mal 15 Tage ausgehalten, aber keine drei Monate. Sprecherin 1 Mittlerweile ist Benoite Groult 90 Jahre alt, aber wenn sie von Kurt erzählt, leuchten ihre Augen. Man spürt noch die Leidenschaft. Es ist die Erinnerung an diese kurzen, intensiven Tage und Nächte, in denen sie nur ?Körper? war. Kurt ist seit vielen Jahren tot, aber er ist immer noch Thema ihres Schreibens. In ihrem Buch ?Salz des Lebens? von 2006 beschreibt sie ihre Beziehung noch einmal. Diesmal heißt Kurt? Brian. Musik Violinen-Quartett (langsam hochziehen) Sprecherin 2 ( Zitat 2) Brian war dreißig Jahre alt und Pilot bei einer Privatgesellschaft in Dublin. Marion war neunzehn und bereitete in Paris ihr Staatsexamen in Geschichte vor. Sie war braunhaarig mit blaugrauen Augen, ernst, hübsch, ohne es zu wissen, und schüchtern. Sie zweifelte an ihrer Verführungskraft und an der Möglichkeit, im Leben zu reüssieren. Aber gerade bei diesen beiden war es keinerlei Frage der Verführung oder Taktik, und sie waren sparsam mit den üblichen Annäherungsstrategien. Beim ersten Blick überschwemmte sie eine Welle, die gar keine Muße hatte zu diskutieren. Als Brian nach einigen Tagen wieder aufbrach, hatte sich ein unreißbares Band zwischen ihnen gesponnen. Es war, als ob jeder von der ersten Begegnung an sich für sein ganzes Leben in dem anderen eingenistet hätte. Musik. Violinen-Quartett (Musik reißt ab) Sprecherin 1 Überall auf der Welt steht Benoite Groult mit ihren Büchern für leidenschaftliche und tabulose Begierde. Eine Begierde, die sie selbst gelebt hat und die sie ebenso leidenschaftlich verteidigt. Dieselbe Frau, die sich lange Zeit für einen frigiden Eisblock hielt. Benoite Groult ist 40, als sie ihren ersten Orgasmus hat, 65 als sie darüber erzählt. Ein erstaunliches Alter für einen erotischen Debütroman. Musik (20er Jahre) Charleston. Langsam einblenden. Sprecherin 1 Es war ein langer Weg, von einer totalen Abneigung zu einem tiefen Verständnis von Sexualität zu kommen. Als Reaktion auf eine exaltierte Mutter, die Sexualität zu ihrem Lieblingsthema gemacht hat, sperrt sich die junge Groult gegen jede Form von Sinnlichkeit. Sie versteckt ihren Körper, flirtet nicht und tritt burschikos auf. Musik Charleston hochziehen. Sprecherin 2 (O-Ton 4 ? Groult) Das da ist meine Mutter, sie sehen den Haute-Couture-Stil [olala], Ja, es war sehr beeindruckend, die Tochter einer solchen Dame zu sein, da ?sehen Sie, sie sah aus wie ein richtiges Top Model. Nur, dass sie ihre Kleider selber nähte? Sprecherin 1 Auf den Fotos posiert ihre Mutter wie eine Diva: eine typische Schönheit der wilden 20er. Sie trägt eine Pagenfrisur, raucht Zigarillos und wechselt verliebte Blicke mit ihrer lesbischen Freundin ? der Malerin Marie Laurencin. Sprecherin 2 (O-Ton 4 weiter ? Groult) ?Schauen Sie da, mit ihrer Freundin Marie Laurencin, sie war meine Patin, man sieht ihren verliebten Blick?ja es war wirklich eindrücklich, eine solche Mutter zu haben, so elegant, so grell?.ich dachte: nie, nie werde ich das erreichen können. Und als ich 20 war ? das waren andere Zeiten, halb Frankreich war besetzt, da ging es nicht mehr darum, elegant zu sein?Ich wurde vollkommen von ihr erdrückt?damals dachte ich nur: Ich werde nie so glänzen können wie sie. Sprecherin 1 Die Mutter führt offene lesbische Beziehungen, trägt ihre intimsten Phantasien in surrealistischen Künstlerkreisen vor. Und vor allem: Sie dämonisiert die männliche Sexualität. Mit krankhaft monströsen Bildern verschreckt sie die junge Groult, so wie sie selbst von der eigenen Mutter verschreckt wurde. Sprecherin 2 (O-Ton 5 ? Groult) Am Vorabend der Hochzeitsnacht meiner Mutter, hatte ihr die eigene Mutter, meine Großmutter, einen Nässeschutz unter das Laken geschoben. Meine Mutter fragte: ?Warum hast du einen Nässeschutz unter das Laken geschoben? Ich werde doch nicht bluten.? ? ?Oh, doch, meine Kleine. Alle Frauen bluten. Der Mann kommt als Eroberer, der seinen Pflugscharen in sie hineinstößt. Und meine Mutter, die nicht wusste, wie ein Mann gebaut war, war beim Anblick meines Vaters völlig verschreckt, sie hat sich gefragt, was soll ich damit anfangen.? Sprecherin 2 (O-Ton 6 ? Groult) Und ich selbst kam erst 12 Jahr nach ihrer Hochzeit zur Welt. Mein Vater war sehr beeindruckt von der Autorität meiner Mutter. Sie hat ihr Liebesleben mit Männern völlig verpatzt. Das kann man schwer wieder gut machen. Das ist der Grund, weshalb sie eine Liebesbeziehung zu ihrer Freundin Marie Laurencin hatte, während der vier Kriegsjahre, in denen viele Frauen zueinander gefunden haben. Am Ende ist sie doch zu einem Gynäkologen gegangen. Dem hat sie gesagt: ?Schauen Sie, ich bin nicht normal. Ich kann den Anblick der Geschlechtsorgane meines Mannes nicht ertragen.? Er hat ihr geantwortet: ?Doch Madame, Sie sind völlig normal. Man muss es doch nur da reinstecken.? Sprecherin 1 Bei allem Theaterdonner um ihre eigene Sexualität unterschlägt die selbststilisierte Diva ihrer Tochter das Wesentliche: nüchterne Aufklärung. Mit 20 hat Benoite Groult immer noch keine Ahnung von ihrem Körper, geschweige denn von dem eines Mannes. Dafür steckt sie voller nebulöser, freudianischer Schreckensbilder ? erigierte Lanzen, Pflugscharen und blutige Schwerter. Um dem zu entkommen, beschließt sie, Medizin zu studieren. Sie will ein sachliches Gegengewicht zur überspannten Welt der Mutter. Benoite Groult sehnt sich nach Objektivität. Die Mutter aber will aus ihr eine Künstlerin machen und verbietet ihr das Medizinstudium. Also heiratet die zum Studium der alten Sprachen verdonnerte Groult einen Medizinstudenten. Aber auch der hat keine Ahnung. Sprecherin 2 (O-Ton 7 ? Groult) Ich wusste nicht, wie eine Frau gebaut war und auch noch nichts über Orgasmus, ich wusste nichts. Und er, ein junger Mann und Medizinstudent, wusste auch nichts. Vor unserer Ehe schliefen wir im Haus seiner Eltern miteinander, in seinem Zimmer, und hatten dabei immer Angst, dass sein Vater reinplatzen könnte. Der hatte drei Söhne, für jeden ein Zimmer, alle in einem Flur. Wie hätte man sich da entfalten können? Sprecherin 1 Gemeinsam hocken sie über seinen Anatomiebüchern. Dabei stößt Benoite Groult auf das Thema, das sie nicht mehr loslassen wird: den Körper der Frau. Es war schon das Thema ihrer Mutter. Benoite Groult geht aber völlig anders damit um. Mit der Genauigkeit einer Wissenschaftlerin untersucht sie die weibliche Anatomie, die für ihre Künstler-Mutter im Grunde immer ein Geheimnis war. Sie schaut genau hin und benennt, was sie sieht. Benoite Groult ist die erste Frau in Frankreich, die das Wort ?Vagina? öffentlich ausspricht und aufschreibt. Vielleicht konnte sie das auch besser als andere, weil es bei ihr nie einen Hauch von Anrüchigkeit hatte. Faktisch und direkt spricht sie von Tabuthemen wie von Natur-Phänomenen. Als erste beschreibt Benoite Groult das Ausmaß der Abtreibungen in Frankreich. Und die Gründe dafür. Sprecherin 2 (O-Ton 8 ? Groult) Alle Frauen trieben ab, zwischen einem und sieben bis acht Mal in ihrem Leben, die Reichen, die Armen. Ansonsten hätten wir alle zwölf Kinder bekommen, wie in Quebec. [..] Ich zum Beispiel war alle drei Monate schwanger. Dass viele Frauen bei Abtreibungen starben, ahnte man, aber man durfte es nicht aussprechen. Erst unter der Gesundheitsministerin Simone Veil kam das Ausmaß der geheimen Abtreibungen ans Licht: 800 000 im Jahr. Das ist enorm. Das heißt, dass jede Frau im Laufe ihres Lebens mehrfach abtreiben musste und dabei wie eine Kriminelle behandelt wurde. Denn man riskierte ja, ins Gefängnis zu kommen. Die letzte Frau, die in Frankreich 1943 guillotiniert wurde, hatte Abtreibungen vorgenommen. Sie war Wäscherin und verdiente hin und wieder Geld mit Abtreibungen?. Das war auch nicht schwer. Sprecherin 1 Benoite Groult weiß, wovon sie spricht. Sie hat, nachdem sie zwei Kinder geboren hatte, sieben Abtreibungen bei sich selbst vorgenommen. Die selbst durchgeführten Abtreibungen waren ihre ersten feministischen Taten. Denn nicht der Staat, sondern die Frau selbst sollte über ihren Körper bestimmen können. Während die Pariser Elite feministische Essays schreibt, agiert sie. Erst später, mit Mitte 50, verfasst Benoite Groult ihr großes Manifest: ?Ainsi soit-elle? (auf Deutsch: ?Ödipus Schwester?) ist die Geschichte der körperlichen Selbstbestimmung der Frau. Darin schreibt sie über Abtreibung, Verhütung und Clitoris-Beschneidungen ? nicht nur in Afrika, auch in Europa. Sprecherin 2 (O-Ton 9 ? Groult) Wenn ich mir vorstelle, dass die Urenkelin Napoleons ? Marie Bonaparte, sich die Klitoris hat operieren lassen, weil Freud ihr gesagt hat, dass die Frau nur durch die Penetration des Mannes einen Orgasmus haben kann. Also hat sie sich die Klitoris in die Vagina verlegen lassen, um einen Orgasmus bekommen zu können. Ich finde es ungeheuerlich, dass der Vater der Psychiatrie so wenig von der weiblichen Sexualität verstand, dass er von "Penisneid" sprechen konnte. Sie haben sehr interessante Organe, die Frauen. Es stimmt nicht, dass sie davon träumen, einen Penis zu haben. Er ist auch so hilflos, ein Penis, er gehorcht einem nicht. Sprecherin 1 Für Benoite Groult ist Freud noch heute ein rotes Tuch. Sie hält ihn für inkompetent, was die weibliche Sexualität betrifft. Und sie hält ihn für einen Märchenerzähler. Sie macht keinen Unterschied zwischen afrikanischen Beschneidern und Freuds Theorien. Damit stand Benoite Groult erstmal ganz alleine da, denn in den 70er Jahren beriefen sich alle anderen französischen Feministinnen auf Freud. Als ihr Buch ?Ödipus Schwester? in Frankreich herauskommt, wird es ein großer Erfolg. Aber die feministischen Pariser Zirkel ignorieren das Buch, weil es ihnen zu empirisch ist. Allen voran die damals 65jährige Meinungsführerin ? Simone de Beauvoir Sprecherin 2 (O-Ton 10 ? Groult) Simone de Beauvoir hatte einen Artikel für die Zeitung ?Le Monde? geschrieben?. über Folter im Algerienkrieg. Es ging um französische Fallschirmjäger, die die Freiheitskämpferin Djamila Boupacha gefoltert hatten. Und de Beauvoir hatte zuerst geschrieben: ?Die Fallschirmjäger hatten ihr Glasflaschen in die Vagina geschoben, um sie zum Sprechen zu bringen.? Woraufhin der Direktor von Le Monde Madame de Beauvoir ? renommierte Schriftstellerin von 50 Jahren, Philosophin, Historikerin ? anrief, um ihr zu sagen ?Madame, das Wort ?Vagina? passt nicht zu Le Monde?. Und der Chefredakteur schlug vor: ?Schreiben sie doch stattdessen ?Bauch?.? Und de Beauvoir hat das zugelassen, weil alle das Gefühl hatten, dass eine Vagina etwas Schmutziges ist. Sprecherin 1 Nicht nur ist das Wort ?Bauch? in dem Fall schlicht falsch, das Problem für Benoite Groult ist vor allem, dass dadurch die sexuelle Demütigung unterschlagen wird. Aber mit dieser Meinung steht sie zunächst allein da. Sie ist lange Zeit das schwarze Schaf des französischen Feminismus. Denn die elitären Pariser Zirkel beschäftigen sich in den 70er Jahren lieber mit Psychoanalyse und Philosophie, speziell dem Dekonstruktivismus. Musik Komplizierte Violinenmusik Sprecherin 1 Den französischen Feministinnen ist Benoite Groult nicht philosophisch genug, den deutschen ist sie zu literarisch. Die lesen lieber authentische Berichte von Betroffenen, Frauenschicksale zum Anfassen ? wie in Alice Schwarzers ?Der kleine Unterschied.? Benoite Groults ?Ainsi soit-elle?, das ebenfalls 1975 erscheint, wird zunächst gar nicht übersetzt. Kristina Schulz, Professorin und Autorin mehrerer Werke zur Frauenbewegung in Frankreich und Deutschland: O-Ton 11 ? Kristina Schulz (deutsch) Wenn man diese beiden Bücher vergleicht ?Ainsi soit-elle? von Benoite und ?Der kleine Unterschied? - geschrieben im selben Jahr -, dann sieht man, dass der deutsche Feminismus einen ganz anderen Zugang hat. Das ist ein Buch, das sich soziologisch informiert, [?] das lässt die Stimmen der Betroffenen zu Wort kommen, das basiert auf Interviews, und das beackerte ein Feld, das in Deutschland wahrgenommen werden konnte, das benutzte Methoden, die dort verständlich waren und die sich an ein Publikum richteten, das etwas damit anfangen konnte. Dieser eher literarisch-philosophische Zugriff von Benoite Groult, das war nicht das, womit die deutschen Feministinnen etwas anfangen konnten. Sprecherin 1 In Deutschland wird Benoite Groult erst Ende der 80er Jahre wahrgenommen. Aber als Liebesexpertin. Die Deutschen wissen noch nicht mal, dass Benoite Groult Feministin ist. Sie kennen nur ein einziges Buch, es heißt: ?Les vaisseaux du coeur?, auf Deutsch: ?Salz auf unserer Haut?. Musik Jane Birkin, Je t´aime Sprecherin 1 Die Geschichte einer Pariser Intellektuellen, die sich in einen bretonischen Fischer verliebt, ist für Groult die Geschichte einer Selbstbestimmung. Nach ihren Essays über Abtreibungen und Beschneidungen ? also über die Misshandlungen des weiblichen Körpers ? geht sie zu den körperlichen Freuden über. Sie erzählt von der Schönheit einer jahrzehntelangen sexuellen Beziehung so offen und direkt, wie man das zu der Zeit weder in Frankreich noch in Deutschland kannte. Und da es um Freude geht, wird auch der Ton sinnlicher, und sie wählt ein anderes Genre, schreibt keinen Essay sondern einen Roman. Sprecherin 2 (Zitat 3) Endlich kam Gauvain und rannte den felsigen Abhang hinunter. Ich hatte mich auf ein in den Sand gezogenes Boot gelehnt, um mich gegen den Wind zu schützen; die Arme um die Knie geschlungen, saß ich da, in einer Haltung, die mir zugleich sportlich und romantisch erschien? [?.] Gauvain hat mich an beiden Händen gepackt, um mich schneller hochzuziehen, und noch bevor ich ein Wort sagen konnte, hat er mich heftig an sich gepresst, sein Bein sofort zwischen meine geschoben und mit dem Mund mir die Lippen geöffnet, meine Zunge hat sich an seinem kaputten Zahn verfangen, meine Hand ist zum ersten Mal unter seine Jacke geglitten, in seine duftende Wärme [?] und wir lösten uns aus der Betriebsamkeit des Tages und tauchten uns in die fast unerträgliche Einfachheit der Liebe. Sprecherin 1 In Deutschland wird der Roman als Ratgeber in Liebesfragen enthusiastisch gefeiert. Das Buch verkauft sich über 2,5 Millionen Mal und wird einer der erfolgreichsten Liebesgeschichten aller Zeiten. Und Benoite Groult zur Liebesexpertin schlechthin. Sprecherin 2 (O-Ton 12 ? Groult) Ich fuhr oft zu Lesungen nach Deutschland. [?] Die Leute hörten mir zu, als sei es das Evangelium. Sie wollten wissen, wie man 50 Jahre lang eine glückliche Ehe führen kann und gleichzeitig eine Affäre, ein Stück Traum, der einem ermöglicht den Alltag zu ertragen. Und wie man eine Balance erreichen kann, ohne das eigene Leben zu gefährden. Und die Beziehung zu den Kindern. Sie dachten, dass wir in Frankreich vielleicht die Antwort haben. Schließlich hatten wir das 18. Jahrhundert, die Salons, die Kurtisanen? [?] Und es ist bestimmt sehr französisch, dass bei Mitterands Beerdigung, auf der seine Ehefrau und sein Sohn waren, gleichzeitig seine Geliebte auftauchte. Meine Geschichte fügte sich ein in diese französische Tradition der Doppelleben, der amourösen Arrangements. Sprecherin 1 Für die Deutschen ist Frankreich offenbar immer noch mit Galanterie und Erotik verbunden. Die deutsche Verfilmung von ?Salz auf unserer Haut? (mit Greta Scacchi und Vincent D'Onofrio) setzt ganz auf Romantik. Und Produzent Bernd Eichinger legt kräftig Weichzeichner und Geigenklänge über den Stoff. Sprecherin 1 Der Film wird in Frankreich bereits nach einer Woche abgesetzt. Die Kritiken sind verheerend. Die Franzosen schauen verständnislos auf die Begeisterung ihrer deutschen Nachbarn. Und Benoite Groult? staunt noch mehr über den extrem romantischen Blick der Deutschen: Sprecherin 2 (O-Ton 14 ? Groult) Ich weiß nicht, durch welchen Zufall der Roman ?Salz auf unserer Haut? in Deutschland eine so außergewöhnliche sentimentale Karriere gemacht hat. [...] Liegt es am Sinn der Deutschen für Romantik? Als ich einmal in Begleitung meines Mannes in Deutschland auf Lesereise war, wollten viele den Mann anfassen, der mit mir schlief, als wäre ich die Heilige von Lourdes, als wäre ich Teil eines Märchens, einer zeitlosen Geschichte wie ?Romeo und Julia?. Es war ein außergewöhnliches Phänomen in Deutschland. Sprecherin 1 Man versteht die Verwunderung der Autorin umso mehr, wenn man weiß, dass ihr Buch in Frankreich als Frauenporno verschrieen war. Für die französische Kritik war Benoîte Groult nichts weiter als eine ?frustrierte Lesbe?, die, Zitat: ?nicht hinreichend durchgevögelt wurde?, wie es die seriöse Zeitschrift Le Nouvel Observateur anmerkte. Die Kritik in Frankreich ging nicht ohne Grund unter die Gürtellinie. Denn mit ihrem Buch "Salz auf unserer Haut" hatte die damals 65jährige Autorin mit großer anatomischer Genauigkeit ein völlig neues Themengebiet erschlossen: den weiblichen Intimbereich und die weibliche Libido - von ungünstig gelegenen Herpesbläschen bis zu Anwendung von Vaginalcreme. Sprecherin 2 (O-Ton 14 ? Groult) Als ich «Salz auf unserer Haut » geschrieben habe, war ich schon 65. Ich hätte mich nicht getraut, das Buch in jüngeren Jahren zu schreiben, weil das Thema sehr gewagt war für eine Frau. Als ich zur berühmten Literatursendung  Apostrophe  eingeladen wurde, sagte der Moderator Bernard Pivot: ?Oh, Benoite Groult, sie werden die Leute zum Erröten bringen. Was sagt denn ihr Mann dazu?? Fragt man denn einen Autor, der Pornos schreibt: ?Was wird ihre Frau dazu sagen?? Während die Männer dieses Vokabular schon seit Jahrhunderten benutzen, mussten wir Frauen weiter wohlerzogen sein. Von Sex reden, ohne ?Sex? zu sagen, von der Vagina, ohne ?Vagina? zu sagen. Sprecherin 1 Mit 90 schaut Benoite Groult auf ein erfülltes Leben zurück. Sie gab den französischen Frauen das Vokabular, um über ihren Körper zu sprechen. Und ihr ist es auch zu verdanken, dass jetzt viele französische Berufsbezeichnungen eine weibliche Endung haben. Wie ?ecrivaine?? Schriftstellerin. Es war immer ihr Anliegen, nüchtern zu beschreiben, was sich ihr darbietet. Und so wie sie über die Leiden und die Freuden des weiblichen Körpers geschrieben hat, schreibt sie inzwischen auch über das Altern des Körpers. In ihrem Altersroman ?Touche Etoile? (in Deutschland übersetzt als ?Salz des Lebens?) ist sie genauso schonungslos und direkt wie früher. Aber etwas ist dazugekommen: Humor. Sprecherin 2 (Zitat 4) Heute ist das unangenehme Alter das unsere geworden. Hat man die fünfundsechzig oder die siebzig überschritten (von denen, die danach kommen, rede ich gar nicht), ist das Anziehen keine Vergnügungstour mehr. Die Namen der Marken allein entmutigen einen: Wie sich bei Les Copains, Petite Nana oder Zazie zurechtfinden?? Die Verkäuferinnen sind achtzehn Jahre alt und die Verkäufer im Alter der Verachtung. Die richtige Unterwäsche zu finden ist noch deprimierender, wenn man kein Interesse mehr daran hat, seine Tweedjacke über der nackten Brust zu öffnen oder seinen Bauchnabel zur Schau zu stellen. Zwischen dem verführerischen Minislip und Pampers wird nichts angeboten. Die Designer der weiblichen Unterwäsche sind Versager. Musik: Violinenmusik langsam einblenden. Sprecherin 1 Aber Benoite Groult hat durchaus einen Weg gefunden, sich hübsch zu machen. In ihrem sportlichen blauen Segeldress sieht die strahlende Frau aus, als wolle sie gleich davon segeln. Die Faceliftings, aus denen sie kein Geheimnis macht, stehen ihr gut. Mit 90 ist Benoit Groult noch so frisch und lebendig, dass man sich ohne weiteres zu fragen traut, wie es denn jetzt mit den Männern sei? Sprecherin 2 (O-Ton 15 ? Groult) Ein Feuerwehrmann im Zug neulich, hat mir einen kleinen Zettel zugesteckt ? ?sie waren so schön?. Er ist Feuerwehrmann in der Provinz. Wir haben uns zwei, drei Monate lang geschrieben. Ich habe ihm ein Buch zukommen lassen. Aber in der Regel sind 90 Jahre ein unüberwindliches Hindernis. Mein Verfallsdatum ist abgelaufen. Dabei schaue ich den Männern noch nach, bin gerührt im Kino, wenn ich einen Mann sehe, der mir gefällt. Aber die Frauen sind viel intelligenter, sie können einen behinderten Mann lieben, in einem Rollstuhl, wenn er schöne Augen hat, wenn er intelligent ist, wenn er mit ihnen zu reden weiß. Frauen sind in der Lage, sich auch dann zu verlieben. Ich glaube, bei den Männern, da gibt es vielleicht einen in einer Million, der sich so verlieben kann?. Kurt hätte dazu gehört. Ganz sicher. Er hätte mich nicht altern sehen. Und ich hätte mich immer noch als Frau gefühlt? Musik blendet aus. Übersetzungen: ?Salz auf unserer Haut?, übersetzt von Irène Kuhn ?Salz des Lebens?, übersetzt von Barbara Scriba-Sethe ?Meine Befreiung?, übersetzt von Barbara Scriba-Sethe und Irène Kuhn 14 14.01.09