Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Collateral Fake? Wikileaks zwischen Verfolgung und Propaganda Autor: Marc Thörner Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: WDR/Deutschlandfunk 2022 Erstsendung: Dienstag, 20.09.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Denis Moschitto, Wolf Aniol, Jean-Paul Baeck, Jochen Langner, Nicole Kersten und Bernd Reheuser Technische Realisation: Peter Harrsch Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Musik Atmo: Slogan: "Free Assange!" Autor: 28. Februar 2022. Tag vier des Ukraine-Krieges. Zitator 1: "Durch die gegenwärtige russische Invasion der Ukraine haben Hacker ihre Aktivitäten weltweit verstärkt." Atmo: Slogan: "Free Assange!" Zitator 2: "Die Ukraine hat zum ungewöhnlichen Mittel gegriffen, Freiwillige aus dem internationalen Hacker-Untergrund um Hilfe zu bitten. Atmo: "Telling the truth is not a crime!" Zitator 1: "Währenddessen hat es die Transparenz-Organisation Wikileaks anscheinend unmöglich gemacht, bei sich entsprechende Leaks einzuspeisen." Atmo: "Save passage for Julian!" O-Ton Nick Waters: Since the beginning of the war, since the Russian invasion of the Ukraine, all their e-mail-services have been down and their secure-drops have been down. They're basically accepting no information. Sprecher 3: Seit Kriegsbeginn, seit der russischen Invasion in der Ukraine, hat Wikileaks seinen gesamten E-Mailverkehr ausgesetzt. Und alle Briefkästen, die Leaks entgegennehmen, sind ebenfalls de-aktiviert. Sie nehmen keine Informationen mehr an. Autor: Was das Online-Medienportal Daily Dot verzeichnet, was Nick Waters von der Rechercheplattform Bellingcat seit Monaten beobachtet, das fragen sich auch viele andere: Was ist aus Wikileaks, der Mutter aller Enthüllungsplattformen geworden, seit die USA Julian Assange zum Staatsfeind erklärt haben? Hacker-Gruppen und Betreiber anderer Leakingportale werfen ihr schon lange vor, kremlkitische Datensätze nicht anzunehmen. Atmo Demonstration, Slogans "Free Assange" Wikileaks-Gründer Julian Assange drohen in den USA 175 Jahre Haft. Angesichts seiner Verfolgung gilt er Vielen als Ikone der Presse- und der Meinungsfreiheit. Menschenrechts- und Journalistenorganisationen haben ihm dafür Preise verliehen. Sein Projekt Wikileaks steht stellvertretend für Transparenz und Information. Warum leakt Wikileaks plötzlich nicht mehr? O-Ton Nick Waters: Wikileaks is incredibly difficult to get informations out of. It's incredibly opaque. For an organisation that is for radical transparance - they are not transparent as an organisation at all. Sprecher 3: Es ist unglaublich schwierig, Informationen zu bekommen. Wikileaks ist ausgesprochen undurchsichtig. Für eine Organisation, die sich für radikale Transparenz stark macht, sind sie alles andere als transparent. Atmo: Helikopter Ansage: Collateral Fake. Wikileaks zwischen Verfolgung und Propaganda. Ein Feature von Marc Thörner Atmo: Video Collateral Murde: Stimmen der Piloten Autor: Weit oben am Himmel über Bagdad: Junge Männer mit guten Abiturnoten, Zwanzigjährige. Der Stolz ihrer Freundinnen und Familien. Sie zielen sorgfältig; feuern MG-Garben, zerfetzen Unbewaffnete. Atmo Collateral Murder Sie töten auch die Berichterstatter einer Nachrichtenagentur und einen Autofahrer, der Verletzten zu Hilfe eilt. Auch zwei seiner Kinder werden schwer verletzt. Atmo Collateral Murder Wahrgenommen hatte ich Wikileaks zum ersten Mal durch ‚Collateral Murder'. Den Einsatzmitschnitt eines US-Hubschraubers über der irakischen Hauptstadt. Im April 2010 geht das Video um die Welt. Dass Krieg so ist, haben wir wohl immer geahnt. Jetzt aber lässt es sich auch von Jedem mitverfolgen. Im Internet. Mit wenigen Klicks. Atmo Collateral Murder Musik Autor: Wer schafft es, dass so etwas öffentlich wird? Darüber rätsele ich, wie viele andere. Und dann, überraschend und auf verdeckten Wegen, bekomme ich von den Enthüllern eine Einladung. In einem Berliner Gartenrestaurant treffe ich im Frühjahr 2010 einen jungen Informatiker. Atmo: Gartenrestaurant O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Wir verstehen uns erstmal als einen ganz normalen Bürgerservice, der jedem zur Verfügung steht, weltweit, ermöglicht über das Internet. Autor: Der Mann mit kastanienbraunem kurzem Vollbart stellt sich als deutscher Sprecher einer kleinen internationalen Gruppe vor. O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Das Video aus dem Apache-Helikopter im Irak ist sicherlich das, was für die größte Aufmerksamkeit bisher gesorgt hat. Das ist unser Highlight bisher. Alleine in 72 Stunden haben das über viereinhalb Millionen Leute auf YouTube angeschaut. Nichts hat so viel Aufsehen erregt wie dieses Apache-Video und das wird uns jetzt natürlich in der Zukunft dann hoffentlich helfen, auch mehr Aufmerksamkeit mit kommenden Veröffentlichungen zu erreichen. Autor: An diesem Sommertag des Jahres 2010 weiht mich Daniel Domscheit-Berg in ein höchst ambitioniertes Medienprojekt ein. Etwas, an dem er derzeit arbeite, gemeinsam mit einem Australier namens Julian Assange. O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Einen Service, der zum einen von anonymen Quellen Dokumente entgegennimmt und zum anderen diese Quellen dann vollumfänglich dem Rest der Welt zur Verfügung stellt, sowohl Zivilbürgern, die sich dafür interessieren, wie eben auch zum Beispiel den Medien oder wer auch immer sich dafür eben interessiert. Autor: Im Anschluss an den geleakten Helikopter-Einsatz im Irak, so erklärt mir Domscheit-Berg, habe man vor, die gesamten US-Kriegstagebücher aus Afghanistan ins Netz zu stellen. Ein Soldat habe ihnen, den Enthüllern, diesen riesigen Datensatz zukommen lassen. Um das alles auswerten zu können, sei man aber auf die Zusammenarbeit mit Medien angewiesen. Mit Journalisten, die schon seit langem über Afghanistan berichten. Ob ich mir vorstellen könne, die US-Kriegstagebücher zu sichten? Musik Nach dem Betrachten von ‚Collateral Murder' fällt die Antwort nicht schwer. Das Konzept überzeugt mich sofort. Am Schreibtisch scrolle ich mich tagelang durch die Einsatzberichte. Erlebe Operationen, die ich aufseiten der afghanischen Zivilbevölkerung wahrnahm, plötzlich aus der anderen Perspektive. Und währenddessen, rechne ich mit allem. Auch damit, dass es plötzlich an der Tür klingelt. Oder dass es eben nicht klingelt, sondern dass es schneller gehen könnte. Im Stil der Operationen, die ich in den vor mir liegenden Aufzeichnungen des US-Militärs nachverfolgen kann. Doch bald wird klar: Die ganze Wut der vorgeführten Großmacht richtet sich gegen Wikileaks Gründer und Galionsfigur, Julian Assange. O-Ton Nils Melzer: Also, hier wird ein Spionage-Conspiracy-Tatbestand so richtig an den Haaren herbeigezerrt, also das ist fast gewaltsam, wie das versucht wird, die Tatsachen zu entstellen, um da irgendwie etwas Illegales konstruieren zu können. Autor: Nils Melzer, UNO-Sonderermittler für Folter, engagiert sich seit Jahren für den Wikileaks-Gründer und hat ein Buch über den ‚Fall Julian Assange' geschrieben. Assange vorzuwerfen, durch die Veröffentlichung der Kriegstagebücher zum Spion geworden zu sein, das widerspreche sämtlichen Regeln der Publizistik. O-Ton Nils Melzer: Er hat sie ja nicht gestohlen, das wird ihm auch nicht vorgeworfen, diese Informationen. Er hat sie auch nicht gehackt, sondern er hat sie empfangen von einem Whistleblower. Also einer US-Soldatin, die selber vollen Zugang hatte zu diesen Informationen. Man musste da gar nichts knacken oder so. Autor: Spätestens die Publikation der AfghanWarLogs, der US-Kriegstagebücher aus Afghanistan, macht Assange für Washington zum Staatsfeind. Und an ihm lässt sich von nun an beobachten, was es heißt, ins Visier einer Großmacht zu geraten. Musik Atmo: Helikopter Ähnlich wie den irakischen Journalisten in Bagdad, die unter Beschuss der Bordkanone Deckung suchen müssen, ergeht es bald auch Assange: Als er im als liberal geltenden Schweden die Enthüllungsplattform registrieren lassen will, tauchen massive Vorwürfe auf. Zwei Frauen werfen ihm sexuelle Nötigung und Vergewaltigung vor. Auch wenn sie keine Anzeige erstatten, ordnet Schwedens Staatsanwaltschaft von Amts wegen Ermittlungen gegen den nach London zurückgekehrten Assange an. Für den UNO-Folterermittler Melzer beginnt bereits hier in Stockholm eine Diskreditierung mit System - und der politische Missbrauch der Justiz: Behauptungen, bis heute unbewiesen, erhoben auf dem Höhepunkt von Assanges Popularität lassen den umjubelten Medienstar als feige davonlaufenden Frauenfeind dastehen. Die Vorladung der Staatsanwaltschaft schränkt Schritt für Schritt seinen Bewegungsspielraum ein. O-Ton Nils Melzer: Auch das schwedische Verfahren - das wirft man ihm vor, er hätte sich dem schwedischen Verfahren nicht ausliefern wollen. Das stimmt so natürlich nicht. Er hat gesagt: Ich komme nach Schweden, aber ihr müsst mir garantieren, dass ihr mich nicht in die USA weiter ausliefert. Weil: dort werde ich ganz sicher keinen fairen Prozess bekommen. Und die Schweden haben das verweigert. Autor: In London beginnt ein Spiel mit verdeckten Karten. Sowohl Schweden als auch die USA versuchen, Assanges habhaft zu werden. Stockholm verlangt eine Überstellung. Washington hält sich nach außen hin bedeckt und will sich eine Anklage für später aufsparen. Dabei, so Melzer, ist Assange kein Spion, sondern ein Journalist, der Dokumente veröffentlicht, die er von einer Quelle erhalten hat. O-Ton Nils Melzer: Man muss ja dazu auch sagen: Assange hat ja nie eine Verpflichtung gehabt, irgendetwas geheimzuhalten. Er war ja nicht gebunden, vertraglich oder gesetzlich an die amerikanische Rechtsordnung. Er hat ja auch nicht in Amerika gehandelt. Also, das muss man sich schon alles vergegenwärtigen. Wenn die Amerikaner und andere Staaten, die sich gegen Assange stellen, wenn die im guten Glauben wären, also wenn es jetzt wirklich darum ginge, die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten, dann würden sie doch zuerst die Kriegsverbrechen der eigenen Soldaten verfolgen. Das sind doch hierarchisch die schwersten Verbrechen, über die wir hier sprechen. Atmo: Solidaritätsdemo Assange: "Free Assange!" Autor: Bald formieren sich in London Unterstützer. O-Ton Melinda Taylor: Because of Wikileaks people throughout the world have the power to know what is being done, why it's being done and by whom it's being done. Through this knowledge they can more fully participate in the world they live in and protect their rights. Übersetzerin: Dank Wikileaks haben Menschen auf der ganzen Welt jetzt die Macht zu wissen, was vorgeht, weshalb es vorgeht und von wem es ausgeht. Durch dieses Wissen sind sie in der Lage, aktiv ins Weltgeschehen einzugreifen und ihre Rechte wahrzunehmen. Autor: Die Juristin Melinda Taylor schließt sich mit gleichgesinnten Kollegen und Kolleginnen zu einem Anwaltsteam für Julian Assange zusammen; wirbt auf Veranstaltungen um Solidarität. O-Ton Melinda Taylor: By making troves of authentic documents freely available. Wikileaks has continued to publish key informations that has changed the world. Übersetzerin: Wikileaks hat authentische Dokumente frei zugänglich gemacht, Schlüsselinformationen, die die Welt verändert haben. Musik Autor: Leaks über Lobbys, Banken, Firmenkonglomerate. Nach den Afghanistan-Kriegstagebüchern- die Irak-Kriegstagebücher der US-Armee. Dann die geheimen Botschaftstelegramme des US-State Department. Trotz widriger Umstände gelingt es dem Gejagten immer wieder, neue brisante Dokumente ans Licht zu bringen. Wikileaks hebt die Geheimdiplomatie auf; legt offen, was arabische Potentaten übereinander denken und wie sie sich von neokolonialen Mächten einspannen lassen. Und dadurch, so Assanges Anwältin Melinda Taylor, verändert die Plattform selber die politischen Verhältnisse. Atmo: Arabischer Frühling, Demo O-Ton Melinda Taylor: It was the detailed minutia of corruption and excesses that was set out in leaked US-diplomatic cables that acted as a catalyst for the Arab spring. Übersetzerin: Es war das hochaufgelöste Bild von Korruption und Exzessen, das sich aus den geleakten US-Botschaftsberichten zusammenfügt - Ein Bild, das zum Katalysator für den arabischen Frühling wurde. Atmo: Tunis. Tränengasgranaten, Schreie, Laufen Musik Autor: Die Arabellion. Der große Freiheitsaufstand, den, so sieht es Taylor, Wikileaks mit ausgelöst hat, beschäftigt mich in den darauffolgenden Jahren. In Tunis taumele ich durch Tränengasschwaden; ducke mich in Kairo hinter Barrikaden. Und im absolutistisch regierten Golfkönigreich Bahrain erlebe ich, wie Demonstranten sich den Schrotkugeln der Polizei entgegenstellen - Endlich, so scheint es, schütteln die Araber ihre Unterdrücker ab. Nach Jahrhunderten ausländischer und inländischer Fremdbestimmung erringen sie erst jetzt echte Unabhängigkeit. Doch die verbliebenen Diktatoren formieren sich zu einer Konterrevolution. Insbesondere das Assad Regime in Syrien bekommt dabei Unterstützung von Russland und dem Iran sowie dessen Stellvertreter, der schiitischen Hisbollah. Sehr bald ist es auch ein Informations- und Medienkrieg. Ein Kampf um das Narrativ. Atmo Stimme Assange: "I am Julian Assange, editor of Wikileaks. We've exposed the World's Secrets..." (Jingle-Musik RT im Hintergrund) Autor: Januar 2012: Seit mehr als einem Jahr kann sich Assange wegen des schwedischen Auslieferungsantrags in Großbritannien nur noch mit Fußfessel bewegen. Medial trägt er keine Fesseln. Vor dem Fernseher meines Kairoer Hotels erlebe ich den Wikileaksgründer plötzlich in einer völlig neuen Rolle: O-Ton Assange: This week I am joined by a guest from a secret location in Lebanon. Zitator 2 als Übersetzer: Heute treffe ich einen Gast, der von einem geheimen Ort im Libanon aus zugeschaltet ist. Eine der ungewöhnlichsten Figuren im Nahen Osten. Er hat viele Schlachten gegen Israel geschlagen. Und ist nun in den internationalen Kampf um Syrien geraten. Seine Partei Hisbollah gehört der libanesischen Regierung an und er ist ihr Führer: Seyed Hassan Nasrallah. Atmo: Stimme Assange: "Are you ready?" Antwort Nasrallah: "I'm ready..." Assange: "What is your vision..." Autor: Ich brauche etwas Zeit, um es zu begreifen: Der Betreiber der weltweit wichtigsten Enthüllungsplattform, das Symbol für die bedrohte Meinungsfreiheit, stellt sich im neuen staatlichen Auslandssender Russlands vor, als Moderator auf Russia Today. "The World of Tomorrow" nennt sich die Sendereihe, die er präsentiert. Und unter seinen ersten Gästen, ist ein eingeschworener Feind des arabischen Frühlings. Einer, der Machthaber Assad die Bodentruppen stellt. Ausführlich kann Nasrallah erläutern, weshalb eigentlich er den wahren Freiheitskampf führt und weshalb Israel kein Recht zu existieren hat. O-Ton Daniel-Domscheit-Berg: Ich hab das alles nicht verstanden. Autor: So Julian Assanges früher Weggefährte Daniel Domscheit-Berg. O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Also mir ist vollkommen unschlüssig, wie man mit diesem Sender reden kann. Geschweige denn für diesen Sender eine Sendung macht. Es passt nicht zu der Zielsetzung, die mir für dieses Projekt bekannt war. Das kommt alles überhaupt nicht zusammen. Und der einzige persönliche Schluss für mich bleibt, ist, dass ich unter Umständen bis heute nicht wirklich verstanden habe, was das eigentliche Ziel war. Autor: Bereits im Herbst 2010 hatte sich Daniel Domscheit-Berg von Wikileaks getrennt. Es hatte Streit um die Edition von Quellen, gegeben, um Sorgfaltspflichten gegenüber den Betroffenen. Domscheit-Berg hatte Julian Assange aber auch für dessen, wie er sagt, selbstherrliche Entscheidungen kritisiert. Und dafür, dass er Wikileaks statt als Bürgerplattform mehr und mehr als Waffe verstehe, um Feinde und Verfolger anzugreifen. Zitat Julian Assange "Unsere wichtigste Konfrontation ist die mit dem Westen, deshalb ist RT naturgemäß unser Partner" Autor Begründet Assange seine neue Rolle bei seinem Russia Today Einstand in einem Interview. O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Ich glaube, dass es schon sehr stark darum geht, selbst irgendwo mitspielen zu können, seine eigene Meinung irgendwie einzubringen, Einfluss zu nehmen, den Leuten, die man nicht leiden kann, an die Karre zu fahren - oder was auch immer. Und das ist eine Agenda, die mir persönlich nicht gefällt und von der ich auch glaube, dass sie weit hinter dem zurückbleibt, was diese Plattform sein müsste. Autor: In der Annahme, es als Einzelner mit Großmächten aufnehmen zu können, so Domscheit-Berg, habe Julian Assange zu diesem Zeitpunkt angefangen, sich selbst und seine Möglichkeiten zu überschätzen. Er habe geglaubt, auch mit Großmächten spielen, sie in seinem Sinne einsetzen zu können. Aber: O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Ich glaube, das ist eben andersrum. Da hat RT jemanden gefunden in Form von Julian Assange und vielleicht auch der ganzen Wikileaks-Plattform, die man benutzen kann als Werkzeug. Ich bin hundertprozentig überzeugt, dass spätestens 2010, jede größere PR-Agentur, jedes große Medium, alle die, die sich irgendwie mit Propaganda und der Manipulation der öffentlichen Meinung beschäftigen, begonnen hat, richtige Ressourcen zu investieren, diese Plattform zu verstehen. Zu verstehen, wie das Werkzeug funktioniert, zu verstehen, wie der Veröffentlichungsprozess funktioniert, zu verstehen, wie Julian funktioniert oder andere Leute, die da beteiligt sind, um daraus dann abzuleiten, wie man dieses Werkzeug für seine eigenen Zwecke benutzen oder missbrauchen kann. Es wäre komplett unlogisch, wenn das zu diesem Zeitpunkt nicht jeder gemacht hätte. Musik O-Ton John Shipton: Engl. Sprecher 4 Wie kann man auf solchen Mist reagieren? Der Verstand kann nicht verarbeiten, wie grotesk, wie erbärmlich solche Anschuldigungen sind. Verzeihung, aber da geht es einfach mit mir durch. Autor: Zu denjenigen, die sich am vehementesten für Julian Assange einsetzen, gehört sein Vater, der Australier John Shipton. Er sieht in Vorwürfen, Wikileaks ließe sich von russischen Medien benutzen, vor allem eines: Den Versuch, seinen Sohn zu verleumden. In einem Videogespräch verweist er auf die Zeitumstände, in denen diese Vorwürfe laut werden: 2012, 2013. In einer Phase, in der, wie Shipton analysiert, der Westen einen neuen verbrecherischen Feldzug im Nahen Osten anfängt. Nach dem Irak werde in bekannter Manier nun Syrien angegriffen. O-Ton John Shipton: Engl. Sprecher 4 Es ist grotesk, es grenzt ans Obszöne, wenn diejenigen, die Verbrechen organisieren und ausführen, die ein Land und eine Gesellschaft nach der anderen zerstören, und die der Zivilbevölkerung den Krieg erklären, die Millionen umbringen, die es verantworten, dass 38 Millionen Flüchtlinge nach Europa strömen - wenn die Verantwortlichen nun Julian beschuldigen, ein russischer Journalist zu sein. Das ist einfach obszön. Musik Autor: Und doch fällt auf: die Enthüllungsplattform ist mehr als zurückhaltend, wenn es um schmutzige Geschäfte im Osten geht. 2012 bieten Whistleblower vergeblich Beweise an, dass das Assad-Regime versucht, große Geldsummen bei der Moskauer Staatsbank zu parken. 2016 weist die Plattform Informationen über geheime russische Operationen auf der frisch besetzten Krim zurück. Zitator 1: "Wikileaks lehnte die Veröffentlichung russischer Regierungsdokumente ab" Autor: titelt Foreign Policy', ein US-Magazin für Außenpolitik. Zitator 1: "Die Leaking-Organisation ignorierte für den Kreml schädliche Informationen." O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Spätestens im amerikanischen Wahlkampf hat man das, aus meiner Sicht, ganz klar gesehen. Auf Twitter wurde Partei ergriffen. Man hat sich politisch geäußert weit außerhalb von dem, was einfach nur mit der Publikation von irgendwelchen Materialien zu tun hatte. Musik Atmo US-Wahlkampf Autor: Mitten in der heißen Wahlkampfphase gelingt ein neuer Coup. Der Leak interner Mails von Hillary Clinton aus dem Server der US-Demokraten- Sie enthüllen unter anderem Parteideals auf Kosten ihres Konkurrenten Bernie Sanders und Reden vor Wallstreet-Bankern, die Clintons Image als Kritikerin der Finanzindustrie fragwürdig erscheinen lassen. Erhalten hatte Wikileaks dieses Material von einem Absender namens "Guccifer 2.0.", einer Deckadresse des russischen Geheimdienstes. Die Authentizität allerdings ist unbestritten. Trump frohlockt und bedankt sich für die Schützenhilfe. O-Ton Trump: "Wikileaks! I love Wikileaks!! O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Der Twitter-Account hat ja ganz direkt Kontakt aufgenommen zur Trump-Kampagne. Man hat versucht, sich da, was diese Leaks aus den demokratischen Lagern anging, irgendwie abzustimmen. Es gab einige Tweets, die ganz öffentlich Trump supportet haben. Das hab ich bis heute überhaupt nicht verstanden. Das erscheint mir so konträr zur eigentlichen Agenda, die Wikileaks verfolgt, also was Transparenz angeht, was Pressefreiheit angeht und so. Autor: Vorwürfe wie diese sind für Assanges Vater John Shipton Teil einer konzentrierten Verleumdungskampagne. O-Ton John Shipton: They have manifested every intention... Sprecher 4 Sie haben ganz klar ihre Absicht deutlich gemacht, Julian zu zerstören. Sie wollen demonstrieren, dass wer immer anfängt, wahrheitsgetreu zu berichten, sich auf eine ähnliche Behandlung gefasst machen muss. Autor: Tatsächlich gewinnt der Kampf um Assange zusehends Züge eines Polit-Thrillers. Den Schweden reicht eine Vernehmung in London nicht. Garantien ihn nicht an die USA weiterzureichen, wollen sie auch nicht geben. Musik Atmo: Solidaritätsdemo vor Botschaft, Slogans "Free Assange!" Im Juni 2012 befreit sich Assange von der elektronischen Fussfessel und flüchtet in die Londoner Botschaft von Ecuador. Atmo: Damaskus Autor: Währenddessen berichte ich weiter von der Arabellion. Verfolge, wie der syrische Machthaber als Reaktion auf die Freiheits-Demonstrationen die Gefängnistore für islamische Extremisten öffnet, um seine Gegner als religiöse Terroristen zu diskreditieren. Beobachte, wie Assad die Geister, die er rief, nicht wieder loswird. Wie die Golfstaaten die religiösen Kräfte massiv aufrüsten und finanzieren, bis schließlich ein blutiger Bürgerkrieg beginnt Notiere, wie sich das Blatt dank russischer und iranischer Hilfe zugunsten Assads wendet. Und erlebe im Frühjahr 2018 vor Ort wie Assads Kräfte die letzten radikalislamischen Enklaven in den Boden stampfen. Atmo: Damaskus, Jet und Bombenabwurf Vom Balkon meines Hotels in Damaskus aus sehe ich die syrische und russische Luftwaffe anfliegen - gegen die letzten Wohnviertel und Vorstädte der Hauptstadt, in denen noch immer Rebellen ausharren. Und viele Tausend Zivilisten. Atmo: Helikopter Autor: Eine Art Déjà-Vu-Erlebnis. Vom Anfang von Wikileaks zum Ende der Arabellion: Weit oben im Himmel junge Männer, die den Richter spielen. Helikopter, die auf zivile Menschenansammlungen Fassbomben mit Metallteilen abwerfen. Laut Untersuchungen der internationalen Chemiewaffenbehörde OPCW: in Dutzenden von Fällen auch Giftgas. Am Boden rücken dann Assads Verbündete vor: Die iranisch gestützte schiitische Hisbollah-Miliz. Die Gruppe, deren Chef Julian Assange für Russia Today interviewt hatte. Am 7.April 2018 sterben in der Kleinstadt Duma mehr als 40 Zivilisten. Augenzeugen berichten von einem Angriff mit Chlorgas aus der Luft. Im Dach eines Wohnhauses klafft ein Loch. Wie gewohnt, streitet die syrische Regierung jede Verantwortung ab. Diesmal allerdings reagiert der Westen: Jets der USA, Großbritanniens und Frankreichs bombardieren Stellungen der Assad Armee. In einem Tweet veröffentlicht Julian Assanges Plattform wenige Tage später folgendes Angebot: Zitator 2 "Wikileaks bietet 100.000$ Belohnung für vertrauliche Informationen (z.B. abgefangene Nachrichten oder Berichte), die zeigen, wer für den angeblichen Chemiewaffenangriff in Duma, Syrien, verantwortlich ist. Autor: Geld gegen Enthüllungen? Ein Novum, das mich überrascht. Dass die Toten von Duma und der Streit um das Giftgas meinen Blick auf Wikileaks drastisch verändern werden, kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Musik Atmo: Schritte Eintreten in Krankenhaus, Kinderweinen Atmo: Um mir, dem ausländischen Berichterstatter, zu beweisen, dass Syrien kein Giftgas einsetze, bringt mich das Presseamt Assads ins frisch zurückeroberte Duma in ein unterirdisches Krankenhaus, das kurz zuvor noch von den Rebellen genutzt worden war. O-Ton Leutnant: Hatha mastaschfa Douma... Kinderweinen im Hintergrund Autor: Dort versichern mir ein Leutnant und ein dazukommender Arzt: O-Ton Malik al Nadschar: Fil hissar bil youma... Autor: Bei dem angeblichen syrischen Chemiewaffeneinsatz handele es sich in Wahrheit um eine großangelegte Täuschungsaktion. Zivile Helfer der Rebellen hätten hier ein Horror-Video gedreht, mit normalen Patienten, die in Wirklichkeit nur zu viel Staub eingeatmet hätten. Später werden von Damaskus echte Opfer eingeräumt; die seien allerdings von den Rebellen getötet worden. Musik Autor Es ist März 2019, als die von der UNO beauftragte Chemiewaffenkontrollbehörde OPCW in ihrem Untersuchungsbericht feststellt: in Duma wurde tödliches Chlorgas abgeworfen. Zur Schuldfrage darf sich die Organisation nicht äußern, Doch nur Syrien und Russland verfügten dort über Flugzeuge und Helikopter. Atmo: Slogan: "Free Assange!" Telling the truth is not a crime! Save passage for Julian!" Autor: Zu diesem Zeitpunkt sitzt der Wikileaks-Gründer seit sieben Jahren in der Londoner Botschaft von Ecuador. Solidaritätsdemos sind inzwischen zu einer festen Einrichtung geworden. Ein ums andere Mal fordern die Anwälte: O-Ton Melinda Taylor: The UK... Übersetzerin: Großbritannien sollte seinen Haftbefehl gegen Julian Assange aufheben, im Einklang mit den Bewertungen der UNO, und ihm erlauben, nach Ecuador zu gehen, wo er sicheren Schutz genießt. Autor: Bei der Verfolgung Assanges, so UN-Folterberichterstatter Melzer, habe es bereits so massive Verstöße gegeben, dass ein rechtsstaatliches Verfahren nicht mehr möglich sei. O-Ton Nils Melzer: Seine Gespräche mit Anwälten wurden ja überwacht, videoüberwacht, aber auch audioüberwacht, also abgehört in der ecuadorianischen Botschaft. Und Gespräche mit Anwälten sind natürlich geschützt. Und damit ist die Waffengleichheit der Parteien so schwer verletzt in diesem Verfahren, dass er eigentlich nicht mehr ausgeliefert werden kann. Autor: Sollte jemand erwartet haben, US-Präsident Trump könnte sich für Schützenhilfe im Wahlkampf erkenntlich zeigen, so irrt er. Musik Autor: Trumps CIA Direktor und späterer Außenminister, Mike Pompeo, lässt verschiedene Szenarien durchspielen, wie Assange und mit ihm Wikileaks "beendet" werden könnte-gegebenenfalls noch in der Botschaft selbst. Im April 2019 beugt sich Ecuador dem Druck der USA und entzieht Assange das Asyl. Beim Verlassen des Botschaftsgeländes wird er prompt von der britischen Polizei wegen Verletzung der Kautionsauflagen verhaftet und bald darauf ins Belmarsh-Gefängnis eingeliefert. Atmo Jingle RT Und dennoch: abgeschnitten von allen gängigen Kommunikationsmitteln, trotz stark eingeschränkter Besuchszeiten, gelingt Assange und seinem Team ein vorerst letzter großer Enthüllungs-Coup. Musik O-Ton RT-Moderator: The OPCW is having its house blown right down! Autor: Das Kartenhaus der Chemiewaffenkontrolleure von der OPCW fliegt in die Luft. Beweise widersprechen bisherigen Zeugenaussagen, meldet Russia Today. O-Ton RT-Moderator: Now that Wikileaks has published what the preliminary report looked like, here is what the OPCW deleted. One: evidence that contradicted witness-testimony. Musik Autor: Tatsächlich hat die Enthüllungsplattform hochbrisantes Material geleakt: zwei Inspektoren der OPCW - der Chemiker Brendan Whelan und der Techniksachverständige Ian Henderson - beklagen in internen Mails, man habe für Assad entlastende Indizien missachtet. Ihren Untersuchungen zufolge sei nur eine geringe Konzentration von Chlor nachweisbar gewesen. Zudem habe das Loch im Dach nicht zu einer Bombe gepasst, die aus der Sicherheitshöhe von 500 Metern abgeworfen wurde. Trotzdem habe die OPCW weitere Analysen angestellt und am Ende einen Giftgasangriff konstatiert. Das russische Fernsehen bringt es auf folgenden Punkt: O-Ton RT-Moderator: Meaning: what the alleged witnesses said differed wildly from the hard evidence found by inspectors. Two: That the hospital-videos that so shocked the world, were fake. The victims were actors. Autor: Was den westlichen Mächten als Rechtfertigung zum Bombardement Syriens diente, sind Erfindungen, Zeugenaussagen erlogen. Die Giftgasopfer: Schauspieler. Musik Autor: Wenige Tage später stellt die mit Wikileaks verbundene Courage Foundation auf einer Veranstaltung einen der beiden Whistleblower vor, den Chemiker Brendan Whelan. Karin Leukefeld, die von der Stiftung eingeladene Syrien-Korrespondentin von Russia Today Deutsch berichtet im Videopodcast des Senders: O-Ton Karin Leukefeld: Die Untersuchungsergebnisse deuteten eher darauf hin, dass erstens diese Gaszylinder nicht aus der Luft abgeworfen sein konnten, sondern dass die Löcher im Dach anderen Ursprungs waren, und dass diese Personen auch nicht an Giftgas gestorben sein können. Die toxikologischen Untersuchungen weisen eher darauf hin, dass das, was tatsächlich an chemischen Stoffen dort in der Umgebung gefunden worden ist in Duma, eher darauf hindeuten, dass es Konservierungs- oder Reinigungsmittel waren, also zum Beispiel Bleichmittel oder Putzmittel. Autor: Zwar hat die OPCW Baschar al Assad bereits in etlichen Fällen den Einsatz von Chemiewaffen nachgewiesen. Doch nun säen die geleakten Vorwürfe im Fall Duma grundsätzliche Zweifel. Und Syrien, sagt RT-Korrespodentin Leukefeld, habe schließlich immer den Vorwurf des Chemiewaffeneinsatzes zurückgewiesen. O-Ton Karin Leukefeld: Syrien hat seine Chemiewaffen vernichten lassen ab 2013, die sind übrigens auch in Deutschland vernichtet worden. Syrien istdem Chemiewaffenvertrag beigetreten und diese andere Meinung wird eigentlich in unseren Medien sehr wenig reflektiert. Umso mehr wäre es wichtig, dass diese Stellungnahme der Whistleblower veröffentlicht wird. Musik Autor: Syrien - längst Chemiewaffen-frei? Zu Unrecht auf der Anklagebank? Opfer einer groß angelegten Verleumdung? Ihre Duma-Enthüllungen begleitet Wikileaks auf ihrer Webseite mit der Karikatur eines Chemiewaffeninspektors. Der OPCW-Beamte zwinkert dem Betrachter verschwörerisch zu, während er einen Bericht redigiert. Der Stift in seiner Hand trägt die Aufschrift "USA". Auf seinem Schreibtisch zwei weitere mit der Aufschrift "Großbritannien" und "Frankreich". Öffentlich erklärt Wikileaks-Chefredakteur Kristinn Hrafnsson die Glaubwürdigkeit der internationalen Chemiewaffenkontrollorganisation sei jetzt erschüttert. Viele fühlen sich in dem bestätigt, was sie schon längst gemutmaßt haben. Um eine Militärintervention zu begründen, will der Westen Assad fälschlich Massenvernichtungswaffen unterjubeln - so wie damals Saddam im Irak. Matthias Höhn, Außenpolitiker der Linken: O-Ton Matthias Höhn, Die Linke: Es ist ziemlich genau 15 Jahre her, da hat der damalige US-Außenminister Colin Powell so genannte Beweise vorgelegt, um den Irak-Krieg zu beginnen. Diesem Krieg sind Hunderttausende damals zum Opfer gefallen. Welche Konsequenz haben die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien daraus gezogen? Sie legen mittlerweile gar keine Beweise mehr vor und bomben gänzlich ohne Beweise. Musik Autor: Assange hat es wieder mal geschafft: Das Medienecho auf die OPCW-Leaks ist gewaltig. Zeitgleich wächst die Besorgnis um den Gesundheitszustand des Wikileaks-Betreibers. Nils Melzer, der UNO-Sondergesandte für Folter besucht ihm am 9. Mai 2019 im britischen Belmarsh-Gefängnis. O-Ton Melzer: Ich hab ihn besucht mit zwei Ärzten, zwei spezialisierten, unabhängigen, auch voneinander unabhängigen Experten. Die Ärzte haben ihn unabhängig voneinander untersucht. Und wir sind alle zum gleichen Schluss gekommen: dass er also die Symptome zeigte, die typisch sind für Langzeit-Exposure gegenüber psychologischer Folter. Es sind Sachen wie Post-Traumatic-Stress-Disorder. Ganz starke Angstzustände, permanente, und das sind jetzt nicht irgendwelche vorbestehenden psychologischen Probleme. Das ist auch nicht der Stress, den jeder Häftling in seiner Situation sonst haben würde. Sondern das sind messbare Schäden im kognitiven und im Nervensystem-Bereich. Die Langzeitschäden, die dadurch entstehen, dass man über Jahre ganz extremen Stress-Levels ausgesetzt ist. Und sich nicht mehr normalisieren kann. Musik Autor: Mit Assange zu sprechen, ihm im Gefängnis Fragen zu stellen, ist für Journalisten unmöglich. Der Isländer Kristinn Hrafnsson der mittlerweile die Funktion des Chefredakteurs übernommen hat, stimmt einem Interview zu. Und meldet sich dann nicht mehr. Dabei habe ich drängende Fragen, insbesondere zu den Duma-Leaks, garniert mit der Karikatur vom fälschenden Inspektor der internationalen Chemiewaffenkontrollbehörde OPCW. Auf welcher Grundlage hat sich die Plattform hier festgelegt? Kein Giftgaseinsatz? Das Ganze ein Fake? Vermutlich hätte ich weniger Zweifel an dieser Darstellung, wäre ich nicht selbst bei der Pressevorführung in Duma dabei gewesen. Ich habe die Inszenierung des syrischen Militärs erlebt. die Beaufsichtigung meiner Gesprächspartner, die Präsentation wechselnden Narrative. Erst die Leugnung von Opfern, nur ein paar Bewohner, die zu viel Staub eingeatmet haben...Dann...doch Tote, für die aber die Rebellen verantwortlich seien...All das schien mir eher auf einen Fake des Assad Regimes zu deuten. Atmo: Buffet, Stimmgewirr Autor: Auf einer Tagung treffe ich den gerade routinemäßig abgetretenen OPCW-Generalsekretär, Botschafter Üzümcü, der für die Feldforschung im syrischen Duma verantwortlich war. Die Behauptung, es habe kein Chlorgas gegeben, quittiert er trocken. Mit dem Verweis, die sei längst durch den detaillierten Abschlussbericht widerlegt. Alle Daten seien öffentlich zugänglich und überprüfbar. Beide Whistleblower seien an der Untersuchung nur partiell beteiligt gewesen. Vor Journalisten hatte der Chemiker Whelan behauptet, für sein Gutachten selbst in Duma recherchiert zu haben. Ahmet Üzümcü widerspricht: O-Ton Ahmet Üzümcü: Engl. Zitator 1 als Übersetzer: Er hielt sich zur Zeit der Untersuchungen in Damaskus auf. Er war nicht Teil des Teams vor Ort, sondern arbeitete im OPCW-Büro. Er hatte nicht den Zugang zu allen Informationen, die dem Feldforschungsteam zugänglich waren. Trotzdem hat er dann seine eigenen Schlussfolgerungen gezogen. Autor: Eine Schutzbehauptung der Chemiewaffenbehörde? Die in London ansässige Rechercheplattform Bellingcat hat sich über Monate durch die Datensätze und Protokolle gearbeitet: Die Untersuchungsergebnisse der beiden Whistleblower, ebenso wie die der OPCW. Die erste entlastende Einschätzung des Chemikers Whelan sei tatsächlich durch spätere Messung von hoher Chlorkonzentration im Holz der Ruine von Duma widerlegt, so Nick Waters, der zuständige Rechercheur bei Bellingcat. O-Ton Nick Waters: Whelan... Sprecher 3 Whelan selbst war nur 4 1/2 Monate dabei. Bei der gesamten Untersuchung handelt es sich um ein Verfahren, das insgesamt elf Monate in Anspruch nahm. Nachdem Whelan die OPCW verlassen hatte, wurden weitere Teams entsandt, es wurden weitere Zeugen gehört und die Gutachten weiterer Toxikologen hinzugezogen. Whelan war also nicht einmal während der Hauptdauer der Untersuchung dabei. Autor: Auch die These des zweiten Whistleblowers, Ian Henderson, erweise sich bei näherer Betrachtung als nicht belastbar. Das hätten drei voneinander unabhängige Überprüfungen ergeben. O-Ton Nick Waters: Engl. Sprecher 3 Wir haben also drei unabhängige Berichte, die sagen, der vorgefundene Schaden passt zum Abwurf von Giftgaskanistern und dann haben wir Henderson's Bericht, der sagt, das sei nicht der Fall. Wobei selbst Henderson's Report einräumt, dass der Schaden stimmig wäre, sollte eine Bombe aus weniger als 500 Metern Höhe abgeworfen worden sein. Musik Autor: Doch die einmal gesäten Zweifel an syrischen Giftgaseinsätzen und der Unparteilichkeit der UN-Inspekteure sind in der Welt. Währenddessen wächst die internationale Empörung über den britischen Umgang mit dem inhaftierten Assange. Die Justiz verhandelt über seine Auslieferung an die USA. Nils Melzer, der UNO-Gesandte für Folter, warnt, angesichts des von Washington erhobenen Vorwurfs der Spionage, könne nicht mit einem fairen Prozess gerechnet werden. O-Ton Nils Melzer: Wenn Sie nicht geständig sind, was dann kommt, ist ein politischer Prozess. Das kann man nicht anders beschreiben. Das findet hinter verschlossenen Türen statt. Die Öffentlichkeit hat keinen Zugang. Es sind sehr oft geheime Beweise, wo die Verteidigung nicht einmal die Beweise zur Verfügung gestellt bekommt, in Extremfällen sogar die Richterin selber die Beweise nicht zu den Akten nimmt. Die Geschworenen sind vorselektioniert und reflektieren eindeutig das Interesse des Staates. Also, da hat man keine Chance. Autor: Melzers Einschätzung alarmiert mich. Wenn sich der Maßstab durchsetzt, den die US-Justiz anlegt, wie können Journalisten dann noch angstfrei Öffentlichkeit sicherstellen? Gleichzeitig frage ich mich, was aus Wikileaks Rolle als "Bürgerplattform" geworden ist. Die Duma-Leaks werfen immer mehr Fragen auf. Ein eherner Grundsatz von Wikileaks lautete stets, nur exklusives, bislang unveröffentlichtes Material online zu stellen. Musik Autor: Doch tatsächlich taucht das abweichende Votum des ehemaligen OPCW-Mitarbeiters Henderson erstmals bereits im Mai 2019 auf - fünf Monate bevor Wikileaks ihm weltweite Resonanz verschafft. Weitgehend unbeachtet erscheint es auf der Webseite der "Working Group on Syria, Propaganda and Media". Bei dem Zusammenschluss einiger Akademiker um Professor Paul McKeague von der Universität Edinburgh handelt es sich nach Berichten der BBC um eine Influencer-Group, die für die Positionen des Assad-Regimes wirbt und systematisch Menschenrechtsverletzungen Syriens und Russlands abstreitet. Etwa im Fall des Nowitschok-Anschlags auf einen ehemaligen Agenten in Salisbury. Die Gruppe steht 2019 offenbar im engen Austausch mit russischen Stellen wie interne Mails nahelegen, die der BBC, Bellingcat und dem Onlineportal New Lines Magazine vorliegen. Einem vermeintlich Gleichgesinnten, der sich als russischer Agent ausgibt, schreibt Professor Paul McKeague, von der Working Group on Syria: Zitator 1 "Wikileaks hat uns Kontakt zu Melinda Taylor hergestellt. Sie ist sehr clever und hat uns auch mit einem Gutachten über den rechtlichen Status von Whistleblowern bei der OPCW versorgt. Und das ganz gratis." Autor: Julian Assanges Anwältin Melinda Taylor - so muss man aus den vorliegenden Mails schließen - beschränkt sich nicht nur darauf, den Kontakt zwischen Wikileaks und den Whistleblowern herzustellen. Sie wird beratend für die Kreml-Lobbyisten tätig. Musik Autor: Im September 2019, gut einen Monat vor Veröffentlichung der Duma-Leaks schickt sie der ‚Working Group on Syria' detaillierte Vorschläge. Tipps, wie öffentlich die Glaubwürdigkeit der internationalen Chemiewaffenkontrolleure in Frage gestellt und so dem Assad-Regime und seiner russischen Schutzmacht geholfen werden könnte. Neben Institutionen der UN, so überlegt Taylor: Zitatorin: "...könnten dazu die Untersuchungsausschüsse des deutschen Bundestags eingesetzt werden." Autor: Tipps und Kniffe im Austausch für einen Whistleblower? Unterstützung ausgerechnet für eine Autokratie, die die Abschaffung von Meinungsfreiheit zur Staatsräson erhebt? Lobbyarbeit nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund? Letztlich also: Verhüllung statt Enthüllung? Musik Autor: Das Interview mit Wikileaks-Chefredakteur Hrafnsson steht weiterhin aus. Auf Nachfrage stimmt er erneut einem Gespräch zu, doch auch diesmal wird die Zusage nicht eingehalten. Atmo: Solidaritätsdemo Assange: "Free, free, free Assange!" Um die Jahreswende verstärken sich die Anzeichen, die britische Justiz werde den Weg für eine Auslieferung an die USA freimachen. Wer wolle da noch riskieren, das westliche Narrativ in Frage zu stellen, fragt Julian Assanges Vater John Shipton: O-Ton John Shipton: Engl. Sprecher 4 Die allgemeine Einschüchterung von Berichterstattern hat sich in Europa, Australien, Großbritannien in einem Ausmaß gezeigt, dass niemand mehr das Risiko in Kauf nimmt, etwas zu drucken oder Material zu veröffentlichen, von dem er meint, dass die Vereinigten Staaten dadurch auf die eine oder andere Weise irritiert sein könnten. Als jemand aus dem News Business sehen Sie das selber. Es erscheint zur Zeit rein gar nichts, was kritisch oder auch nur analytisch gegenüber den USA und ihrer Außenpolitik ist. Und besonders nicht in Deutschland, rund um Nord Stream 2. Nichts erscheint über die Manipulationen gegen Deutschland, die allesamt das Ziel haben Nord Stream 2 zu verhindern. Autor: Der langjährige OPCW-Generaldirektor Ahmet Üzümcü verweist dagegen auf die Erfolge des russischen Narrativs - nicht zuletzt dank Wikileaks. Längst widerlegte Thesen zu Assads angeblicher Unschuld. Eine beschädigte Glaubwürdigkeit der internationalen Giftgas-Kontrollkomission. O-Ton Ahmet Üzümcü: Engl. Zitator 1 als Übersetzer: Und das nur für einige kurzfristige politische Interessen; nur um das syrische Regime zu stützen, das nicht gezögert hat, gegen seine eigene Bevölkerung Chemiewaffen einzusetzen. Aus meiner Sicht ist das völlig inakzeptabel. Wir haben es mit einer Verletzung des Völkerrechts zu tun. Und das zu verstecken, durch Taktiken der Desinformation - höchst professionell gemacht, das muss ich zugeben - das ist nicht gerade hilfreich. Wir reden hier immerhin über die internationale Weltordnung. Und die OPCW ist davon ein integraler Bestandteil, eine wichtige Säule der globalen Sicherheit und des globalen Friedens. Jeder sollte seinen Beitrag leisten, diese Institution zu stärken. Autor: Was hat die beiden Whistleblower motiviert? Fachliche Differenzen und Enttäuschungen, politische Überzeugung? Oder hat das finanzielle Angebot eine Rolle gespielt, das Wikileaks zwei Tage nach den Ereignissen in Duma online stellte: 100.000 Dollar für Informationen zum Vorfall in Duma? Wikileaks selbst hat auf Nachfrage von Bellingcat Zahlungen dementiert. Die mit ihr verbundene Courage Foundation hat nicht reagiert. Allerdings erreichten die Rechercheure den Chemiker Brendan Whelan. O-Ton Nick Waters: Whelan has refused to answer questions in relation to that even when answering other questions on this subject. So he has never answered whether he has financially benefitted from these documents - which, I think, is an incredibly important question that he needs to answer. Sprecher 3 Whelan hat die Antwort darauf verweigert, obwohl er auf andere Fragen zu diesem Komplex stets geantwortet hat. Er ist also nie darauf eingegangen, ob er finanziell vom Leak der Dokumente profitiert hat. Und ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass er auf diese Frage antwortet. Musik Autor: Im August 2022 wende ich mich noch einmal per Mail an den Wikileaks Chefredakteur. Bitte dringend um Stellungnahme. Zum Schweigen der Plattform nach Beginn des Ukrainekrieges, zur Rolle von Assanges Anwältin Taylor bei der Veröffentlichung der Duma-Leaks, zur Karikatur des OPCW-Inspektors, der auf der Wikileaks Homepage weiterhin im Auftrag des Westens Berichte fälscht. Stelle auch der mit Wikileaks verbundenen Courage Foundation die Frage, ob sie dem Whistleblower Brendan Whelan für seine Informationen Geld gezahlt hat. Ich bekomme keine Antwort. O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Für mich ist Wikileaks, seit wir dieses Projekt 2010 verlassen haben, nicht mehr das, was ich mir darunter vorgestellt hätte, was ich mir davon erhofft habe. Und das hat sich seitdem sehr viel weiter noch davon weg entwickelt. Ich würde sagen, das ist sehr nah dran an einer journalistischen Plattform, die aber schon auch politische Ziele verfolgt, wenn man so will. Autor: Assanges früherer Weggefährte Daniel Domscheit-Berg: O-Ton Daniel Domscheit-Berg: Gleichzeitig hat all das überhaupt nichts zu tun mit dem Auslieferungsersuchen. Es gibt einfach überhaupt keine rechtliche Grundlage, dieses Auslieferungsersuchen zu rechtfertigen. Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Musik Autor: Im September 2022 ist Julian Assanges Einspruch gegen die Auslieferung in die USA von der britischen Regierung abgelehnt. Auf Twitter veröffentlicht seine Ehefrau, die Anwältin Stella Morris, einen engagierten Appell in letzter Minute: O-Ton Stella Morris: Engl. Übersetzerin: Meine Botschaft an Joe Biden ist: Stellen Sie diesen Fall ein. Wenn Sie das nicht tun, wird er von zukünftigen Regierungen benutzt werden, um die Presse zum Schweigen zu bringen. Das ist der größte Angriff auf die Pressefreiheit, den es jemals gegeben hat. Die US-Regierung hat gesagt, dass jeder auf der ganzen Welt unter den US-Espionage-Act fällt. Das ist eine völlig absurde und gefährliche Idee. Julian ist kein US-Bürger, er ist ein australischer Staatsbürger, der in Großbritannien als Journalist arbeitet. Er schuldet der US-Regierung keinerlei Gefolgschaft. Autor: Der Wikileaks-Gründer genießt die Solidarität von Menschenrechtlern, Journalisten und Politikern weltweit. Für die Veröffentlichung des Collateral-Murder-Videos, der Afghanistan- und Irak- Kriegstagebücher der US-Armee wurden ihm und der Plattform zahlreiche Preise verliehen - zurecht. Für mich ist Julian Assange ein politischer Gefangener, der im Westen einsitzt. Wird sich letzter Minute doch noch die Einsicht durchsetzen, dass er freigelassen werden muss? Dann gäbe es vielleicht auch die Chance, zu klären, was aus dem Aufklärungsprojekt geworden ist, unter welchen Umständen es zur Veröffentlichung der Duma-Leaks kam, warum die Enthüllungsplattform mit Beginn des Ukraine- Krieges ihre Upload-Funktion sperrte und jede Nachfrage mit Schweigen beantwortet wird. O-Ton Nick Waters: You can draw... Lacht You can't talk to them, they're impossible to talk to. Sprecher 3 Natürlich können Sie aus all dem Ihre Schlüsse ziehen. Aber ich kann das nicht tun, bevor ich nicht mit jemandem von dort gesprochen habe. Aber wie geht das - wenn sie nicht mit sich sprechen lassen? Musik Absage Collateral Fake? Wikileaks zwischen Verfolgung und Propaganda Ein Feature von Marc Thörner Es sprachen: Denis Moschitto, Wolf Aniol, Jean-Paul Baeck, Jochen Langner, Nicole Kersten und Bernd Reheuser Technische Realisation: Peter Harrsch Regieassistenz: Tim Müller Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Thomas Nachtigall Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks mit dem Deutschlandfunk 2022. 1