Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Merkel-Jahre Der unwahrscheinliche Weg der Angela M. Feature-Serie in sechs Teilen von Stephan Detjen und Tom Schimmeck (1/6) - Die Perle der Uckermark Regie: Tom Schimmeck Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2021 Erstsendung: Dienstag, 20.07.2021, 19.15 Uhr Es sprachen: Annette Burchard und die Autoren Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Moderatorin "Wir sind im Themenbereich vier - "Bilder / Vorbilder des Menschen". Und jetzt ist einer der Hauptvorträge dran. Frau Merkel, Sie haben das Wort zu ihrem Vortrag: "Vorbilder meines Lebens" Bitte." S Auf dem Evangelischen Kirchentag 1995 erzählt Angela Merkel in Saal 3 des Hamburger Congresscentrums von ihrer ersten wichtigen Bezugsperson außerhalb der Familie: Einem Gärtner. Merkel "...und dieser Gärtner führte die Gärtnerei auf dem Hof wo ich aufwuchs, das war ein Heim für geistig Behinderte, von de8r Diakonie geführt. Und die Beschäftigten dieses Gärtners waren geistig Behinderte, aber es konnte auch jeder kommen, der sonst noch Langeweile hatte, oder Fragen hatte. Und dazu gehörte ich. Und dieser Gärtner, ein stämmiger, schon älterer Mann, der hat mir ein großes Grundvertrauen, eine große Ruhe eingeflößt. Und er hatte immer Zeit. Das fand ich das Allertollste. Meine Mutter hatte nicht immer Zeit, mein Vater schon gar nicht. Aber der Mann hatte eigentlich zu tun und trotzdem immer Zeit. Und so konnte man mit ihm einerseits das praktische Leben erfahren. Das hat mich unheimlich fasziniert. Da hab' ich gelernt, wie man Blumenkästen pikiert und wann die Alpenveilchen gut sind und dass jede deutsche Hausfrau ein Alpenveilchen kauft im Winter. Ich war immer erschrocken, ob die ganzen Alpenveilchen irgendwie gebraucht würden. Die waren alle weg im Frühjahr. Und ich hab' gelernt, dass dieser Mann mit mir gesprochen hat genauso wie mit den geistig Behinderten. Ich hab' über ihn gelernt, mit den geistig Behinderten zu sprechen. Und es war eine unglaublich warme, vertrauliche, gute Atmosphäre, in der ich schmutzige Möhren essen durfte, in der ich faul sein durfte, in der ich sogar mal einen Schluck schwarzen Tee gekriegt habe. Es war gut." D Mit dem Gärtner, sagte Merkel, damals Umweltministerin des Kanzlers Helmut Kohl, verbinde sie diese Sehnsucht nach Natur und Erde. Und die nach Zeit, von der sie oft zu wenig habe. Später gab es andere Idole. Merkel "Das waren aber meistens Vorbilder, von denen wusste ich schon vorher, dass ich das nie schaffe werde, so zu sein wie die. Das waren entweder Schlagersänger, Turner, Eiskunstläufer, Tänzer, Weltreisende und Zauberer. Das sind so ungefähr all die Sachen, die ich überhaupt nicht kann. Und da hab' ich mich immer, viele Jahre habe ich damit zugebracht, mich danach zu sehnen, dass ich so werden möchte, wie diese Menschen waren. Hab immer überlegt: Wie musste das anstellen? Kannst'e das werden? Und hab' immer gedacht. Du hast genau das... all das, was Dir wichtig ist, die Eigenschaften hast Du nicht. Und für mich war das nicht immer so erbaulich als Kind." S Und noch viel später erst sei sie bei sich selbst angekommen. Merkel "Und als mal eine größere, überregionale Zeitung in ihrem relativ berühmten Fragebogen mich fragte: "Wer oder was möchten Sie sein?" Da konnte ich mich dazu entschließen, aufzuschreiben: "möglichst oft ich selbst". Und ich war damals einigermaßen froh, dass das keine so hingeschrieben Bemerkung war, sondern dass ich - "möglichst oft" zwar immer noch-, aber doch ich selbst sein wollte. D/S Ansage Merkeljahre Der unwahrscheinliche Weg der Angela M. Feature- / Podcast-Serie von Stephan Detjen und Tom Schimmeck Folge 1: Die Perle der Uckermark D/S DIALOG Was wollen wir wissen? Wer ist Angela Merkel? Worin besteht die eigentümliche Faszination dieser Frau? Das Fremdeln mit ihr Atmo Waldhof S Wir sind auf den Spuren der jungen Angela Merkel. D Die Quellen sagen: Sie war oft Klassenbeste, aber keine Streberin. Eher der Typ guter Kumpel. S Sie soll schon immer flache Schuhe getragen haben. D Kunstpostkarten gesammelt haben. S Sie versteht sich auf Kartoffelsuppe. D ...und bekanntlich auf Pflaumenkuchen mit Streuseln. S Hilft uns das weiter? S Vom Templiner Marktplatz sind nur zwei Kilometer, die Mühlenstraße hoch. Da führt eine Brücke über den Kanal, der den Templiner Stadtsee mit dem Röddelinsee verbindet. D Ein Stück weiter, am Friedhof vorbei, liegt linker Hand der Waldhof. S Ein weitläufiges Areal mit vielen Gebäuden und Ställen. Wir parken vor einem Hofladen, der Wildfleisch und Würste anbietet, Honig aus der eigenen Imkerei, Pflanzen aus der Gärtnerei, Brennholz aus der Holzwerkstatt. Der Waldhof ist enorm gewachsen seit der Wende. D Es riecht nach Pferdemist. Auf der Wiese vor der Kapelle findet gerade eine kleine Feier statt. Die Schulleiterin wird verabschiedet. Atmo, näherkommend: Feier / Kinderchor (Ansprache) S: "Haben Sie das mal gesehen zu jener Zeit?" Silberbach: "Also ich kann mich ganz blass entsinnen, dass ich als junger Mensch mal hier war, und die ganzen Gebäude, die jetzt hier stehen, all die Neubauten, die waren ja weg. Und da war viel freier Platz und der Waldhof war wirklich noch waldig." D Pastor Torsten Silberbach, Vorstandsvorsitzender der Stephanus-Stiftung. S Gleich nebenan: Das "Haus Fichtengrund", blassgrün gestrichen. Hier lebte die Familie Kasner. Die Eltern Herlind und Horst, mit den Kindern Angela, Marcus und Irene. D Dahinter ein Gärtchen. Da geht es hinunter zum Wasser. Silberbach "Da ist ein Kanal. Ist sehr schön, ja. Eine ausgesprochen romantische Ecke, die man erstmal entdecken muss. Es sah aber damals noch ein bisschen anders aus." S: "Oller?" "Ich hab's als nicht gerade gut in Stand in Erinnerung. Lacht Naja, wie es damals war. Muss Anfang der 80er Jahre gewesen sein oder so." Seyfried "Bevor ich hier auf dem Waldhof gearbeitet habe, habe ich in Hassleben gearbeitet. Ich habe 1986 das Kinderheim übernommen..." S Diakon Wolfgang Seyfried, bis 2016 der Chef des Waldhofs. Heute pensioniert. Hat ein Buch über die Geschichte dieses sehr speziellen Ortes geschrieben. D Gegründet 1854 als "Knabenrettungshaus" für verwahrloste Stadtjungen. Auf einer Landkarte aus der Nazizeit steht nur: "Erziehungsheim". Seyfried "Ja, das ist ganz spannend." D "Hallo!" Seyfried "Hallo, Dietmar!" Bewohner unverständlich Seyfried "Das ist ein Mikrofon." D "Das ist Radio." Seyfried "Nee, nicht anfassen." D "Kannst'e reinsprechen." S "Kannst'e reinsprechen." Bewohner "Hallo... Hallo" Seyfried "Ja, 'ne Antwort gibt der Kasten nicht." Bewohner "Na, Ka(r)sten?.. Herr Seyfried..." Seyfried "Ja?" Bewohner: ...wann ist DDR gestorben?" Seyfried "Na, das ist auch schon ein paar Jahre her." Bewohner "Erich Honecker seine Frau ist auch gestorben, oder?" Seyfried "Ja" Bewohner "FDJ ist auch gestorben, oder?" Seyfried "Nicht ganz." S "Da war Angela Merkel auch drin." Seyfried "Ich 'ne Zeit lang auch." Bewohner "Pioniere ist auch gestorben." D "Junge Pioniere. Die gab's viel hier, oder?" Bewohner "...auch gestorben." D "Alles hat sich verändert." Bewohner "Alles gestorben. Waren alle alt, ne?" Seyfried "Na, so alt ja nicht. Ich lebe ja auch noch." lacht Bewohner "Ich bin alt..." S "Wollen wir mal ein paar Schritte machen?" Schritte Seyfried "Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war das ganz normal in den Heimkontext eingebunden. Und hier war dann auch Unterricht, war Schule. Und das ist durch die Schulgesetzgebung von 1946 nicht mehr möglich gewesen. Da hat ja der Staat gesagt: Das machen ausschließlich wir und auf keinen Fall Private und schon gar nicht Kirchens." S Dass der Staat ein Monopol auf Bildung für sich reklamierte, hatte Folgen auch für den Waldhof. Seyfried "Das heißt, die flügge gewordenen - die 14, 16, 18jährigen - verließen die Einrichtung. Und nachgekommen sind Menschen mit geistigen Behinderungen oder mehrfachen Behinderungen. Und dieser Bereich gehört nicht in den Bereich der Volksbildung, sondern Gesundheit/Soziales. Und das durfte Kirche machen. D Über die Zustände Anfang der 1970er Jahre... S Da stand Angela Merkel kurz vor dem Abi. D ...fand Seyfried in den Akten einen Bericht. Auf dem Waldhof lebten damals 96 Männer in vier Schlafsälen. Sprecherin "Die Frauen waren auf dem Boden in Zimmern mit Dachschrägen untergebracht. Es fehlten sanitäre Anlagen. Die Zimmer waren mit 5 oder 6 Frauen belegt. Es gab nur Klappbetten." S Auf der Kinderstation waren 65 Kinder. Sprecherin "Schwerstbehinderte Kinder, die zum großen Teil im Bett lagen und einkoteten. Sie schliefen zusammen in einem großen Saal." D Kein pures Idyll. S Jetzt stehen wir vor dem grünen Haus ... S "Das ist es. Villa Merkel." Seyfried "Das ist das Haus Fichtengrund, in der eine Zeit lang auch die Familie Kasner gewohnt hat." S "Ja, natürlich." Seyfried "Ist heute wieder vollständig vom Waldhof in Arbeit." S "Wissen Sie, wo die Kasners gewohnt haben?" Mittlere Etage... jetzt das Dienstzimmer. D "Also, wenn man jetzt hier durchläuft, dann sieht man ja: Im Grunde ist man in einer Art kleinen Stadt, in einem Dorf, mit einer kleinen Kirche, Kirchturm, Häusern. Und man sieht gleich wirklich die ganze bunte Mischung von Menschen." Seyfried "Genau" D: "Da laufen jetzt Menschen mit dem Rollstuhl bei uns vorbei, Menschen, denen man ansieht, dass sie Behinderungen haben. Und so muss man sich damals das auch vorstellen? So war das immer hier, das hat dieses Leben geprägt?" Seyfried "So ist es gegründet worden. Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. sind hier die ganzen Gebäude entstanden. Also da, wo wir hier stehen, das Haus Fichtengrund, gehört mit 1905 eher zu den etwas jüngeren Gebäuden." S "Und wer wohnt da jetzt drin? Man sieht ein gutes Dutzend Briefkästen." Seyfried "Es haben auch einzelne Mitarbeitende da ihre Wohnung drin. Und es sind Menschen mit Behinderung, die aber frei, also ohne Heimstruktur leben. Die aber zum Teil eine ambulante Betreuung haben." S "Wenn man damals sagte in Templin: Ich wohne im Waldhof, was waren die Assoziationen der Templiner dann?" Seyfried "Naja, das Interessante ist ja, dass sie fast an jeder Stelle, fast in jeder Stadt, so im Kinderbereich, im Jugendberiech haben: "Also, wenn du das und jenes nicht macht, dann kommst Du nach..." Also Waldhof hatte eine gewisse Stigmatisierung. Und für die Menschen, die hier gewohnt haben, gab es kaum Verbindungen in die Stadt." D Es sei auf jeden Fall besonders, an einem solchen Ort groß zu werden, meint der Diakon. Prägend. S Man bekomme ein Bewusstsein dafür, dass nicht immer alles glatt läuft im Leben. D Und sei wohl besser gefeit gegen die Versuchung, sich zu erheben und abzugrenzen. S Seyfried ist mit großen Thesen eher zurückhaltend. Seyfried "Ich weiß es nicht." Atmo Marktplatz. Leiser Verkehr, später Glocken und ein Flugzeug Merkel "Und ich glaube, dadurch habe ich schon eine intensive Beziehung zu der mecklenburgischen Landschaft, wenn das dort ins brandenburgische übergeht. Was für mich wichtig ist, ist diese geringe Besiedelungsdichte. Das ist auch etwas, was mich in der Bundesrepublik alt unwahrscheinlich stört, weil dort alles so dicht besiedelt ist." S Templin ist eine der größten Städte Deutschlands - flächenmäßig. Größer als Dresden, Frankfurt am Main oder München. D Templin hat nur knapp 16000 Einwohner. Dafür jede Menge Kiefernwälder, Schorfheide, Schilf und endlos viele Seen. S Die Stadt nennt sich die "Perle der Uckermark" Jeutner "Wenn Sie sportlich sind, können Sie von hier mit dem Boot tatsächlich bis Hamburg fahren, über die Havel." D Angela Merkel, geboren im Hamburger Elim-Krankenhaus. S Das haben wir tatsächlich gemeinsam. D Der Vater Horst Kasner, 1926 in Berlin-Pankow zur Welt gekommen, hatte Theologie in Heidelberg und Hamburg studiert. Die Kasners gingen 1954 von West nach Ost, nach "drüben". S Im Jahr nach Stalins Tod. Im Jahr nach dem Volksaufstand vom 17. Juni. D Der Vater war alleine vorausgefahren in die "Ostzone". Mutter Herlind, 1928 in Danzig geboren, lebte noch in der Hamburger Isestraße, mit Baby Angela. Im Alter von drei Monaten, so geht die Legende, reiste das Baby in einem Korb am Arm ihrer Mutter in die DDR ein. S Der Umzugsunternehmer, erzählte Kasner ein halbes Jahrhundert später sichtlich amüsiert der "New York Times", habe damals zu ihm gesagt, er kenne nur zwei Sorten von Leuten, die von West nach Ost wechselten: "Kommunisten oder wirkliche Idioten." D Zuerst lebten die Kasners im Örtchen Quitzow bei Perleberg, dann, ab 1957, in Templin. Angelas Bruder Marcus kam in diesem Jahr zur Welt. 1964 dann ihre Schwester Irene. Seyfried "In den 1950ern Jahren haben viele meiner Brüder Pfarrämter übernommen, weil einfach nicht genug Pfarrer da waren. Das hatte zum Teil mit der Nachkriegssituation zu tun, mit dem Fluchtverhalten, auch mit menschlichen Verlusten. Es hatte auch mit Verstrickung von Kirche und NS-Staat zu tun, dass sich einige dann lieber aus dem Bereich der sowjetischen Besatzungszone herausbewegt haben. Und insofern sind einige wenige auch vom Westen aus hierhergekommen. Nach meiner Wahrnehmung war der Auftrag: Kirche in diesem Land, in dieser Situation muss Bestand haben." S Kasner, sagt Seyfried, liebte das offene Wort. Seyfried "Also er hat schon gesagt, was er glaubte, sagen zu müssen." Boysen "Wenn man sich vorstellt, man hat einen Vater, der diese Entscheidung für diese ganze Familie getroffen hat - gibt es da nicht einen expliziten oder implizit den Vorwurf: Wie konntest du?" D Jacqueline Boysen, Autorin einer der ersten Merkel-Biografien. Boysen "In dem Moment, wo der Kontakt zum westlichen Teil der Familie oder zur westlichen Welt nicht mehr möglich war. Das ist etwas, was über ihre Familie steht. Das wird nicht jeden Tag thematisiert worden sein. Aber es ist der Film, der mitläuft. Und ein sehr prägender Film." D Um den Vater, den "roten Kasner", ranken sich viele Geschichten. In Templin baute er ein Predigerseminar auf. S Wobei auch eingeschmuggelte Geldscheine aus der Westkirche geholfen haben sollen. Boysen "Also, Herr Kasner war ein bedeutender Pfarrer. Er war Leiter eines Pastoralkollegs. Er war versorgt mit Literatur aus dem Westen. Und in seinem Pastoralkolleg wurden durchaus auch sehr, sehr DDR-kritische Gespräche geführt, an denen die Kinder nicht unbedingt teilgenommen haben, aber die man auch als Kind natürlich mitkriegt. Und auch da gibt es wieder zwei Welten, nicht nur die sozialistische und die des Waldhofs, in dem sie groß geworden ist, sondern dann noch eine Subwelt, denn der evangelische Pfarrer Horst Kasner war überzeugter Sozialist. Und zwar nicht nur in dem Moment, in dem er nach dem Studium sich entschied, ins Brandenburgische zu gehen und sich nicht in einer westlichen Kirche anstellen zu lassen. Sondern auch später. Anders als viele Pastoren, die sich entschlossen haben, der DDR-Bürgerrechtsbewegung nicht nur ein Dach unter ihrer Kirche zu öffnen, sondern auch mittaten in dieser Bürgerrechtsbewegung, war Horst Kasner sehr, sehr lange Verfechter des "besseren Deutschlands", dass die DDR vorgab zu sein." S In den 60ern sagte Kasner, das ist verbürgt: Im Westen gibt es zu viele Nazis, und alles dreht sich nur ums Geld. Eppelmann "Ich hab' den bloß einmal erlebt, auf dem Predigerseminar in Vorbereitung auf mein 2. Examen." D Rainer Eppelmann. Der wird in der Geschichte Angela Merkels erst später eine Rolle spielen. Doch als Jungtheologe ist er Vater Kasner begegnet. Eppelmann "Und er sagte dann noch: "Aber ich werde zu den wenigen 100igen gehören, die dann eben die, die nur am Wochenende noch Pfarrer sind auszubilden und weiterzubilden und zu qualifizieren". Und da dachte ich: "Na du Arschloch!" Na, das war sein Selbstbewusstsein. Er ist in sehr DDR-freundlichen Einrichtungen und Verbänden ist er Mitglied gewesen und hat da mitgearbeitet." Atmo Gartentor / Tür Beeskow Beeskow "Ich weiß nicht, wie weit es gerechtfertigt war, Kasner als "roten Kasner" - also DDR-treu zu nennen. Also, das würde ich so nicht hinnehmen wollen." S Nur die Straße herunter wohnt Hans-Ulrich Beeskow, Jahrgang 1939. Beeskow "Viele sagten: Er hätte hinter der DDR so gestanden aus dem Grund, dass seine Tochter den Weg gehen konnte, Abitur und so." S Beeskow war Angela Merkels Mathelehrer, Beeskow "In der siebenten und achten Klasse." S im "Kreisklub junger Mathematiker". Und ist vielleicht ihr größter Fan. Beeskow "Sie war ja perfekt. Ihre Klugheit war herausstechend. Ich hatte sehr viele gute Schüler. Aber von den Mädchen war sie eine Ausnahmeerscheinung. Wirklich ganz toll. Dieses logische Denken bei ihr. Und im Kreisklub junger Mathematiker waren ja die Anforderungen weitaus höher als im Klassenverband. Und da war ich auch so begeistert, wie sie auch so an die Aufgaben heranging. Später dann als Bundeskanzlerin habe ich öfter mal so gedacht: Das war schon in der Schule ihre Art. Oft vom Ergebnis ausgehend den Weg zu finden, die Entwicklung zu finden. Also phantastisch." D Sie sei immer drangeblieben an der Aufgabe, schwärmt der alte Lehrer. (044) Sage erst etwas, wenn sie sich ein Bild gemacht habe. Nie vorschnell. Beeskow "Schüchtern eventuell nicht. Aber ein bisschen zurückhaltend in manchen Situationen würd' ich schon sagen." Beeskow "Das ist hier ihre Mutter..." D Er holt ein paar Fotos hervor. Beeskow "Das ist Frau Benn, ihre Russischlehrerin. ...Sie war in Mathematik eine Größe, und auch in Russisch." S War der Waldhof damals eine Art Refugium? D Eine Parallelwelt? Beeskow "Nicht unbedingt, weil ja vieles nicht möglich war zu DDR-Zeiten. Naja. In der DDR war es sicher zweigleisig." S Hans-Ulrich Beeskow hatte seine eigenen Erlebnisse mit der Stasi. Schon an der Uni. 1961, im Jahr des Mauerbaus. Beeskow "Und in unserem Seminar waren sie ganz scharf. Wir wurden zusammengerufen und sollten die Bereitschaftserklärung zur Armee unterschreiben." S Auch Diakon Seyfried staunte später, was die Stasi so wusste. Seyfried "Es hat auch etwas dafür, wenn man dann nachlesen kann, in welchem Schrank die eigenen Socken mal gelegen haben." Musik Wenn Mutti früh zur Arbeit geht (DDR-Lied) S Es ist kein nur dunkles Bild. D Findet auch Angela Merkel. Zitat aus einem Stern-Interview im Jahr 2000: Sprecherin "Ja, ich hatte eine schöne Kindheit. Das wird ja im Westen oft übersehen, dass das Leben in der DDR nicht nur aus Politik bestand. Die Uckermark als Landschaft ist wunderschön, wir sind im Wald rumgerannt, haben Blaubeeren gepflückt und Pilze gesammelt. Ich hatte mein Gartenstück, im Sommer bin ich jeden Tag baden gefahren. Abends auf dem See schwimmen war schön. Weihnachtslieder singen mit Echo." S Die drei Kinder sollten teilnehmen am DDR-Alltag, aber offenbar in Maßen. Sie gingen nicht in die Kita. Und erst später zu den Pionieren und zur FDJ. Merkel "...und deshalb durfte ich zum Beispiel erst in der zweiten Klasse in die Pioniere. Und es war ein ziemlich schlimmes erstes Jahr. ... Dann durft' ich erst ein Jahr später eintreten. Ich hab's überlebt..." D Der einzig bekannte Konflikt der Schülerin Angela mit den Autoritäten ereignete sich im Sommer 1972. S Beim jährlichen Kulturwettstreit präsentierte ihre Klasse 12b das Gedicht "Mopsenleben" von Christian Morgenstern. Sprecherin "Es sitzen Möpse gern auf Mauerecken, die sich ins Straßenbild hinauserstrecken, um von sotanen vorteilhaften Posten die bunte Welt gemächlich auszukosten. O Mensch, lieg vor dir selber auf der Lauer, sonst bist du auch ein Mops nur auf der Mauer." D Das Wort "Mauer" war wohl schon zuviel. S Danach sang die Gruppe die Internationale - auf Englisch. D Es gibt verschiedene Versionen dieser Geschichte, über den eigentlichen Grund der offiziellen Empörung, über die Rolle des Klassenlehrers, der später wohl auch strafversetzt wurde. S Fest steht: Es gab Verhöre, aber auch Widerspruch der Eltern. Horst Kasner wandte sich an den Bischof. Und der an höhere Stellen. Beeskow "...dass Herr Kasner den Draht hatte, naja, zu den Organen, die das verhindern konnten. Und diesen Einfluss hätte er wahrgenommen. Und dadurch hatte die ganze Klasse dann auch Glück gehabt." D Angela Kasner erhielt einen Verweis für die "politische Provokation". Im Zeugnis tauchte die Schulstrafe nicht auf, das Studium war nicht gefährdet. Merkel "Die Entscheidung, Physik zu studieren, war zum einen wegen... aufgrund dessen, dass mich das interessiert hat." Merkel "Zwei mal zwei war auch im Osten vier. Zumindest meistens, wenn man es selber ausgerechnet hat." D 1973 zieht Angela Kasner nach Leipzig, studiert Physik an der Karl-Marx-Universität. S Eigentlich wollte sie wohl Lehrerin werden. Wie ihre Mutter. Die ihren Beruf in der DDR aber nicht ausüben durfte. D Sie fürchtete, den Schülern Dinge sagen zu müssen, die nicht ihrer Überzeugung entsprachen. Merkel "Und diesem Konflikt bin ich ausgewichen durch das Physikstudium." S Im Leipziger Studentenclub Moritzbastei war die "Bardame" Angela für ihren selbstgebrauten "Kirsch-Whisky" bekannt. Sprecherin "Wir haben selber Disco veranstaltet bei uns im Physikgebäude. 60/40 musste gespielt werden. Das war jetzt nicht der Alkoholanteil zum Wasser. Es wurde verlangt: 60 Prozent Ost. Es war nur die Art der Titel, es wurde aber nicht gesagt, wie viele Minuten welcher Titel gehen musste. Und deshalb hatte man da eine gewisse Bandbreite..." D Bei einem Jugendaustausch mit Physikstudenten in Moskau und Leningrad lernt sie den schweigsamen Ulrich Merkel kennen. S Im September 1977 wird das Paar in Templin kirchlich getraut. D Angela Merkels Diplomarbeit bekommt Mitte 1978 ein "Sehr gut". Atmo Albrechtshof, Berlin Mitte Detjen: "Also wir sitzen jetzt hier ein paar Schritte vom Bahnhof Friedrichstraße entfernt, in der Albrechtstraße. Ein evangelisches Hotel." S Treffen mit der Biografin Jacqueline Boysen. Boysen "Der Albrechtshof hat insofern eine interessante Geschichte, als er der Berliner Stadtmission gehört, ein kirchlich getragenes Haus ist und seine Lage ihn besonders auszeichnet als zweites. Seine Lage dicht am Bahnhof Friedrichstraße. Unter da Angela Merkel bekanntlich aus seiner ost-westdeutschen Familie stammt und der Kontakt zu ihrer westdeutschen Familie, der Familie Jentsch aus Hamburg, nie abgerissen ist, war das praktisch, dieses Hotel als Treffpunkt auszuwählen." D Bis 1961 hatte man gemeinsam Urlaub gemacht. In Ost und West. Zuletzt, wenige Wochen vor dem Mauerbau, mit der Oma aus Hamburg in Bayern. S Mathelehrer Beeskow berichtet, für Herlind Kasner sei die Trennung sehr schmerzhaft gewesen. Beeskow "Sie durfte ja nicht rüber. Obwohl ihre Eltern oder - auf jeden Fall lebte ihre Mutter noch und sie hat einen Antrag gestellt und der wurde abgelehnt. Das gab's auch für Kasners nicht." Merkel "Als ich in der Akademie gearbeitet habe, hab' ich immer hinter meinem Schreibtisch gesessen und musste nur aufpassen, dass die Ärmel meiner Pullover nicht durchgescheuert sind. Da sind jetzt natürlich andere Abnutzungserscheinungen zu bemerken." S 1978 ziehen Angela und Ulrich Merkel nach Berlin Ost. Die Diplom-Physikerin arbeitet am ZIPC, dem Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof. Bereich: Theoretische Chemie. D Drei Jahre später trennt sich das Paar, wird kinderlos geschieden. S Politische Aktivitäten sind nicht bekannt. Boysen "Sie tritt nicht in Erscheinung. Anders übrigens als ihr Bruder übrigens, der ist etwas jünger und befreundet, eng befreundet mit Günther Nooke und mit in der Oppositionsbewegung vertraut. Und sie trifft die Entscheidung: Nein, dem schließe ich mich nicht an. Es gibt sogar Schilderungen, wie sich Gruppen um Nooke rum und Markus Kasner im Waldhof treffen und sie zunächst dabei ist und dann aus dem Raum geht, also offenkundig nicht mitmachen will." D Bruder Marcus wird sich später bei den Grünen engagieren. Boysen "Sie ist ein sehr vorsichtiger Mensch und sie ist ein sehr realistischer Mensch. Und ich habe nicht nur den Verdacht, sondern aus Gesprächen sowohl mit ihr wie auch dann mit ihrem Umfeld immer den Eindruck gehabt, dass ihr das zu vage war, was in diesen oppositionellen Kreisen der späten DDR diskutiert wurde." S Anfang 1986 reicht Angela Merkel ihre Dissertation ein: Sprecherin "Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden." D Der Alltag am ZIPC in Adlershof beginnt Punkt 7.15 Uhr. S Dort arbeiteten etwa 700 Menschen, rund die Hälfte Wissenschaftler. D Auch der Chemiker Joachim Sauer, der ihr zweiter Ehemann wird. Merkel "Mein Mann ist eigentlich ein sehr ruhiger Typ, der seine Gefühlsregungen glaub' ich, auch sehr gut im Griff hat." Merkel "Manchmal sagt er auch von selbst was." S Im Keller des Instituts modelliert Merkel an einem Robotron-Computer physikalische und chemische Prozesse. Füttert ihn mit Lochkarten. Schindhelm "Das war natürlich irgendwie interessant, weil im Grunde wir wirklich wie in so einer Endlosschlaufe da unseren Grundlagenforschungen nachgehen konnten." D Kollege Michael Schindhelm. Später Theaterintendant und Filmemacher. Schindhelm "Es gab einen einzigen Computer auf dem riesigen Gelände. Und wir hatten diese Lochkarten, mit denen wir dann stapelweise die Computer gefüttert haben. Um dann gewisse Informationen zu bekommen über unsere wissenschaftlichen Forschungen, die ich offen gestanden nicht besonders attraktiv gefunden habe. Nach einiger Zeit habe ich mich dann auch entschieden, weg zu gehen." Merkel "Ich meine, wir haben das als Mitarbeiter dieser Akademie eigentlich immer gewusst, dass wir ein typisch sozialistisches Produkt sind in dieser Größe. D Die Akademie bot ihr eine Aufgabe und ein festes Gehalt." S Noch ein Refugium. Merkel "...und wir haben von den Vorteilen profitiert, zum Beispiel davon, dass wir eine unbefristete Anstellung hatten. Und dagegen hat natürlich keiner in dem Sinne opponiert, weil es ja auch auf eine bestimmte Art und Weise bequem war." Merkel "Ich war gern in der FDJ, muss ich sagen..." S Am Zentralinstitut ist Angela Merkel Mitglied der Kreisleitung der FDJ, als Kulturbeauftragte oder - hier variieren die Quellen - "Sekretärin für Agitation und Propaganda". D Dem Journalisten Günter Gaus erzählt die junge Frauenministerin 1991 in einem Fernsehinterview, sie habe sich zum Beispiel "um die Bestellung von Theaterkarten gekümmert". Merkel "Aber ansonsten war es auch 70 Prozent Opportunismus natürlich." S Kultur, sagt Michael Schindhelm, spielte eine Riesenrolle. Schindhelm "Ich kann mich zwar noch erinnern, dass wir zusammen den andalusischen Hund von Bunuel gesehen haben, den es in eine Sonderführung im Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz gegeben hat. Oder dass wir bei Palestrina in der Staatsoper waren. Wir haben alle viel gelesen." Beeskow "Ich bin dann nach der Wende sehr schnell Mitglied der CDU geworden." S Der Mathelehrer. Beeskow "Naja, und dadurch waren wir beide in der gleichen Partei." S "Hätten Sie wahrscheinlich auch nicht vermutet?" Beeskow "Nein. Damals, als ich sie als Schülerin hatte, auf keinen Fall." S "Während Mutter Kasner ja in die SPD gegangen ist..." Beeskow "SPD. Ja. Und Vater Kasner hat sich rausgehalten. Und war auch aus meiner Ansicht ein bisschen so zunächst in Richtung CDU nicht so freundlich, hat es vielleicht, ich weiß es nicht, bedauert, dass seine Tochter dann in die CDU gegangen ist." Atmo Abschied, Treppe, Gemurmel, Tür, S An der Haustür gucken wir auf den neu gestalteten Bürgerpark gegenüber. Wo noch ein Marx-Denkmal steht. S Und Marx ist geblieben? Beeskow "Marx ist geblieben und Lenin fiel. Wo Lenin stand, das Denkmal, da ist jetzt ein schöner Kinderspielplatz. Hat man sehr schön gestaltet, zwei Tore..." Gartentor knarrt D Angela Merkels Mutter Herlind Kasner gehörte zu den ersten Mitgliedern der neu gegründeten Ost-SPD in Templin. Und wurde die erste Präsidentin des Templiner Kreistages. Tabbert "Und sie hat bis ins hohe Alter hinein aktiv am Stadtleben teilgenommen, hatte Vorschläge, hat uns kritisch begleitet. Und ähnlich, glaube ich, die Tochter ist veranlagt." S Detlef Tabbert, Templins Bürgermeister, von der Linkspartei. D Auch Horst Kasner, erzählt er, sei in Templin sehr präsent gewesen. Tabbert "Er war ja auch ein großer Mann. Er war nicht zu übersehen." S Und nicht zu überhören. Tabbert "Ich war einmal im Wald und dann hörte ich eine laute, sehr laute Stimme. Ich hab' überlegt: Wer läuft denn hier schreiend durch den Wald? Und das war der Herr Kasner. Ich hab' gefragt: ‚Herr Pfarrer, was machen Sie denn hier, so laut? Die Tiere erschrecken sich ja.' Und da sagte er: ‚Vor einer Predigt muss ich üben. Und je lauter ich spreche, umso eher kann ich den Klang erfassen, wie meine Worte rüberkommen.'" Merkel Wenn ich ein politisches Produkt bin, dann eins der deutschen Einheit, darauf bin ich stolz: Gesamtdeutsche Politikerin mit ostdeutschen Wurzeln zu sein. Und ansonsten bin ich ein Produkt meiner Eltern, und darauf bin ich auch stolz. S Auch Vater Kasner habe mit der SPD sympathisiert, erzählt Diakon Seyfried. S "War das für Sie folgerichtig oder war das eine Überraschung?" Seyfried "Für mich nicht, also das passte eigentlich." D "Und dann sind im Grunde die zwei Frauen, nämlich Angela und die Mutter, dann parallel dann, 1989/90, in die Politik eingestiegen?" Seyfried "Ja. Ja." Merkel, Rede zum Tag der Einheit Kiel 2006 "Herbst 1989. Die Mauer ist gefallen, ich habe Lust bekommen, Politik zu machen. Raus aus dem alten Beruf an der Akademie der Wissenschaften, rein ins Ungewisse, ins völlig Neue. Damals, vielleicht auch ein wenig später, ich weiß es nicht mehr genau, schenkte mir ein Freund ein Buch mit einer Widmung. Michael Schindhelm und ich hatten zu DDR-Zeiten einige Monate Tisch an Tisch in der Akademie der Wissenschaften zusammengearbeitet. Vor allen Dingen aber hatten wir miteinander geredet, geredet, geredet und noch einmal geredet - darüber, warum man in diesem Staat DDR nie seine Grenzen ausprobieren konnte, darüber, warum vieles so eng, so spießig war, so klein, darüber, wie wunderschön das letzte Geburtstagsfest war, oder darüber, was wir für den nächsten Urlaub planten. Wann genau er mir sein Buch geschenkt hat, das weiß ich, wie gesagt, nicht mehr. Aber es ist auch egal. Entscheidend ist die Widmung. Sie ist für mich wie die Überschrift über all meine Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte aus dieser Zeit. Er schrieb: ‚Gehe ins Offene!' Das war mit das Schönste, was man mir zu dieser Zeit sagen konnte. Und wie bin ich losmarschiert, und wie viele andere auch - hinaus ins Offene, ins Neue." Sprecher Merkeljahre Der unwahrscheinliche Weg der Angela M. Folge 1: Die Perle der Uckermark Feature- / Podcast-Serie von Stephan Detjen und Tom Schimmeck Ton und Regie: Tom Schimmeck Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2021. HIER TITEL Seite 12 / 16 MERKELJAHRE Folge 1 Seite 2