Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Die Jägerin Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt Folge 1: Wie alles begann Autoren: Lucia Heisterkamp und Paul Hildebrandt Regie: Philippe Brühl Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk/NDR 2022 Erstsendung: Dienstag, 26.07.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Louis Ferdinand Thiele, Claudia Mischke, Lisa Bihl, Daniel Berger, Andreas Potulski, Hüseyin Michael Cirpici, David Vormweg und die Autoren Ton und Technik: Thomas Widdig Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Teil 1: Wie alles begann Musik Autorin Die Geschichte über die Frau, die einige der brutalsten Menschenhändler der Welt vor Gericht gebracht hat, beginnt mit einem Telefonat im Februar 2011. 01 O-Ton Estefanos [spricht Tigrinya] "Hello? Hello Salam, Meron Estefanos... 02 O-Ton Binyam [spricht Tigrinya] OV Sprecher 1 "Wir sind in einem Keller unter der Erde. Sie haben uns gefesselt. Drei von uns wurden nach oben gebracht. Wir hören von draußen ihre Schreie." Autorin Meron Estefanos, geboren in Eritrea, sitzt in ihrer Wohnung in Stockholm. Sie spricht auf Tigrinya, der Sprache Eritreas, mit einem Mann, der tausende Kilometer entfernt auf der Halbinsel Sinai in Ägypten gefangen gehalten wird. 03 O-Ton Binyam Spricht auf Tigrinya OV Sprecher 1 "Ich habe kaum Worte, um zu beschreiben, wie es hier ist. Sie kommen einmal pro Stunde. Und dann foltern sie uns. Abends, nach vielen Stunden der Misshandlungen, geben sie uns ein Stück Brot und ein bisschen Wasser. Wir wurden so stark misshandelt, dass wir überall auf unseren Rücken Wunden haben. Wir warten alle darauf zu sterben." Autorin Meron Estefanos arbeitete zu dieser Zeit als Radiojournalistin. Den Anruf hat sie damals aufgezeichnet. Musik Autorin Das Telefongespräch ist der Beginn einer Geschichte, die vom Menschenhandel mit Geflüchteten erzählt. Von Männern, die reich werden, indem sie Menschen foltern. Sprecher 3 Die Jägerin - Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt. Teil 1: Wie alles begann. Eine Feature-Serie von Paul Hildebrandt und Lucia Heisterkamp Autorin Die Geschichte erzählt vom Scheitern europäischer Behörden gegen diese Verbrechen und von Politikern, die dem Leid untätig zuschauen. Sie führt nach Eritrea, dem kleinen Land am Horn von Afrika, wo tausende Menschen vor einem brutalen Diktator fliehen. 01 Atmo Nachrichtenschnipsel Deutsche Welle "Das sogenannte Nordkorea Afrikas, aus dem geschätzte 2.000 Menschen jeden Monat fliehen." Autorin Sie führt nach Libyen, wo Flüchtlinge entführt und misshandelt werden, damit ihre Familien Lösegeld zahlen. 04 O-Ton Giuila Tranchina "These informal torture camps are huge. Bani Walid is a cathedral of torture." OV Sprecherin 1 "Diese informellen Foltercamps sind riesig. Bani Walid ist wie eine Kathedrale der Folter." Autorin Und sie erzählt von einer Frau, die alles aufgibt, um die Verbrechen zu stoppen. 05 O-Ton Estefanos "At that time, I was so naive and I thought, like, this is happening because the world doesn't know about it." OV Sprecherin 2 "Damals war ich noch so naiv und dachte, das passiert, weil die Welt davon nichts weiß" Autorin Für viele Menschen ist Meron Estefanos so etwas wie eine Heldin, denn sie hat etwas scheinbar Unmögliches geschafft: Sie hat einen der gefährlichsten Verbrecher der Welt vor Gericht gebracht. Sprecher 2=Zitator (liest aus den Gerichtsakten) "Dem Angeklagten wird vorgeworfen seine Opfer in Bani Walid mit der Waffe bedroht zu haben. Der Angeklagte hat seine Opfer anschließend mit einem Seil festbinden lassen und sie mit flüssigem Plastik übergossen." Autorin Doch für ihren Kampf musste Estefanos einen hohen Preis zahlen. Musik 02 Atmo Schritte Autorin 11 Jahre danach besuchen wir Meron in ihrer kleinen Wohnung im 3. Stock in einem Vorort von Stockholm. 03 Atmo Hildebrand/Estefanos "Hi Meron, how are you doing?" "Not so good" "Oh ok, is it ok if we come in?" "Yes, please" Autorin Meron Estefanos ist heute 47 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern. Eine kleine, zierliche Frau mit kurzen Haaren. Sie ist dezent geschminkt, aber ihre Augen sehen müde aus. Sie führt uns ins Wohnzimmer, die Vorhänge sind zugezogen, eine nackte Glühbirne baumelt an der Decke. Wir setzen uns auf die schwarze Ledercouch. 04 Atmo Heisterkamp/Estefanos "Do you remember the very first time, like how this all started, like the very first time that somebody called you?" "Oh, yeah, yeah, I remember." Autorin Estefanos arbeitete damals bei einem Radio für Exil-Eritreerinnen und Eritreer. Aus ihrer Küche in Stockholm berichtete sie von den Opfern der Diktatur und von den Schicksalen der Menschen auf der Flucht. Eritrea gilt als eine der brutalsten Regime der Welt, ein UNO-Bericht spricht von Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Willkürliche Festnahmen, Folter, Sklavenhaltung. Mehr als eine halbe Million Menschen sind in den vergangenen zwanzig Jahren von dort geflohen. Estefanos ist in dem kleinen Land am Horn von Afrika geboren, als Jugendliche kam sie nach Schweden. Schon damals hat sie Spenden gesammelt und Flyer gegen die Diktatur in Stockholms Innenstadt verteilt. Als Aktivistin hörte sie oft Geschichten über Gewalt und Ausbeutung. Doch der Anruf im Februar 2011 sollte ihr Leben für immer verändern. Ein Bekannter aus der eritreischen Community hatte ihr eine Telefonnummer gegeben. 06 O-Ton Estefanos "He said: Oh, my brother got kidnaped with 28 others in Egypt, and I'm being asked to pay $20000." OV Sprecherin 2 "Er sagte, mein Bruder wurde mit 28 weiteren Menschen in Ägypten entführt und ich soll jetzt 20.000 Dollar zahlen." Autorin Der Bekannte sagt zu ihr: Wenn du mir nicht glaubst, ruf an. Also wählt Estefanos die Nummer mit ägyptischer Vorwahl. Und plötzlich spricht sie mit dem Mann, der ihr erzählt, er werde von Beduinen gefangen gehalten. Hier nochmal ein Ausschnitt aus der Originalaufnahme. 07 O-Ton Binyam [spricht auf Tigrinya] OV Sprecher 1 "Wir sind in einem Keller unter der Erde. Sie haben uns gefesselt. Drei Leute haben sie rausgebracht, wir hören von draußen ihre Schreie." 08 O-Ton Estefanos [spricht auf Tigrinya] OV Sprecherin 2 "Erzähl mir mehr, was sagen sie zu euch?" 9 O-Ton Binyam [spricht auf Tigrinya] OV Sprecher 1 "Sie sagen, wenn kein Geld kommt, dann wird die Sache nicht gut für uns ausgehen." Autorin Der Mann sagt, er heiße Binyam und sei 22 Jahre alt. Die Beduinen geben ihnen Telefone, damit sie ihre Familien im Ausland anrufen und um Lösegeld betteln. Menschenrechtsorganisationen bestätigen später, was der Mann am Telefon erzählte. Zwischen 2011 und 2014 sollen schätzungsweise 30.000 Menschen auf ihrer Flucht verschleppt worden sein - von Schmugglern, die sie an Beduinen auf der Halbinsel Sinai verkauften. Deren Geschäftsmodell ist so grausam wie perfide: Sie foltern ihre Geiseln am Telefon, damit Angehörige aus aller Welt Lösegeld zahlen. Meron Estefanos wird an diesem Tag vor elf Jahren eine der ersten Zeuginnen der Verbrechen. 10 O-Ton Estefanos "It wasn't like I'm used to hearing like hardship of refugees and things..." OT Sprecherin 2 "Nicht, dass ich es nicht gewohnt gewesen wäre, schreckliche Dinge von Flüchtlingen zu hören - aber hier, das war etwas ganz anderes. Ich dachte nur: So etwas gibt es nicht mal in Horrorfilmen!" Autorin Heute gibt es Berichte und Artikel über die Foltercamps im Sinai. Damals wusste kaum jemand, was dort vor sich ging. Die Radiojournalistin Meron Estefanos hatte nur einen Gedanken. 11 O-Ton Estefanos "I just couldn't believe it. And then I said, ok, I have to broadcast this." OV Sprecherin 2 "Ich konnte es einfach nicht glauben. Und dann habe ich gesagt: Okay, ich muss das senden." Autorin Sie ließ den Anruf mit dem Gefangenen ungeschnitten in ihrer Radiosendung ausstrahlen. Sie glaubte: Sobald die Welt erfährt, was im Sinai passiert, wird jemand die Geiseln befreien. Doch es geschah nichts. Binyam und die anderen wurden über Monate festgehalten. Schließlich setzten die Kidnapper ihn in der Wüste aus, nachdem seine Familie das Lösegeld überwiesen hatte. Er landete in Israel. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Leben von Meron Estefanos bereits von Grund auf geändert. 12 O-Ton Estefanos "Because these hostages, you know, they had recorded, they had saved my number. OV Sprecherin 2 "Die Geiseln hatten meine Nummer gespeichert. Und dann begannen sie, mich anzurufen, jede Minute. Sie haben gebettelt, bitte, bitte." Autorin Immer mehr Menschen wurden im Sinai verschleppt. Und die Gefangenen reichten Estefanos Nummer weiter wie eine Lebensversicherung. Wer nicht wusste, wen er um Hilfe bitten soll, meldete sich bei ihr. Plötzlich klingelte das Telefon von Meron Estefanos im Minutentakt. 13 O-Ton Estefanos "I felt like if I don't pick up, then it will be my fault if somebody dies." OV Sprecherin 2 "Ich hatte das Gefühl, wenn ich nicht abhebe, dann ist es meine Schuld, wenn jemand stirbt. Ich war einfach eine normale alleinerziehende Mutter, und plötzlich hatte sich mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Ich habe mich ständig schuldig gefühlt, sogar beim Essen. In den ersten drei Monaten habe ich wie in einer Blase gelebt. Es hat drei Monate gebraucht, bis ich wirklich begriffen habe, was da passiert." Musik/Pause Autorin Noch war Estefanos davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis jemand die Verbrecher stoppen würde. 14 O-Ton Estefanos "So I start contacting Amnesty, UNHCR, Human Rights Watch and everybody, organizations like anti-trafficking organizations, governments." Autorin Sie schrieb Nachrichten an große Hilfsorganisationen, an den UNHCR, an Human Rights Watch und Amnesty International. Sie kontaktierte Zeitungen und Radiosender, verfasste Berichte, gab Interviews. Meron Estefanos wurde mit dieser Geschichte bekannt. Aber sie zahlte einen hohen Preis. 15 O-Ton Estefanos "I couldn't even like, be attentive to my kids because the phone call was like at that time, I don't know." OV Sprecherin 2 "Ich hatte nicht mal Zeit für meine Kinder weil das Telefon ständig klingelte. Mein jüngster Sohn war sehr jung und ich erinnere mich, dass das Telefon oft klingelte, wenn wir gerade essen wollten. Ich sagte dann immer: Bitte lass mich abheben, es geht hier um Leben und Tod. Und er sagte: Das blöde Telefon klingelt wieder. Dann wurde mir klar, wie belastend das alles auch für meine Kinder war, weil ich überhaupt keine Zeit mehr hatte. All das hat mich als Mensch völlig verändert. Ich habe damals alle meine Freunde verloren." Autorin Eine israelische Filmemacherin drehte 2013 einen Dokumentarfilm über Meron Estefanos, er heißt "Sound of Torture", der Klang der Folter. 05 Atmo: Filmausschnitt (läuft weiter) Autorin Man sieht die junge Aktivistin, damals noch mit langen, lockigen Haaren, die in ihrer Küche vor dem Laptop sitzt und weint, während sie mit den Geiseln telefoniert. Nebenan im Wohnzimmer sitzen ihre beiden kleinen Söhne und spielen mit dem Handy. 05 Atmo: Filmausschnitt Autorin Begleitet von einer Kamera reiste Estefanos nach Ägypten auf den Sinai, um dort die Behörden wachzurütteln. Eine junge Frau, die loszieht, um Tausende Menschen zu retten. Und man ahnt, dass sie damals wirklich noch glaubte, das auch zu schaffen. Aber niemand schritt ein, um den Menschenhändlern das Handwerk zu legen. Es gab keine humanitäre Intervention, keinen diplomatischen Druck. Der Sinai schien weit weg zu sein. Doch dann erfuhr Estefanos, dass einige der Täter sogar in Europa lebten. Pause Sprecher 2=Zitator (liest Gerichtsakte) "Auszug aus der Gerichtsakte. Landgericht Solna, Abschnitt 2, Urteil 28.6.2013. Oberstaatsanwalt: Krister Petersson Klägerin: Meron Estefanos "In Anbetracht der Morddrohung und der hohen Summe, um die es geht, ist der Strafbestand der Erpressung schwerwiegend." Autorin Am 28. Juni 2013 saß Meron Estefanos in Solna, einer Gemeinde am Rande von Stockholm, in einem Gerichtssaal zwei Männern gegenüber, die mutmaßlich mit den Menschenhändlern im Sinai kooperiert hatten. So steht es in den Akten der Internationalen Staatsanwaltskammer Stockholm, die wir für unsere Recherche einsehen konnten. Darin heißt es, die Angeklagten sollen 33.000 Dollar von Meron Estefanos erpresst haben. Lösegeld für einen Eritreer, der im Sinai entführt worden war. Zu diesem Zeitpunkt telefonierte Estefanos schon seit zwei Jahren täglich mit Geiseln aus den Foltercamps. Damals erfuhr sie, dass sich das Netzwerk der Täter weit über Ägypten hinaus erstreckte. 16 O-Ton Estefanos "Because Eritreans who was getting kidnapped in Sinai, Egypt, they were being asked to pay ransom money here in Sweden..." OV Sprecherin 2 "Eritreer die im Sinai entführt wurden, mussten auch bei Familien in Schweden nach Lösegeld fragen. Das heißt, die Menschenhändler in Ägypten mussten Mittelsmänner haben, die in Schweden leben." Autorin Estefanos beschloss, den Mittelsmännern eine Falle zu stellen. Sie spielte den Lockvogel und gab sich als Angehörige des Gefangenen aus. 17 O-Ton Estefanos "I get a text message from someone and it's written in Swedish, and then the person says. Hi, oh, you can send the money to me, the $33.000." OV Sprecherin 2 "Ich bekam dann eine Nachricht von jemandem auf Schwedisch. Und die Person sagte, hi, du kannst das Geld an mich schicken, es sind 33.000 Dollar." Autorin Die schwedische Polizei, so steht es in den Akten, begann auf Estefanos' Hinweis hin, die Telefone des Mannes und eines weiteren Erpressers abzuhören. Sprecher liest Gerichtsakte Nachricht am 4. Februar 2013,12:20 Uhr: "Du hast anderthalb Stunden Zeit. Nimm das Geld und triff mich in Stockholm am letzten Tag deines Aufenthalts. Ansonsten kannst du alles vergessen." Autorin Es kam nie zu der Übergabe, denn kurze Zeit später nahm die Polizei die beiden Männer fest. Sie wurden wegen Erpressung angeklagt. Zum ersten Mal mussten sich Mittäter, die Teil des brutalen Geschäfts im Sinai waren, vor Gericht verantworten. Tausende Kilometer vom Tatort entfernt. Mit im Gerichtssaal war außerdem der leitende Staatsanwalt, ein Mann names Krister Petterson. 18 O-Ton Petterson "She was very engaged..." OV Sprecher 4 "Sie war sehr engagiert. Sie hat vor Gericht ihre Geschichte erzählt und sie wusste ganz genau, worüber sie sprach." Autorin Neun Jahre ist der Prozess her, aber Krister Petterson, inzwischen 60 Jahre alt, erinnert sich noch gut an Meron Estefanos. Petterson ist heute verantwortlich für organisierte Kriminalität. Wir treffen ihn im Januar 2022 in seinem Büro in der Stockholmer Innenstadt. Doch obwohl Meron den Fall damals glaubwürdig vor Gericht schilderte, obwohl den Richtern die abgehörten Anrufe und Nachrichten der Erpresser vorlagen, fiel die Strafe für die beiden Männer äußerst mild aus. Zwei Monate Freiheitsentzug wegen Erpressung. 19 O-Ton Petterson "The problem is that the court has to be convinced of the connection between the kidnappers and the blackmailers." OV Sprecher 4 "Das Problem ist: Die Richter müssen davon überzeugt sein, dass es eine direkte Verbindung zwischen den Kidnappern und den Erpressern gibt. Und wir konnten nicht wirklich herausfinden, wer genau im Sinai verantwortlich war, das war das Problem. Ich glaube auch, dass die Strafe ziemlich mild war. Aber meiner Meinung nach hätten wir da nichts tun können." Autorin Die Schwierigkeit sei damals gewesen, dass die Verbrechen über Ländergrenzen hinweg stattfanden, sagt Petterson. Erpressungen in Schweden, die mit Entführungen im Sinai zusammenhängen - schwer darstellbar. 20 O-Ton Petterson "We have this problem that Sinai in that time was somewhat lawless territory belonging to Israel, to Egypt..." OV Sprecher 4 "Unser Problem war, dass der Sinai damals ein rechtloses Gebiet war, das irgendwie zu Israel und zu Ägypten gehörte und niemand hatte dort wirklich Kontrolle. Deshalb war es sehr schwierig, die Verbrechen dort zu ahnden." Autorin Meron Estefanos überzeugt diese Argumentation nicht. Sie sagt, die schwedischen Behörden hätten den Fall nicht ernsthaft genug verfolgt. 21 O-Ton Estefanos "Our plight was not being taken seriously." OV Sprecherin 2 "Obwohl wir schwedische Staatsbürger sind, wurde unser Leid nicht ernst genommen. Viele eritreische Familien haben Anzeige erstattet wegen der Erpressungen und es ist einfach nichts passiert. Also haben die Leute irgendwann gesagt: Warum sollten wir zur Polizei gehen, wenn doch nichts getan wird?" 22 O-Ton Petterson "We investigate as good as we know..." OV Sprecher 4 "Wir ermitteln so gut wir können. Wir haben keine zentrale Einheit, die sich genau um solche Fälle kümmert, aber wir versuchen, so gut es geht zu ermitteln. Aber vielleicht sind wir nicht gut genug. Ich weiß es nicht." Musik, Pause 06 Atmo Nachrichtenton: Offensive im Sinai "Der Konflikt auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel geht weiter. Das Staatsfernsehen berichtet, Soldaten hätten 6 mutmaßliche Terroristen festgenommen. In den vergangenen Tagen war das Militär massiv gegen Extremisten im Sinai vorgegangen." Autorin September 2013, wenige Wochen nach dem Gerichtsprozess in Stockholm. Im Sinai begann das ägyptische Militär eine Großoffensive gegen Islamisten. Bei dem Einsatz wurden auch die Foltercamps der Beduinen zerstört. Nicht europäische Ermittler oder internationale Truppen, sondern ägyptische Panzer beendeten den Folterhandel. Ungewollt. Auch hunderte Flüchtlinge in den Lagern starben bei dem Militäreinsatz. Eine Tragödie! Doch für kurze Zeit schien es zumindest, als sei es mit dem brutalen Geschäft der Menschenhändler vorbei. Aber dann begann das Telefon von Meron Estefanos wieder zu klingen. Diesmal kamen die Anrufe von einem anderen Ort. 07 Atmo: Rufe Libya, Libya. Oktober 2021, Frankfurt am Main. Im Bahnhofsviertel demonstrieren hunderte Menschen, die meisten von ihnen sind Eritreer. Ein Mann ruft durch ein Mikro, die Menge brüllt zurück, auf Tigrinya: "Freiheit, Freiheit!" Auf ihren Plakaten steht: Stoppt den Sklavenhandel in Libyen! Wir treffen hier Rut Bahta von "United For Eritrea", einem Verein für Exil-Eritreerinnen und Eritreer. Bahta sagt, auch in Deutschland sind Erpressungsanrufe, wie sie Meron Estefanos erhalten hat, ein riesiges Thema. Heute kommen die Anrufe aus Libyen. 23 O-Ton Rut Baha "Es gibt eigentlich, wenn ich jetzt in die Community gucke, gibt es keine Familie, die nicht sagt, wir sind nicht betroffen, also alle sind in irgendeinem Stadium betroffen gewesen. Also es gibt keinen, dessen Cousin nicht gekommen ist über diesen Weg oder eine Cousine oder der Onkel oder die Tante, manchmal auch die, also die Eltern oder umgekehrt die Kinder." Autorin In der Menschenmenge treffen wir eine junge Eritreerin. Sie hat erfahren, dass wir Journalisten sind und will uns ihre Geschichte erzählen. Rut Bahta übersetzt für uns. 8 Atmo: Frau auf Tigrinya/Rut Bahta "Also vor 5 Jahren war sie tatsächlich auch in Libyen, ist über den Weg hierhergekommen." Autorin Die Frau erzählt, auf ihrer Flucht durch Libyen sei sie in einem Lager festgehalten worden. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter. Man habe sie gezwungen, ihre Familie in Eritrea anzurufen, damit Lösegeld für sie gezahlt wird. Während der Gefangenschaft habe es kaum etwas zu essen gegeben. Sie sei geschlagen worden. Und Schlimmeres. 9 Atmo: Frau auf Tigrinya/Rut Bahta "Es gab viele Vergewaltigungen dort, viele sind ungewollt schwanger geworden." Autorin Die Frau bricht ab, mehr möchte sie nicht erzählen. Seit fünf Jahren wohnt sie jetzt in Frankfurt, lebt hier von Hartz4. Dann kam vor kurzem ein Anruf aus Libyen. Ihr Bruder war am Telefon, auch er wurde dort entführt. 10 Atmo: Frau auf Tigrinya/Rut Bahta "Der hat dann angerufen, ich blute gerade, die schlagen mit Stöcken auf mich ein, es fließt schon alles über den Rücken." Autorin 4.000 Euro habe die Schwester nach Libyen überweisen sollen. Immer wieder habe ihr Handy geklingelt, der Bruder habe gefleht, sie soll das Geld zahlen, damit die Schmerzen endlich aufhören. Doch woher 4.000 Euro nehmen, wenn man allein in einem fremden Land ist und von Sozialhilfe lebt? 11 Atmo: Frau auf Tigrinya (weint) / Rut Bahta übersetzt "Also am 17. hat er zuletzt angerufen und gesagt, zahl, aber sie meint, ich beziehe Sozialleistungen, ich konnte kein Geld zahlen und seitdem hat sie nichts mehr gehört. Seit dem 17. Oktober." Autorin Seit über zwei Wochen kam nun kein Lebenszeichen mehr vom Bruder aus Libyen. Die Schwester weiß nicht, ob er entkommen konnte, ob er tot ist oder noch immer gefoltert wird. 24 O-Ton Rut Bahta "Das geht schon seit vielen, vielen, vielen Jahren. Und deswegen sind die Menschen auch schon so, so müde dessen. Also am Ende ihrer Kräfte kann man eigentlich sagen, sie kämpfen zwar immer noch weiter, aber schwerst traumatisiert und mit dem letzten ihrer Kraft." 12 Atmo: Demorufe, Libya, Libya Autorin Heute, fast zehn Jahre, nachdem das Militär auf der ägyptischen Halbinsel einmarschiert ist, klingen die Geschichten aus Libyen genauso wie die vom Sinai. Während unserer Recherche erfahren wir: Die Folterer von heute sind teilweise dieselben Männer, die damals Flüchtlinge auf dem Sinai an Beduinen verkauft haben. Wie kann es sein, dass seit über zehn Jahren dieselben Männer ihr grausames Geschäft betreiben? Dass Mittelsmänner bei uns, in Schweden und anderswo leben - und niemand hat etwas dagegen unternommen? Keine Polizeibehörde, keine Staatsanwaltschaft? Musik Für unsere Recherche haben wir mit Wissenschaftlerinnen, Journalisten und Betroffenen gesprochen. Wir wollten mehr über den Menschenhandel in Libyen herausfinden: Was vor Ort passiert, wer die Täter sind, wie das Geld von Europa nach Afrika fließt. Und immer wieder bekamen wir die gleiche Antwort: Sprecht mit Meron Estefanos. 25 O-Ton Micaleff "I know Meron, she's an incredible woman and there's a wealth of information." OV Sprecher 5 "Ich kenne Meron, sie ist eine unglaubliche Frau, und sie hat Unmengen an Informationen." Das sagt zum Beispiel Mark Micaleff von der Organisation GIATOC, einer Initiative gegen organisierte Kriminalität. Meron Estefanos habe alleine mehr Wissen über die Menschenhändler zusammengetragen, als alle Behörden in Europa. Musik Autorin In ihrer Küche in Stockholm erzählt uns Meron Estefanos eine unglaubliche Geschichte: Sie will es geschafft haben, einige der schlimmsten Menschenhändler der Welt vor Gericht zu bringen. Denn als die Foltercamps auf dem Sinai zerstört wurden, hörten die Anrufe bei Meron Estefanos nicht auf - sie gingen erst richtig los. Und irgendwann hatte sie die Nase voll. Sie wollte nicht länger nur das Echo der Opfer sein und darauf warten, dass die Behörden auf ihre Hinweise reagierten. Sie beschloss sich selbst auf die Jagd nach den Folterern zu machen. 26 O-Ton Estefanos "But traffickers that exploit refugees, you know, it became a passion of me." OV Sprecherin 2 "Menschenhändler, die Flüchtlinge ausbeuten, wurden fast so etwas wie eine Art Leidenschaft von mir. Mir ist klar geworden, dass es wichtig ist, alle Dokumente zu sammeln. Zahlungsbelege. Im Sinai waren die Menschenhändler beispielsweise dumm genug und haben Westernunion oder Moneygram genutzt, manchmal Banküberweisungen. Das hat mich irgendwie optimistisch gemacht, ich habe mir immer gesagt: Auch wenn wir jetzt nichts gegen diese Leute unternehmen können, eines Tages werden ich sie kriegen." Musik Absage Podcast: Die Jägerin. Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt. Folge 1: Wie alles begann. Eine Feature-Serie in vier Teilen von Lucia Heisterkamp und Paul Hildebrandt. Es sprachen: Louis Ferdinand Thiele, Claudia Mischke, Lisa Bihl, Daniel Berger, Andreas Potulski, Hüseyin Michael Cirpici, David Vormweg und die Autoren. Ton und Technik: Thomas Widdig. Regie: Philippe Brühl. Redaktion: Christiane Habermalz Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Norddeutschen Rundfunk 2022. (Trocken/schneidbar): Die restlichen Folgen gibt es auf hörspiel und feature.de, in der ARD-Mediathek und überall da, wo es Podcasts gibt. 1