Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Schwarzmeerien Welche Zukunft verbindet Bulgarien, Georgien und die Ukraine? Autorin: Viktoria Balon Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 31.01.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Katharina Schmalenberg, Jonas Baeck, Stefko Hanushevsky, Thomas Balou Martin, Claudia Mischke, Svenja Wasser und Ines Marie Westernströer Ton und Technik: Gunther Rose, Michael Morawietz und Lukas Fehling Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo Leitatmo Schilf und Musik O-Ton Gospodinov 1 (Georgi Gospodinov) Sprecher 1 Schwarzmeerien: Es gibt einen solchen unsichtbaren Staat. So eine spezielle Gemeinschaft aus Ländern um dieses Meer herum. Ich denke, solche internationalen lokalen Gemeinschaften sind wichtig und der Staat Schwarzmeerien hat eine Zukunft! Atmo Schiffskajüte Autorin Im großen Fenster meiner Kajüte Sonne und unendliches Blau, ein strahlendes Meer, vor mir liegt der nächste grenzenlose Tag auf der Drujba. Die LKW-Fähre quert das Schwarze Meer - 1140 Kilometer von Bulgarien nach Georgien. Atmo Schiffsmotor mit Wellen Musik Utesov instrumental Autorin Als Kind habe ich bei meinen Großeltern in Odessa gelebt. Die Wohnung lag in der Nähe des Hafens, und ich konnte die Schiffshörner hören. Man sah ab und zu Schiffe aus weit entfernten Ländern, aber die einzigen, die für uns zugänglich waren, waren die sowjetischen Kreuzfahrtschiffe nach Bulgarien oder nach Georgien. Atmo Schiffhorn historisch (dazu) Autorin Ich habe Anfang der 90er Jahre eine der letzten "Kreuzfahrten" sowjetischer Art mitgemacht. Das Gefühl weit über das Meer reisen zu können war befreiend, die Vielfalt der Städte und Menschen an den Küsten hat mich beeindruckt. Jetzt wollte ich dieselbe Reise mit einer Fähre noch einmal machen. Die antiken Griechen nannten dieses Meer "ungastlich". Sie wagten deshalb zunächst nur im Westen zu navigieren - an die Küsten des heutigen Bulgariens. Dort habe auch ich meine Reise begonnen - über ein Meer, das für mich lange für alle Meere stand. Sprecher 2 Schwarzmeerien Welche Zukunft verbindet Bulgarien, Georgien und die Ukraine? Atmo Wellen und Möven O-Ton Gospodinov 2 Sprecher 1 Vor 10 Jahren habe ich einen Essay geschrieben über einen unsichtbaren Staat Schwarzmeerien. Ich habe ihn wie einen Wikipedia-Artikel aufgebaut: Die Bevölkerung, die Bodenschätze... Das sind zum Beispiel Joddämpfe. Als ich ein Kind war, sind wir mit meinem Vater früh morgens am Meer gelaufen, damit wir die Joddämpfe einatmen konnten. Wir könnten sie exportieren... Es ist der unsichtbare nationale Reichtum Schwarzmeeriens. Atmo Sosopol 1 Autorin Ich treffe den bulgarischen Schriftsteller Georgi Gospodinov in Sosopol, der ehemaligen antiken Kolonie Apollonia, ein Städtchen mit Ziegeldächern, griechischen und osmanischen Ruinen und dem Duft reifer Feigen. 2022 war Gospodinov für den Nobelpreis nominiert. Sein letzter Roman Zeitflucht ist eine Dystopie über den politischen Missbrauch von Erinnerung. Der Roman beginnt in einer Alzheimer Klinik, deren Räume so gestaltet sind, als würde man in längst vergangenen Jahrzehnten leben. Mit der Zeit suchen immer mehr Menschen Zuflucht in dieser glorreichen Vergangenheit, in der scheinbar alles besser war. Der Roman liest sich prophetisch: Er endet mit der Wiederkehr der Verhältnisse der 30er Jahre und einem neuen Weltkrieg. O-Ton Gospodinov 3 Sprecher 1 Ich habe diesen Roman 2020 geschrieben, weil ich eine Art Angst in der Luft spürte: Die Zukunft ist nicht mehr greifbar oder abgesagt. Wir sind wie die Leute, die in einem großen Flughafen stehen und sehen: Moskau, London, Berlin, Rom - alles nur "gestrichen" oder "verspätet". Das war mein Gefühl für die Welt: keine Hoffnung mehr auf eine Zukunft, Orientierung auf die Vergangenheit. Aber die Vergangenheit ist nicht ungefährlich und hat ihre Monster. Der Kommunismus hat uns eine strahlende Zukunft versprochen und die heutigen Populisten versprechen eine strahlende Vergangenheit: Great again ... Sie verkaufen die Vergangenheit als Zukunft. Autorin Russische Propaganda, die die Sowjetunion verherrlicht, war in Bulgarien immer verbreitet, so wie in ganz Schwarzmeerien. Nostalgie für eine Fake-Vergangenheit. Doch durch den Krieg hat sich die Einstellung vieler verändert, die auf die Propaganda hereingefallen waren. Atmo Wellen, Schiffsmotor und Musik Autorin Sterne in der Nacht, kein Land in Sicht, wir treffen auch keine anderen Schiffe. Ein kleiner Vogel, der aufs Meer hinausfliegt, aber immer wieder zurückkommt. Diese Reise ist für mich wie ein Wunder. Mit der russischen Invasion war der Fährverkehr am Schwarzen Meer zum Erliegen gekommen. Aber dann zwei Monate später stand der Fahrplan der Drujba wieder online. Drujba heißt Freundschaft auf Bulgarisch, obwohl das Schiff erst 2002 gebaut wurde - lange nach dem Zerfall des letzten Imperiums. Der große Bruder hatte die Freundschaft zwischen den Völkern verordnet, in der Schule wurde viel davon gesprochen und gesungen. Aber gleich nach dem Untergang der Sowjetunion entstand ein viel größeres Interesse - an Freundschaft und Austausch mit dem Westen. Die Kreuzfahrtschiffe gab es bald nicht mehr. Atmo Schiffshorn modern Autorin Wer heute übers Schwarze Meer fahren will, muss die LKW-Fähren nehmen. Ursprünglich wollte ich über Odessa reisen. Doch die Küste dort ist vermint, die zivile Schifffahrt in der Ukraine eingestellt. - Wie komme ich hin? Atmo Strasse Sosopol Musik Autorin In Sosopol finde ich hinter dem Strand die Odessa-Straße. Sie ist von Kiosken, Imbissbuden und post-sozialistischem Kitsch gesäumt - alles was die Nostalgie russischer Touristen bedient. In diesem Jahr sind sie nicht besonders zahlreich. Sie bevorzugen sowieso eher den Goldstrand nördlich von Warna, so wie Touristen aus dem Westen ihre Ballermann-Nostalgie am Sonnenstrand bei Nessebar ausleben. O-Ton Iliana 1 (Iliana Stoilova) Sprecherin 1 Diese Strände produzieren unglaublich viel Müll. Am Sonnenstrand habe ich mal gejobbt. Dieses Publikum kommt, weil Alkohol billig ist. Sie wissen dann kaum wo sie sind. Es gibt schönere Orte am Meer, die man besuchen kann. Atmo Surferstrand Autorin Einer davon ist ein fast leerer Strand nahe Sosopol. Auf dem Sand steht eine blaue Holzhütte auf Stelzen mit Terrasse und Strohdach. Es ist die Surfschule, die Iliana Stoilova und ihr Partner Yoan Kolev selbst gebaut haben. Eine Zeitlang haben sie dort auch gewohnt. Iliana hat Innenarchitektur an der Technischen Universität in Sofia studiert. Im Winter arbeiten sie in Sofia - Iliana als Architektin, Yoan als Software Entwickler, aber den größten Teil ihres Lebens verbringen sie am Meer. Gegen dessen Verschmutzung kämpfen sie seit Jahren. Darüber haben sie sogar einen Film gemacht. Atmo Film, Yoan und Iliana Sprecher 2 Ein Plastikbecher oder eine Tüte, die wir 10 Minuten benutzen, wird 100 Jahre lang von den Strömungen weitergetrieben. Sprecherin 1 Allein im Schwarzen Meer bildet Plastik 85 Prozent aller Verschmutzung. O-Ton Iliana 2: Sprecherin 1 Die Idee der Aktion Wind2win war, 300 Kilometer entlang der ganzen bulgarischen Küste zu surfen und einen Film darüber zu machen. Atmo TV Bulg: Sprecher 2 Zwei Surfer haben in drei Tagen eine gewaltige Distanz überwunden, um auf die Verschmutzung des Schwarzen Meeres aufmerksam zu machen. O-Ton Iliana 3 Sprecherin 1 Zwanzig Kilometer vom Land entfernt auf dem offenen Meer: Es war schon ein bisschen beängstigend. Das Brett ist wirklich klein und eng, es gibt keinen Platz zum Sitzen oder um sich zu entspannen wie in einem Boot oder Kajak. Und ja, wir waren voll abhängig vom Wind. Aber so allein zu sein mit dieser super Sicht und den großen Wellen - das war eigenartig schön und hat uns beseelt. Autorin Tatsächlich war ihre Aktion in allen Medien, der Film erhielt Millionen von Klicks im Internet und einen Preis als bester bulgarischer Dokumentarfilm. Atmo Berov 1 (bei Bedarf weiter mit Berof2) Autorin "Der Müll verlässt das halb geschlossene Meer nie" - erklärt im Film der Ökologe Dimitar Berov. Bulgarien hätte als EU-Land die Verpflichtung etwas zu unternehmen. Die intensive Verschmutzung werde allerdings von allen sechs umliegenden Länder verursacht - und man könne sie nur gemeinsam bekämpfen. Atmo Sturm und Musik Autorin Am Nachmittag wird das Meer rau und dunkelgrün, bis zum Horizont mit weißen Brechern bedeckt. Die langen goldenen Strände leeren sich, das "ungastliche Meer" erlangt seine ursprüngliche Schönheit. Atmo Busfahrt Autorin Aus dem Busfenster sehe ich einiges, was an den Roman Zeitflucht erinnert: Ein mittelalterliches Schloss, erst vor ein paar Jahren erbaut. Sein Besitzer, ein Oligarch, hat sogar das Grab eines angeblichen Vampirs im nahegelegenen Dorf gekauft und in den Schlosskeller in einen Glaskasten umgebettet. Mit vielsagenden Namen wie Dreams werden Wohnungen an Russen verkauft - Gebäudekomplexe im Stil zwischen Belle Epoque und Plattenbau. Paläste der Neureichen. Sie leben dort in ihrer Phantasie-Vergangenheit - umgeben von leeren Feldern und Baustellen. Das heutige Bulgarien ist von dort aus nicht zu sehen. Atmo Meer, Möwen Autorin in Varna sehe ich echte Architektur des 19. Jahrhunderts. Sie ist hier entlang der Küste eher schlicht und elegant. Weiße zweistöckige Kurhäuser versunken in Grün im Sea Garden, gebaut von französischen und Habsburger Architekten. Varna liegt auf dem Breitengrad von Nizza, hier wachsen alte Bäume aus dem ganzen Schwarzmeer- und Mittelmeerraum. Odessos, so hieß Varna in der Antike. Die griechischen Namen an der Schwarzmeerküste wurden ziemlich willkürlich von späteren imperialen Herrschern verteilt. Odessa ist 400 Kilometer Wasserlinie von hier entfernt. Musik Autorin Varna ist die Partnerstadt von Odessa, und ich spüre hier tatsächlich den Geist meiner Kindheit. Am Strand schauen dunkelbraune Opas und Omas stundenlang aufs Meer, ein Verkäufer geht mit heißen Maiskolben über den Sand und preist laut seine Ware (Atmo), hält an, um mit einem anderen Alten in Badehosen mit der Aufschrift Liveguard zu sprechen. Der Liveguard pfeift die Schwimmer wegen der hohen Wellen immer wieder zurück. Noch nie im Leben habe ich Odessa so vermisst wie jetzt in Zeiten des Krieges. Atmo Strand Varna O-Ton Sofia 1 (Sofia Dimova) Autorin Sofia Dimova, eine junge Künstlerin, zeigt mir ihre Stadt. Sprecherin 2 Es ist ein besonderes Gefühl, an der Meeresküste geboren zu sein, und wenn Sie es nicht sind, werden Sie es nicht verstehen. Das Schwarze Meer ist meine Welt. Ich weiß, dass ich ein Teil davon bin. Vielleicht war ich deshalb in Holland nur einmal am Meer, als ich dort studierte, es war nicht mein Meer Autorin Trotzdem fühlte sich Sofia in Varna nicht mehr richtig, als sie nach ihrem Kunststudium an der Minerva Art Akademie Groningen zurückkehrte: zu wenig zeitgenössische Kultur, zu wenig Subkultur und kaum coole Orte. Mit der nostalgischen Melancholie von Varna konnte sie wenig anfangen, so wie viele junge Menschen, die in die Hauptstadt Sofia oder ins Ausland gegangen sind. O-Ton Sofia 2 Sprecherin 2 Aber jetzt habe ich Gleichgesinnte gefunden, und wir versuchen mehr "contemporary"-Gefühl in die Kunst und das Leben in Varna zu bringen. Was ich zum Beispiel sehr mag, ist das griechische Viertel. Unsere Hafenstadt ist seit Jahrhunderten Heimat vieler ethnischer Gruppen, Griechen, Türken, Armenier - um die Ecke ist eine armenische Kirche. Atmo Varna griechische Viertel Autorin Als Varna 2014 EU-Jugendhauptstadt war, sollte das Viertel in eine Fußgängerzone mit Kunsträumen umgestaltet werden, erzählt mir Sofia. Daraus wurde nichts. Jetzt versucht es eine Gruppe von Künstlern gemeinsam mit den Menschen vor Ort auf eigene Faust. Und tatsächlich sieht man bereits zwischen den heruntergekommenen Häusern einzelne restaurierte Hotels, Hipster Cafés und Ausstellungsorte Atmo Meer und Möwen O-Ton Sofia 3 Sprecherin 2 Mein Urgroßvater ist mit 17 in die USA ausgewandert. Das war während der Großen Depression, er hatte es nicht einfach, aber er hat da segeln gelernt. Zurück in Bulgarien hatte er ein eigenes Boot, und sein Sohn, mein Großvater, verbrachte viel Zeit mit ihm. Mein Opa hat sich ins Meer verliebt und wurde Innenarchitekt für Schiffe. Besonders stolz war er auf ein Schiff, das von Varna nach Odessa fuhr. Atmo Schiffsmotor mit Wellen Autorin Auf den Schiffen, die Sofias Opa gestaltet hat, gab es Samtdekorationen, Skulpturen, ein Restaurant mit Delikatessen, ein Schwimmbad, Sauna und eine Tanzfläche. Ich weiß das von meinen illegalen Ausflügen an Bord als Kind, wenn sie in Odessa ankerten. - Kein Vergleich zur schlichten Ausstattung der Drujba. Atmo Schiffsmotor mit Wellen dazu Gruppenraum mit Backgammon Autorin Die unteren Decks sind dicht mit Lastwagen bepackt. In der Messe gibt es einen Fernseher mit bulgarischem Programm, hier verköstigen die Fahrer einander mit hausgemachtem georgischen Wein und bulgarischem Käse und laden alle ein. Der andere Gemeinschaftsraum ist völlig verraucht, man trinkt Bier und spielt Backgammon. Auf einem großen Monitor laufen meist russische Serien, die Fahrer tauschen ab und zu Kommentare auf Georgisch oder Bulgarisch aber Russisch ist hier die "lingua franca". Atmos Schiffsmesse Autorin Plötzlich gibt es eine Verbindung mit dem türkischen Netz, der Navigator zeigt: Ganz weit - aber direkt vor uns im Norden ist Odessa! Atmo Bahnhofsmusik Musik (hist.) Autorin Im Bahnhof von Odessa erklang immer Musik, wenn ein Zug ankam. Auf dem Bahnsteig warteten Oma und Opa, wenn mein Bruder und ich mit unseren Eltern aus Sibirien, wo wir damals wohnten, eintrafen. Autorin Odessa mit seinen Boulevards und Prunkbauten war anders. Die Stadt wurde von italienischen Architekten gebaut, den Getreidehandel und auch den Schmuggel kontrollierten die Griechen. In der Stadt lebten auch Deutsche, Polen, Ukrainer, Juden, Russen, Armenier... Adelige aus Georgien schickten ihre Kinder hierher zum Studieren. Mitte des 19. Jahrhunderts war Odessa schon die drittgrößte und reichste Stadt des Imperiums und mit Abstand die vielfältigste und liberalste. Mark Twain fühlte sich hier wie in Amerika, ein Reisender nannte sie "die europäischste Stadt in Russland", ein anderer schrieb "... es ist nichts Russisches an Odessa". Das alles habe ich erst neulich erfahren. Kosmopolitismus war ein Schimpfwort in der Sowjetunion, und im Volksmund galt Odessa als die Stadt der Witze, der artistischen Diebe, der Juden und der Auswanderer: Zwölf Städte in Nord- und Südamerika heißen heute Odessa. Die letzte Auswanderungswelle war im Februar 2022. Atmo Cafe Freiburg Autorin Lena Sidorova findet ihr Leben in Freiburg viel entspannter, als früher zuhause. Sie lernte zu flanieren, sagt sie. Dabei kocht sie als Freiwillige für ein ganzes Flüchtlingsheim. O-Ton Lena 1 (Elena Sidorova) Sprecherin 1 Freiburg ist schön, aber ich vermisse so sehr den Geruch des Meeres, das Baden in der Nacht... Die Luft ist schon kühl, aber das Wasser ist warm und das Plankton leuchtet, und du schwimmst durch dieses Leuchten im Mondlicht ... Autorin Lena war vor ihrer Auswanderung Näherin in einer kleinen Werkstatt. Zusammen mit anderen Frauen kopierte sie Kleider aus Modemagazinen, die dann auf dem berühmten 7. Kilometer Markt nahe Odessa, dem größten Schwarzmarkt Europas, verkauft wurden. Es gab zu viel Arbeit und nicht viel Lohn. O-Ton Lena 2 Sprecherin 1 Mein Vater war Matrose auf einem Frachtschiff. Als Kind bin ich viel auf Schiffen gewesen. Sobald Papa zurückkam, war ich schon auf dem Schiff und folgte ihm überallhin. Man hat mich sogar in den Maschinenraum gelassen. Autorin Das Ansehen eines Seemanns war immer groß in Odessa: Die Mädchen schauten ihnen auf der Straße nach. Kinder waren auf Matrosenkinder neidisch, weil sie Geschenke aus dem Westen bekamen. O-Ton Lena 3 Sprecherin 1 Sie hatten sehr wenig Reisegeld in ausländischer Währung und haben jeden Dollar gespart. Kein Vergleich zum Gehalt der Seeleute heute. Wenn jemand aus der Familie heute aufs Meer geht, hat sie ein überdurchschnittliches Einkommen. Damals waren wir nicht reich. Ich konnte als Kind mit meinen Jeans angeben, aber das war es auch. Autorin Es gibt mehrere nautische Schulen und eine Marine-Universität in Odessa; etwa 200 000 ukrainische Seeleute arbeiten auf ausländischen Schiffen, auch weil die ukrainische Flotte sich sehr verkleinert hat. Der Hafen von Odessa ist jedoch riesig: Containerterminal, Getreide- und Öl-Häfen, das Passagierterminal und noch andere. Den Hafen haben die Russen bereits mit Raketen beschossen. O-Ton Lena 4 Sprecherin 1 Als ich weg ging hat Odessa schrecklich ausgesehen. Auf der Hauptstraße Panzersperren, alle Denkmäler mit Sandsäcken gegen die Explosionen geschützt. Es sah aus wie eine Wohnung, in die Diebe eingebrochen sind und alles durcheinandergebracht hat. Aber die Menschen waren nicht in Panik, weil es unrealistisch ist, Odessier zu brechen. Wir haben eine eigene russische Sprache, gemischt mit Jiddisch, Ukrainisch, Moldawisch und anderem, und einen eigenen Humor. Als ich im Fernsehen die Geschichte unserer Grenzsoldaten gesehen habe: "Russisches Kriegsschiff, f*** off ...!" habe ich geweint. Das Schimpfwort hat so stolz geklungen. Atmo Schiffsmotor Leitatmo und Musik Autorin Wir sind etwa 100 Passagiere an Bord, hauptsächlich LKW-Fahrer, nur vier Frauen. Nur ein Deck ist für uns zugänglich, man kann auf dem Boden sitzen, aufs Meer schauen und sich unterhalten. Atmo geht über in Schiffsmesse Es gibt eine Gruppe von Armeniern aus verschiedenen Ländern, die sich auf der "Drujba" verabredet haben. Ein Schweizer namens Urs will mit dem Fahrrad nach Japan. Ein Paar aus Deutschland - IT-Spezialisten - fährt in der Elternzeit mit der kleinen Katrin ein Jahr lang über den Balkan und in den Kaukasus. Ich unterhalte mich mit Luka, der mit seinen zehn Jahren schon weit gereist ist. Auf die Frage woher er kommt, fängt er eifrig an zu erzählen: "50 Prozent Ukraine, 40 Prozent Amerika. Sieben Prozent... Armenien. Fünf Prozent ... Georgien. Ein Prozent ... die Union." Was für eine Union weiß er nicht. Seine Mutter ist armenisch-georgisch, der Vater ist ein Ukrainischer Marine-Offizier aus Odessa, Ingenieur auf einem norwegischen Schiff. Sie haben sich in der Karibik auf Kreuzfahrtschiffen kennengelernt, wo beide arbeiteten. Luka ist in Kalifornien geboren und in Odessa aufgewachsen. Jetzt flieht die Familie zu Verwandten nach Georgien. Luka und sein dreijähriger Bruder werden ununterbrochen von LKW-Fahrern geküsst. "Ein Hai!" -ruft Luka. - Aber es sind Delfine Sie springen noch lange aus dem Wasser - so nah, dass wir Flossen und Augen sehen können. Die Odessier erzählen, dass dieses Jahr viele tote Delfine an der Küste gefunden wurden. Atmo: Sea Dolfins O-Ton Galina Mincheva 1 (nach 5.sec. overvoice anfangenen) Sprecherin 3 Die Todesrate der Delfine an der Küste ist tatsächlich hoch. Wir haben nicht genug Informationen und können nur vermuten, dass die Ursache die Schallwellen der Explosionen sind, aber wir wissen nichts Genaues, weil die Experten nicht aufs Meer dürfen. Und da ist noch eine Tragödie, eine wissenschaftliche. 60 Jahre Beobachtungen des Meeresökosystems haben seit dem Frühjahr eine Lücke. Was habe ich nicht versucht ... das Parlament und die Militärs angesprochen, aber wir dürfen keine Menschen mit Unterwasserausrüstung ins Meer bringen. Autorin Galina Mincheva ist Direktorin des Instituts für Meeresbiologie der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Odessa. Dimitar Berov, der Ökologe, der die Surfer begleitete, hat sie mir empfohlen. Ich erreiche sie online. O-Ton Mincheva 2 Sprecherin 3 Es ist unerträglich, die Bilder anzusehen, die wir aus dem Weltraum bekommen. Wenn ein Flugzeug abgeschossen wird, sind bis zu eineinhalb Tausend Quadratkilometer Wasserfläche mit einem Öl-Film bedeckt. Und dabei hat sich vor dem Krieg dank der Bemühungen der EU und der Donau-Anrainerstaaten in den letzten Jahren die Wasserqualität verbessert. Viele Arten, die man 30 Jahre lang in der Bucht von Odessa nicht sehen konnte, sind wieder da, wie Seepferdchen oder die Graskrabbe. Autorin Das Problem dieses Meeres sei die langjährige anthropogene Belastung bei sehr wenig Wasseraustausch. Der Flaschenhals sei der sehr enge Bosporus. Um die Verschmutzung gemeinsam zu bekämpfen bildete sich vor 20 Jahren die "Ökologische Kommission Schwarzes Meer", wo sich Wissenschaftler aller sechs Länder mindestens zweimal pro Jahr getroffen haben. O-Ton Mincheva 3 Sprecherin 3 In den ersten Tagen des Krieges "explodierte" meine Mailbox: Alle Kollegen luden mich ein zu sich, nach Batumi, nach Varna, nach Istanbul, und ich habe auch Worte des Mitgefühls und Entschuldigungen von einigen russischen Wissenschaftlern bekommen. Klar, ich verlasse mein Institut jetzt nicht. Aber ich verspreche: Nach dem Sieg in diesem ungerechten schrecklichen Krieg der Vergangenheit gegen die Zukunft werde ich alle besuchen, und wir werden bei einer leichten Brise auf die Zukunft trinken. Musik Autorin Die Vorfahren von Galina kommen aus Budschak. Das ist eine Steppenregion in der Gegend von Odessa zwischen Donau, Dnister und dem Meer, mit vielen Seen und Lagunen und mit einer mehrsprachigen Bevölkerung. Die größte Minderheit dort sind Bulgaren. Sie sind genauso wie andere Migranten hierhergekommen, als Katharina II. um Kolonisten warb und sie mit Boden und Freiheiten bedachte. Die bulgarischen Dörfer gibt es heute noch, ihre Käse und ihre Tomaten sind legendär, genauso wie ihre Gastfreundlichkeit. Sie nennen sich bis heute Kolonisten. Ebenfalls auf Anweisung von Katharina wurde 1794 Odessa gegründet. Und schon bald eröffneten Theater, Gymnasien, die Universität,- die Stadt entwickelte sich schnell zu einer Bildungs- und Kulturmetropole. O-Ton Mincheva 4 Sprecherin 3 Es gibt keinen besseren Ort auf der ganzen Welt als Odessa. Schon allein die Kindheit, wenn du bibbernd aus dem Meer kommst und Mama gibt dir Kotelett mit Tomaten, du hörst die Möwen, und atmest der Geruch des Meeres. Odessa ist eine Verdichtung der Geschichte, ein Mix der Kulturen und menschlichen Charaktere, Energien und Farben, es ist ein Ort, wo man gern auf die Straße geht und wo man gern lebt. Autorin Glücklicherweise kann man heute virtuell reisen. Mit Hilfe von google maps gehen wir zusammen mit Jana, einer 23-jährigen Geflüchteten, in ihrem Odessa spazieren. O-Ton Jana Viknyanskaya 1 Sprecherin 2 Wir sind auf dem Französischen Boulevard. Hier ist das Besondere, dass jede Quergasse zum Meer führt. Die Odessier bevorzugen die leichte Muse; ernste Sportarten wie Nordic-Walking und Jogging, das ist nichts für uns. Aber in der Millionenstadt finden sich auch Jogger auf dieser langen grünen Allee entlang des Meeres.... Unten sind die Sandstrände: ?umel, ?aliton, der Hundestrand, wild und mit vielen Felsen. Und ein Nudisten-Strand: Hier sonnen sich seit jeher nackte ältere Menschen. Auf Touristenbooten werden scherzhaft Ferngläser angeboten, wenn sie vorbeifahren. Ich schwimme nicht so gern, aber dank meinem Papa mag ich Boote. Ich liebe es einfach, im Boot zu sitzen, eine Wassermelone mit Feta zu essen und diesen leckeren Geruch nach Jod und faulen Algen einzuatmen. Übrigens, man verkauft diese Luft von Odessa in Zinn in Souvenir-Geschäften. Autorin Jana kommt aus einer jüdischen Familie, ihr Vater ist einer der größten Möbelunternehmer in der Ukraine. Er engagierte sich zusammen mit anderen Gleichgesinnten dafür, dass Odessa in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen wird. Die Stadt ist gerade wenige Dutzend Kilometer von der Frontlinie entfernt und war schon mehreren Beschüssen ausgesetzt. Bald nach unserem virtuellen Spaziergang ist Jana nach Kiew zurückgekehrt, um dort als Freiwillige zu helfen. Als sie ihren Vater im Juli in Odessa besucht, telefonieren wir. Atmo Straßenmusiker, Kinderstimmen (Sommer 2022) O-Ton Jana 2 Sprecherin 2 Ich war überrascht: Alle sagten, es sei gefährlich, geh nicht hin. Aber auf der Hauptstraße, der Deribasovskaja, sind die Restaurants geöffnet, Kinder reiten Ponys. Bei einem Luftalarm versteckt man sich, wenn es vorbei ist, geht man raus und genießt das Leben, was Odessier sehr gut können. Die Strände sind vermint und mit Netzen gesperrt, und Soldaten mit Maschinengewehren passen auf, dass niemand ins Wasser geht, aber man darf am Strand in den Bars sitzen. Atmo (geht über in) Strassenbar Autorin Gegenüber dem Büro von Janas Vater befindet sich das größte Zentrum für freiwillige Flüchtlingshilfe in der Ukraine. Er arbeitet dort auch mit. O-Ton Jana 3 Sprecherin 2 Hier sind immer 500 bis 600 Geflüchtete, Menschen aus dem Osten und aus okkupierten Städten. Die Aufschrift über dem Eingang ist: Sie sind keine Flüchtlinge, Sie sind Gäste der Stadt. Allgemein sind Odessier kämpferisch gestimmt. Wenn früher viele meinten, Odessa sei wie der Vatikan in Rom, schreit Odessa jetzt, dass es Teil der Ukraine ist! In unserem berühmten barocken Opernhaus laufen Konzerte der besten ukrainischen Musiker und Lesungen von Dichtern zu Gunsten der Armee, an jedem Haus hängt eine ukrainische Flagge, jeder vierte Passant trägt ukrainische Symbole, und natürlich gibt es viele schwarze Witze, wie dieses Banner über der Straße: Russisches Kriegsschiff, bist du angekommen? Musik Atmo Schiffsmotor, Wellen O-Ton David 1 Sprecher 2 Ich fahre von Georgien aus durch ganz Europa. Aus Georgien bringe ich meistens Wein - zurück aber alle möglichen Waren, sogar Meeresfrüchte aus Holland. Das ist schwere Arbeit, nicht wie in Deutschland - mit Wochenenden zuhause. Wir sind Monate unterwegs, bei mir waren es schon mal drei Monate! Daher sagen Sie Ihren Zuhörern, sie sollen nicht auf uns herabsehen. Autorin Auch das Gehalt im Ausland sei besser, daher würden die meisten jungen Fahrer lieber von dort aus arbeiten. David, der Jura studiert, aber damit nicht genug verdient hat, will nicht auswandern. O-Ton David 2 Sprecher 2 Ich komme jetzt aus der Ukraine und habe erst nach sechs Tagen die Grenze überqueren können. Ich habe Medikamente dorthin gebracht. In Georgien wollen jetzt viele dorthin und der Ukraine helfen. Das Problem sind die Schlangen, an allen Grenzübergängen - nach Georgien und in die Türkei ist es dasselbe. Man kann in der Schlange weder Wasser noch Zigaretten kaufen, sich nicht waschen, nicht richtig schlafen. Es gibt keine Toiletten. Klar, wir Fahrer helfen einander, geben einander Wasser und Zigaretten, wecken einander, wenn die Schlange sich bewegt, egal wo der Nachbar zufällig herkommt. Bei uns Lkw-Fahrern gibt es keine Nationalitäten. Autorin Unser Schiff Drujba nähert sich der georgischen Küste. Vor der Ankunft in Batumi gehen alle an Deck, um zu rauchen und sich zu verabschieden. Der Radler Urs hat sich mit den Armeniern angefreundet und fährt vielleicht sogar nach Jerewan. Georgische und bulgarische Fahrer drücken sich die Hände und umarmen sich. Wir sehen im Morgennebel die dichten schneebedeckten Berge des Kaukasus. In der Ferne tauchen die Hochhäuser Batumis auf. Vor dieser Kulisse wirken sie wie Lego-Türmchen. Wir verlassen unser Schiff und damit das Territorium der EU. Musik Diasamidze-33A Atmo Batumi Strasse Autorin Hier ganz im Osten von Schwarzmeerien ist die türkische Grenze nur 15 Kilometer entfernt. In sowjetischen Zeiten versuchten Menschen, in die Türkei zu schwimmen. Heute spürt man diese Nähe durch die vielen Kasinos mit Werbung auf Türkisch. Dort ist das Glücksspiel verboten. Die futuristische Architektur an der Küste ist beeindruckend: Ein spiralförmiger 130 Meter hoher Turm, ein 40-stöckiger ringförmiger Wolkenkratzer und ein anderer in Form einer umgedrehten Flasche. Sie wurden von europäischen Architekten entworfen. Die kleine subtropische Stadt Batumi, an die ich mich von meiner früheren Kreuzfahrt erinnere, ist nicht wiederzuerkennen. O-Ton Shota (Shota Gujabidze) 1 Sprecher 3 Batumi war eine europäische und eine asiatische Stadt zugleich. Dies und auch die Kulisse des Meeres und der Berge hat schon Anfang des 20. Jahrhunderts viele Filmemacher angezogen. Als ich ein Kind war, wurde hier immer gedreht: Die sowjetischen Regisseure durften nicht nach Europa und haben unsere europäische Architektur als Hintergrund genutzt. Atmo Batumi Altstadt Autorin Shota Gujabidze, Fotograf, Filmregisseur und Stadtaktivist, hat das Foto-Kunstprojekt "Batumi in Cinema & Cinema in Batumi" aus alten Filmen und heutigen Fotos zusammengestellt. Es ist ein poetischer und trauriger Film, der den Wandel der Stadt dokumentiert. Wir haben uns in der Altstadt getroffen, wo noch vieles aus den alten Filmen zu sehen ist. Die Beletagen aus dem 19. Jahrhundert sind ähnlich wie in West-Schwarzmeerien, aber hier säumen Eukalyptus- und Mandarinenbäume und blühende Oleander die Straßen. Im türkischen Viertel wechseln sich Halal-Restaurants mit Thai-Massage-Salons ab. O-Ton Shota 2 Sprecher 3 Batumi entstand in sehr kurzer Zeit um 1880 an Stelle einer kleinen Siedlung wegen neuer Öl-Handelswege. Die Stadt hat eine einzigartige Lage und wurde so geplant, dass alle Querstraßen zum Meer führen, damit eine Brise durch die Stadt weht. Batumi war genauso wie Odessa Freihafen. Bis zum 1. Weltkrieg war die Stadt reich und international. Griechen, Türken, Perser, Polen, Engländer, Deutsche, Franzosen und Italiener waren da, auch Millionäre, die Nobels und die Rothschilds, haben hier Geld gemacht. Autorin In Batumi fand diesen Herbst das 8. Odessa-Literaturfestival statt. O-Ton Maryam 1 Sprecherin 3 Ich bin sehr stolz, dass wir dem Festival aus Odessa mit Hilfe des Literaturfestivals Berlin und deutscher Stiftungen bei uns Zuflucht geben konnten. Autorin Maryam Korinteli, ist eine der Organisatorinnen, Verlegerin und Übersetzerin aus Batumi O-Ton Maryam 2 Sprecherin 3 Es ist Teil unserer Solidarität mit der Ukraine. Wir sind hier sehr aufgewühlt wegen dieses Kriegs. Wir Georgier haben in den letzten Jahrzehnten in drei Kriegen 20% unseres Territoriums verloren, das von Russen praktisch besetzt ist. In den letzten Jahren hat man angefangen mit gegenseitigen Übersetzungen, und gerade jetzt wird noch mehr zeitgenössische ukrainische Literatur übersetzt, wir lernen immer mehr voneinander. Dieser Krieg ist auch unser Krieg. Autorin Sogar während des Krieges besuchen viele ukrainische Autoren Georgien. Mit bulgarischer zeitgenössischer Literatur sieht es anders aus. Der Austausch mit bulgarischen Universitäten ist sehr lebendig. Aber es gibt fast keine Übersetzungen. Erst vor zwei Jahren erschien ein erstes bulgarisch-georgisches Wörterbuch. Früher ging alles über Russisch. O-Ton Ljubka 1 (Andrij Ljubka) Sprecher 2 Wenn die Ukraine Geld für Kulturförderung hat, präsentiert sie ihre zeitgenössische Kultur lieber in Paris und Berlin und nicht in Bulgarien, und auch für Bulgaren ist die Ukraine lange keine Priorität gewesen, sie wollten lieber im Louvre und nicht im Artmuseum Kyiv ihre Kunst zeigen. Das Gefühl, in Europa zweite Wahl zu sein, führt dazu, dass unsere Länder sich in Mitteleuropa beweisen wollen. Und es gab bis jetzt noch wenig horizontalen Austausch, obwohl dies am fruchtbarsten wäre. Autorin Jetzt ändere sich das wegen der neuen Solidarität , meint der ukrainische Schriftsteller Andrij Ljubka, der vom Internationalen Literaturfestival in Tiflis eingeladen wurde. Auch den schlechten Ruf des Schwarzen Meeres als das "Territorium der Barbaren", den es seit der Antike hat, will man zusammen verbessern. O-Ton Ljubka 2 Sprecher 2 Das Schwarze Meer braucht ein neues gemeinsames Bild. Es kann nicht ein Kurhotel nur für die bleiben, die nirgendwo anders hinkönnen oder wollen. In Zukunft kann die EU der einigende Faktor werden, als erstes wäre eine Schengen-Zone wichtig, ohne Grenzkontrollen und Schlangen an den Grenzen. Man steigt zum Beispiel in ein Schiff in Odessa, fährt über Rumänien nach Bulgarien oder nach Batumi und besucht unterwegs noch Trabzon in der Türkei. Das würde eine ganz andere Art von Touristen anziehen. Jetzt ist das Schwarze Meer durch viele Grenzen zerstückelt und von politischen Blöcken zerrissen. Ich hoffe, durch den Krieg wird sich dies ändern. Batumi (weiter immer wieder im Hinterg.) Autorin In diesem Jahr sind hier besonders viele Touristen aus Russland, weil sie sonst fast nirgendwo mehr hindürfen. Und Tausende Russen fliehen nach Georgien. Ständig wird ihnen von Taxi-Fahrern oder an einem Clubeingang erklärt, wie unmenschlich sich ihre Regierung benimmt. Die Mehrheit der Georgier ist pro-europäisch. Es war für sie eine große Enttäuschung, dass Georgien im Unterschied zur Ukraine und Moldau nicht den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhielt. O-Ton Georgij 1 (Giorgi Katamadze) Sprecher 3 Ich erinnere mich, wie froh ich war, als das 25-stöckige Sheraton gebaut wurde, endlich ein Wolkenkratzer in Batumi! Aber dann haben die 30- bis 50-stöckigen Gebäude - Ameisenhaufen nennt man sie in Batumi - angefangen, wie die Pilze zu wachsen. Autorin Giorgi Katamadze ist Theaterregisseur und unterrichtet an der Kunsthochschule. Er zeigt uns Beispiele architektonischer Sünden: Ein "Ameisenhaufen" neben einem traditionellen georgischen Hof mit Holzterrassen, ein fake-mittelalterlicher Turm wie in Prag mitten im historischen Viertel und die sogenannte Technologische Universität, besonders auffällig wegen eines in die Fassade eingebauten Riesenrads. Zu einer Universität ist der Wolkenkratzer nie geworden. Er steht seit zehn Jahren leer. Die neuen Besitzer planen hier nun ein Hotel, ein Kasino und private Wohnungen. Atmo Boulevard Autorin Am Meeresboulevard merkt man, dass Batumi mit 170.000 Einwohnern eher zu klein für Zehntausende Touristen ist. Doch die Stadt will die Anzahl der Touristen verdreifachen. Eine Allee des Boulevards am Meer mit Ihren Palmen und Magnolien sollte Bauplänen zum Opfer fallen. O-Ton Georgij 2 Sprecher 3 Als die Menschen erfahren haben, dass der Boulevard zerstört werden soll, waren 10 000 auf der Straße und haben die Bagger gestoppt. Es war so, als ob man einen Nerv der Stadt getroffen hätte. Wir haben die Allee gerettet, und wir werden noch einiges mehr in der Stadt retten. Man darf vieles verändern, aber alles ändern darf man nicht. Autorin Wir gehen weiter bis zum leeren Strand, es nieselt - und plötzlich: sintflutartiger Regen durchnässt uns innerhalb von Sekunden, der Wind hebt einen Liegestuhl in die Luft und wirft ihn ein paar Meter vor uns auf den Boden. Wir fliehen in einen kleinen Lebensmittelladen. Das Klima von Batumi ist sehr regnerisch und berühmt für solche Überfälle. Atmo Regen/Storm O-Ton Georgi 2 Sprecher 3 Wir lieben das Meer nicht genug. Das Meer heißt auf Georgisch Zgwa, Grenze. Ich glaube, wir Georgier haben Ehrfurcht vor dem Meer, wir sind eher Bergmenschen. Das kommt auch von unserer Geschichte: Wir hatten nie eine eigene Flotte. Autorin Giorgi selbst bleibt nur wegen des Meeres hier. Er wohnt jetzt außerhalb von Batumi, weil die Brise vom Meer wegen all der Bausünden nicht mehr in die Stadt weht. Jeden Tag geht er mit seiner 4-jährigen Tochter an der Küste entlang. O-Ton Georgi (Spricht abwechselnd Georgisch und Russisch) Sprecher 3 Vor jeder Wahl hat die Regierung eine grandiose Idee: Diesmal ist es eine künstliche Halbinsel in Palmen-Form. Aber wer hat ihnen das Recht gegeben, mit dem Meer zu tun, was sie wollen? Das ist nicht ihr Meer, das ist unser Meer, aus dem diese Stadt hervorgegangen ist. Ich sehe, wie Menschen sich wegen der Mauern an der Küste nach und nach vom Meer entfernen und entfremden. Aber ich denke, wir müssen dem Meer näherkommen, es besser verstehen, weil es das Meer ist! Was will ich für Batumi? Schöne Straßen, Regen, Sonne und viele Festivals... Musik Mandarini (von Diasamidze) Autorin Kolchis, so nannten die antiken Argonauten die Heimat der Medea im Osten des Schwarzes Meeres - heute das westliche Georgien. Mit dem Schiff Kolchis haben wir in den 90ern auch Sochumi besucht. Heute ist es die Hauptstadt der Republik Abchasien, einem abgespaltenen Teil Georgiens, der nur von Russland und vier anderen Ländern anerkannt wird. Abchasien wird von Russland am Leben gehalten und militärisch kontrolliert. Ich treffe den georgisch-abchasischen Schriftsteller Guram Odischaria in seinem Haus im georgischen Bergdorf Bulachauri nahe Tiflis. Atmo Dorf, Hund bellt O-Ton Guram Odischaria 1 Sprecher 1 Ich war in fast allen Städten an der Schwarzmeer-Küste, und ich bemerkte vor allem in Odessa: es gibt dort dieselben Wörter wie bei uns in Suchumi. Es ist kein Hochrussisch, es ist eine Schwarzmeer-Sprache, mit griechischen, jiddischen oder ukrainischen Wörtern darin. Auch die alte Architektur ist sehr ähnlich: Italienische, französische und deutsche Architekten, die Odessa gebaut haben, haben auch bei uns gebaut. Autorin In der Nähe des Dorfes fließt der azurblaue, von vielen Dichtern besungene Gebirgsfluss Aragvi. Fette Kühe laufen über die Autostraßen oder liegen darauf, im Dorf versinken die Häuser in Gärten mit Obstbäumen, Blumen und Wiesen. Atmo Hunde bellen und Glöckchen O-Ton Guram Odischaria 2 Sprecher 1 Als Kind, wenn ich von weitem das Meer gesehen habe, ist mir das Herz aufgegangen. Und wenn ich aus dem Wasser kam, hat mir Mama ein Kotelett gegeben. Und dieses Licht! Das Meer ist wie ein großer Spiegel, auf den die Sonnenstrahlen fallen, und das Rot ist immer roter und Grün ist immer grüner als in anderen Städten. Autorin Odischaria ist Preisträger zahlreicher Literaturpreise, seine Werke wurden in 20 Sprachen übersetzt. In Deutschland ist gerade sein Roman "Die Katze des Präsidenten" erschienen, in dem er die vielfältige und lustige Welt des Vorkriegs-Sochumi beschreibt. Musik O-Ton Odischaria 3 Sprecher 1 Es gibt diesen Schwarzmeer-Charakter - er ist in allen diesen Städten gleich: witzig, weltoffen, flink. In Sochumi gab es mehrere kleine Cafés wir nannten sie "Brechalovkas" - das ist ein ukrainisches Wort für Plaudern. Der Duft des Mokkas mischte sich mit Jodgeruch und Eukalyptusduft. Und Sochumier - von den Hafenarbeitern bis zu den Professoren - haben sich dort getroffen und Geschichten erzählt. Wir sind guter Erzähler. Wir haben unsere zahlreichen Sprachen und Küchen miteinander geteilt: Abchasisch, Jüdisch, Griechisch, Armenisch, Russisch. Und wir kannten ein paar deutsche und polnische Wörter, weil die Seeleute von den riesigen Schiffen, die manchmal aus dem Mittelmeer kamen, nicht nur Zigaretten und Jeans mitbrachten, sondern auch verbotene Schallplatten: Presley, Chicago, Jazzbands. Autorin Man sagt, in Abchasien stünden jetzt viele Häuser leer, da die Georgier und alle Minderheiten geflohen seien. Durch eingestürzte Dächer wachsen verwilderte Feigen. O-Ton Odischaria 4 Sprecher 1 Vor dem Krieg war ich ein junger Mensch, der gut schwimmen konnte - ich schwimme immer noch gut! Ich tauchte und untersuchte die Unterwasser-Welt und habe vor allem Gedichte über das Meer geschrieben. Ich habe davon geträumt, die georgische Dichtung des Meeres zu erschaffen. Dieser verdammte Krieg in Abchasien fing an, als ich 40 war. Nach dem Krieg konnte ich keine Gedichte mehr schreiben. Ich sah, wie das Hotel Ritz und die Agaven brannten und Leichen im Meer schwammen. Meine poetische Welt war gestorben. Autorin Odischaria floh erst aus Sochumi, als die Stadt eingenommen wurde. Seit 30 Jahren nimmt er an den georgisch-abchasischen Friedensgesprächen Teil, die nach Lösungen des Konflikts suchen. O-Ton Odischaria 5 Sprecher 1 Manchmal kommt die Zeit, in der die einzige Heimat der endlose Raum des Meeres wird. In meinem neuen Roman "Mit dir, ohne dich" gibt es ein Kapitel, wo Freunde bei einer Flasche Wein überlegen, was zu tun ist, damit die Beziehungen um das Schwarze Meer gerettet werden und es keinen Krieg mehr gibt. Es soll eine Schwarzmeerrepublik entstehen: Eine Republik des Schwarzen Meeres! Ein Parlament des Schwarzen Meeres wird gegründet. Wir werden einander auf Schiffen besuchen und das Schwarze Meer werden wir den Ozean des Schwarzen Meeres nennen. Das ist unser Ozean! Atmo Wellen, Möwen und Musik Sprecher 2 Schwarzmeerien Welche Zukunft verbindet Bulgarien, Georgien und die Ukraine Ein Feature von Viktoria Balon Es sprachen Katharina Schmalenberg, Jonas Baeck, Stefko Hanushevky, Thomas Balou Martin, Claudia Mischke, Svenja Wasser und Ines Marie Westernströer. Ton und Technik: Gunther Rose, Michael Morawietz und Lukas Fehling Regie Claudia Kattanek Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2023 1