Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature 26 + 6 = 1? Über irische Identität und die Wiedervereinigung Autorin + Regie: Hannelore Hippe Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk/WDR 2022 Erstsendung: Dienstag, 21.06.2022, 19.15 Uhr Langfassung Es sprachen: Kerstin Fischer, Frauke Poolman, Lisa Bihl, Justine Hauer, Tom Jacobs, Axel Gottschick, Josef Tratnik, Wolf Aniol und die Autorin Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Irische MUSIK Take 2 Clare I often laugh, there is a general feeling 1. Sprecherin: Ich muss immer lachen, weil viele in der Republik Irland glauben, dass der Norden langweilig ist, aber ihnen gleichzeitig Angst macht. Das wird noch eine Weile dauern, bis das verschwunden ist. Zwanzig Jahre ist ja nicht lang. Zwanzig Jahre wo alles stabil und friedlich bei uns war und es keine Grenze mehr gab. Take 3 Stephen: I don´t use the term Nothern Ireland 1.Sprecher: Den Begriff Nordirland verwende ich nicht. Sie sollten ihn auch nicht verwenden. Wenn man von Nordirland oder Irland spricht, sagt das gar nichts. Es ist ein Land. Und ich glaube, dass es letztendlich wieder eins sein wird. Take 4 Mike: It is driven by politics in my view 3. Sprecher: Die Frage nach der Wiedervereinigung wird ausschließlich von der Politik gestellt. Mit meinen Freunden rede ich nie darüber. Wir sind meilenweit von einem Referendum dazu entfernt, doch es gibt eine Diskussion darüber und das ist doch gut. Aber es gibt viele Menschen, die kein wiedervereinigtes Irland sehen wollen und das ist Fakt. Autorin: (im Take) Hier in der Republik? 3.Sprecher: Gerade hier. MUSIK 1.Sprecher: Sechsundzwanzig und sechs gleich eins? Take 5 Glenn: Of course it will. 2.Sprecher: Natürlich stimmt diese Rechnung. Das bedeutet Wiedervereinigung. Es wird nicht übermorgen geschehen und wenn es geschieht, wird das auch nicht die letzte Veränderung auf dieser Insel sein. In fünfhundert Jahren kann man ja dann mal schauen wie es gelaufen ist, aber es wird laufen. Ein vereinigtes Irland ist unumgänglich. Deshalb sollten wir vorbereitet sein. 1. Sprecher: Über irische Identität und die Wiedervereinigung. Ein Feature von Hannelore Hippe MUSIK Take 6: Glenn: "Wondering whether there will be a referendum?" 2.Sprecher: "Meinen Sie, es wird ein Referendum geben?" Er fragt noch nicht einmal über was. Die Zigarette glüht kurz auf. "Selbstverständlich." "Und wie denken Sie, wird es ausgehen?" "Es gibt nur eine Möglichkeit." "Sie hören sich sehr sicher an." "Das bin ich." MUSIK Four Green Fields Autorin: Wir sind schon mitten in der Vorstellung der Protagonisten dieser Sendung. Warum ich gerade sie ausgewählt habe? Das wird Ihnen am Ende unseres Streifzugs durch ganz Irland klar sein. Reisen Sie mit mir durch die "Vier Grünen Felder". Auf den Spuren irischer Identität und ihrer Rolle bei der politischen Zukunft der Grünen Insel. Diese vier grünen Felder, die hier inbrünstig besungen werden, sind der etwas verstaubte, jedoch sehr poetische Begriff für Irland. Es sind die vier Provinzen, die die ganze Insel einschließen: Ulster im Norden, Connacht im Westen, Munster im Süden und Leinster im Osten. Wir fahren zuerst in den Norden der Insel, nach Ulster. Das eben war Glenn Patterson aus Belfast, der einen Auszug aus seinem neuesten Buch las mit dem Titel "Die letzte irische Frage", womit die Frage nach der Wiedervereinigung gemeint ist. Glenn Patterson ist Schriftsteller und Journalist. Vielleicht der Bekannteste Nordirlands. Er leitet auch das Seamus Heaney Centre in Belfast, das dem letzten der zahlreichen irischen Literaturnobelpreisträger gewidmet ist. Ebenfalls in Belfast lebt Clare Dwyer Hogg. Take 7 Clare : I am a writer, poet and executive for a film and Tv company. 1.Sprecherin: Ich bin Autorin und Dichterin, arbeite aber hauptsächlich für eine Film -und Fernsehproduktionsgesellschaft. In meinem Film "Hard Border"- die harte Grenze - von 2021 habe ich versucht, reale Zitate von britischen Politikern zur Grenze zwischen beiden Teilen Irlands in einem poetischen Monolog über Identität und eine harte Grenze zu verarbeiten ATMO Abby liest aus einem Gedicht über die Grenze (Veranstaltung mit Hall) 2.Sprecherin: Ich hätte erwartet, in zwei Teile zu zerfallen um gleichzeitig in zwei Ländern zu stehen. Aber ich bin noch ganz! Schau! Wir halten uns fest an den Händen: Donegal, ich und Derry. Take 8 Abby: The border is just five minutes from here. 2. Sprecherin: Die Grenze zur Republik ist nur fünf Minuten entfernt von hier. Ich bin Dichterein und Performerin und arbeite in meinen Auftritten mit Poesie, Theaterelementen und Musik. Ich wurde in Schottland geboren. Meine Mutter ist Schottin, mein Vater stammt von den Kap Verden. Ich zog als Kind 1994 nach Nordirland und so habe ich hier den größten Teil meines Lebens verbracht. Autorin: Abby Oliveira hat in ihrem Gedicht ihre eigene Realität eingebracht, nämlich weder dem einen noch dem anderen "Lager", sondern zu den "Sonstigen", den "Anderen" anzugehören. Sie lebt in dem einzigen Ort Irlands, der offiziell zwei Namen trägt und wo jeder sofort weiß, welche politische Gesinnung oder welche Religion man hat, je nachdem welchen der beiden Namen man benutzt. Sie lebt in Derry. Auf manchen, wenn auch nur wenigen Schildern, steht stattdessen `Londonderry´. Immer noch. Take 21 Abby: When we moved here as children 2.Sprecherin: Als wir herzogen als Kinder, wurde selbstverständlich auch von uns erwartet, dass man sich zu einer der beiden Seiten bekannte. Autorin: Abby Oliveira wuchs in Schottland auf, bis ihre Mutter sich von ihrem afrikanischen Vater trennte und mit den Kindern zu ihrem neuen Partner nach Nordirland zog, einem Unionisten der hartgesottenen Art. Take 21: when he saw hurling 2.Sprecherin: Wenn der irgendwo nur Hurling sah, eine traditionelle irische Sportart, wurde der sofort stinkewütend. Mich schickte man selbstverständlich auf eine protestantische Schule. Das lehrte mich, später einen anderen Weg zu wählen. Dort wurden nicht nur Katholiken gehasst, da galten nur weiße, angelsächsische Menschen etwas. Und das war ich nicht. ATMO Tanzgeräusche, ein Klacken, ein bisschen wie Steppen. Take 11 Edwina: I am often asked when did you start dancing? 3. Sprecherin: Man fragt mich oft, wann hast du denn mit dem Tanzen begonnen? Das kann ich gar nicht sagen, denn es ist immer Teil meines Lebens gewesen, man lernt hier gleichzeitig tanzen und sprechen. Autorin: Wir sind in der Provinz Connacht. Die traditionelle Tänzerin Edwina Guckian lebt in der Republik Irland und kennt die Witze die hier über die kleinste Grafschaft der Republik kursieren. Take 10 Edwina: Does anybody really live here? 3. Sprecherin: Wohnt hier wirklich jemand? Du bist der erste Mensch aus dieser Grafschaft, den ich kennenlerne!. Autorin Die Grafschaft Leitrim, wo die junge Mutter und traditionelle Tänzerin lebt, hat etwas über dreißigtausend Einwohner und ist damit die kleinste der insgesamt sechsundzwanzig, die die Republik Irland ausmachen. Haben Sie mitgezählt und noch die Rechenaufgabe 26+6=1 im Kopf? Take 12 Gabi: My name is Gabrielle Coyne and I am from the West of Ireland. 4.Sprecherin: Ich heiße Gabrielle Coyne und bin aus dem Westen Irlands. Autorin: Nun sind wir mitten in Connacht, der Provinz im Westen. "Zur Hölle oder nach Connacht!" war im 17. Jahrhundert der Schlachtruf Oliver Cromwells bei seiner gnadenlosen Unterwerfung gerade dieses Teils Irlands westlich von Sligo und Galway. In dieser Provinz gab es in den mehr als fünfhundert Jahren britischer Kolonialherrschaft die schlimmste Armut, die meisten, die um zu überleben nach Amerika und in die ganze Welt auswanderten, und während der großen Hungersnot, Mitte des 19. Jahrhunderts, die meisten Toten. Hier gibt es aber auch bis heute die meisten der Gaeltachts, die vom Staat besonders geförderten Landstriche in denen die erste Landesprache Irisch tatsächlich noch als erste Alltagssprache gesprochen wird. Autorin: Die Provinz Connacht ist auch für seine sagenhaft atemberaubende Schönheit bekannt. Gabi und ich sind umgeben von einer märchenhaften Landschaft. Take 12 (weiter) Gabi: 4.Sprecherin: Ich bin sechsundzwanzig Jahre. Das erste Mal ging ich für zwei Jahre von hier weg. Nach Neuseeland und Australien. Das war gut. Ich stamme ja aus dem ländlichen Irland und hier gibt es nicht viele Menschen. Das Leben ist...nun sagen wir mal, es wiederholt sich. Deshalb war es für mich ein Abenteuer fortzugehen, aber es war auch schön, wieder zurückzukehren zu den Bergen und dem Meer. Es ist ein ganz besonderer Ort, ein magischer Ort. Autorin: Gabi Coyne ist eine gefragte DJ, komponiert elektronische Musik und arbeitet auch als Tätowiererin. Bis vor wenigen Jahrzehnten wäre sie weggegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Es gab hier nichts was sie hätte ernähren können. Im Westen Irlands lernten die Schulkinder noch Anfang der neunziger Jahre, als ich hier länger lebte, dass jedes von ihnen das "dritte Kind" sein könnte. Jeder dritte Ire und Irin, das wussten alle, musste auswandern um zu überleben und sich eine Zukunft zu sichern. Gabis Onkel, der Bruder ihrer Mutter, gehörte noch dazu. Er kehrte nie aus Boston zurück. Take 14 A: BUS ATMO Busfahrer unterhält sich mit Kunden Autorin: Der Expressbus von Galway bringt mich nach Cork. Das Eisenbahnnetz ist mit wenigen Ausnahmen auf den Süden, die Mitte und den Osten der Insel beschränkt, aber die Überlandbusse funktionieren tadellos, sind pünktlich, preiswert und sehr kommunikativ. Eben irisch. Beim Einsteigen trifft das supermoderne digitale Irland auf das gemütliche analoge Irland: Während alle Fahrgäste dem Busfahrer ihren Scancode auf ihrem Handy als Nachweis ihres gebuchten Tickets hinhalten, streicht er freundlich blinzelnd auf seiner handschriftlich geführten Liste jeden Namen ab, den er auf dem Barcode ausmachen kann und macht eine witzige Bemerkung. Dafür ist Zeit. Trotzdem erreichen wir auf die Minute genau Cork, die zweitgrößte Stadt der Republik ganz im Süden. Take 14B: BUS ATMO Ansage. Take 15 Donal: This is Donal Gallagher. 3. Sprecher: Ich heiße Donal Gallagher und bin der Bruder des Musikers Rory Gallagher. Hier auf dem alten Poster der irischen Eisenbahn sieht man Derry. Da hat man den Blick auf die Bogside wo ich geboren wurde, denn unser Vater stammte aus Derry, aber Rory wurde in Donegal auf der anderen Seite geboren, in Ballyshannon, doch aufgewachsen sind wir in Cork. MUSIK Autorin: Die Grafschaft Cork liegt im südlichen grünen Feld Irlands, der Provinz Munster. Dort treffe ich Donal, der seinen älteren Bruder, den bekannten Rockmusiker Rory Gallagher bis zu seinem Tod als Manager begleitete und bis heute seinen Nachlass verwaltet. An der Familiengeschichte der beiden Brüder, von denen die Mutter aus Cork in der Republik stammte und der Vater aus dem britischen Nordirland, - der eine Bruder in Nordirland zur Welt kam, der andere in der Republik, - lässt sich die Härte, die Konflikte und der Schmerz recht genau aufzeigen, die die Teilung Irlands vor hundert Jahren bis heute mit sich brachte. Donal Mein Vater, der aus Derry stammte, war ein gebildeter Mann und wollte in seiner Heimatstadt Arbeit finden, die es für ihn jedoch nicht gab. Keine Arbeit, kein Geld. So ging es dort allen katholischen Männern. Man gab nur den Frauen in den Fabriken Arbeit. Die Männer wurden sozusagen neutralisiert und ergaben sich zum großen Teil dem Suff. Der hohe Prozentsatz an Alkoholismus dort war unglaublich. Daraufhin gingen meine Eltern nach Birmingham und Coventry, doch meine Mutter war dort nicht glücklich und drängte darauf, nach Irland zurückzukehren. Autorin: Die Ehe zerbrach wie viele damals an den Konflikten Nordirlands und die Mutter der beiden Gallagher Brüder ging allein mit ihren kleinen Kindern nach Cork, in die Republik. ATMO 16: ATMO ZUG Ansage auf Irisch und Englisch Dublin Autorin: Schließlich lande ich in der vierten Provinz Leinster, in der auch die Hauptstadt der irischen Republik Dublin liegt. Take 17 Stephen: I am Stephen Rea, I am an actor. 1.Sprecher: Ich heiße Stephen Rea, bin Schauspieler und habe in den achtziger Jahren mit der Theatergruppe" Field Day" mit dem berühmten Dramatiker Brian Friel und anderen in Derry gearbeitet. Es war die Zeit der Hungerstreiks, der Bomben, eine furchtbare Zeit. Autorin: Stephen Rea ist einer der bekanntesten irischen Schauspieler. Auch bei uns kennen ihn viele aus Filmen. Eine Oscar Nominierung erhielt er 1992 für seine Hauptrolle in Neil Jordan´s Film, "The Crying Game" wo er einen IRA Mann spielte, der die Freundin eines getöteten britischen Soldaten aufsucht und sich in sie verliebt. Im wirklichen Leben war der ehemalige Protestant aus Belfast, der heute in Dublin lebt, einst mit einer verurteilten Untergrundkämpferin der IRA verheiratet. Als letzten in der Provinz Leinster treffe ich mich in einem gemütlichen Restaurant mitten in Dublin mit dem Schriftsteller den viele nach Seamus Heaney für den nächsten Iren halten, der zu höchsten literarischen Meriten berufen ist, und ich spreche wirklich von den allerhöchsten. Take 18: John: I am John Banville 4. Sprecher: Ich heiße John Banville und bin Schriftsteller. MUSIK "Wann wird die Vergangenheit zur Vergangenheit? Wieviel Zeit muss vergehen, bevor das, was einfach bloß geschehen ist, auf diese mysteriöse, numinose Weise zu leuchten beginnt, die das Merkmal wirklichen Vergangenseins ist? Sagen wir so: Die Gegenwart ist das, worin wir leben, die Vergangenheit das, worin wir träumen. Die Vergangenheit gibt uns Auftrieb, wie ein Heißluftballon, der stillsteht und sich immer weiter ausdehnt. Und doch, ich frage noch einmal: was ist sie? Welche Verwandlung muss die Gegenwart durchmachen, damit sie zur Vergangenheit wird? Die Alchimie der Zeit, sie wirkt in einem hellen Abgrund." 1.Sprecher: Aus: Spaziergänge durch Dublin von John Banville. Take 17 a. Stephen : Some of the people you speak to here 1.Sprecher: Einige, mit denen Sie hier sprechen, vertreten eine grundlegend andere Haltung als ich. Und sie haben alle Unrecht. Autorin: Danke für den Hinweis, Stephen Rea. Dies ist eine Sendung, man ahnt es, über das irischste aller irischen Themen, auf irische Art präsentiert. Ein wenig zumindest... Musiker Mike Hanrahan wird uns einstimmen... MUSIK von Mike Hanrahan ( darüber) Autorin: Ein kurzer Ausflug in die irische Geschichte hilft uns, Dinge nachzuvollziehen. Beginnen wir mit der Teilung Irlands vor hundert Jahren. Oder war es vor einhunderteins Jahren oder ist es gar schon einhundertzwei Jahre her? Es kursieren mehrere Daten die alle historisch begründbar sind. Alle. Da hatten die Briten das Land schon seit vierhundert Jahren kolonialisiert und unterworfen. Oder war das schon fünfhundert Jahre her oder noch länger? Auch eine acht vor der hundert kursiert gern auf der Insel. Genaue Zahlen, wann was passierte, sind in der irischen Geschichte selten wirklich greifbar. Feststeht, dass die Engländer, besonders Königin Elizabeth I. und ihr Nachfolger James I. sich dabei hervor taten, protestantische, Englandtreue Schotten auf der Nachbarinsel Irland vorwiegend in der nördlichen Provinz Ulster anzusiedeln, um die widerspenstigen und trotz Reformation in ganz Europa unbeirrt katholischen Iren unter Kontrolle zu halten. Donal Gallagher: Take 18 Donal: The division line was arbitary. 2.Sprecher: Die Trennungslinie, was zu welchem Teil gehören würde, war willkürlich. Man zog keine klare Grenze. Die Bogside in Derry zum Beispiel gehörte lange noch zum alten Donegal, während der größte Teil der Stadt aus rein militärischen Gesichtspunkten nun zu Großbritannien gehörte. Autorin: Setzte diese junge Republik sich für die Rechte der benachteiligten irisch katholischen Bevölkerung im neuen britischen Teilstaat ein? Unterstützten die nicht ihre Leute im Norden? Take 20 Stephen: A hundred years ago when this state was founded. 1.Sprecher: Als vor hundert Jahren dieser Staat gegründet wurde, wollten Abgesandte der nationalistischen Bevölkerungsteile im Norden, hier im Süden mit den Politikern über die Rechte und Probleme der Katholiken im Norden reden und was nun nach der Teilung Irlands mit ihnen geschehen würde. Man sagte ihnen hier, haut ab, wir können nichts für euch tun. Wir haben mit den Briten vereinbart, dass wir uns nicht bei ihnen dort oben einmischen werden. Autorin: Kurze Begriffserläuterung: `Nationalists´ werden die Irlandtreuen genannt, `Loyalists´ die Englandtreuen. Auch `Unionists´, wenn man ein bisschen extremer seine Verbundenheit zur Krone ausdrücken mag. Wenn man dasselbe auf der Gegenseite tut, wird man als `Republican´ bezeichnet. So hat alles seine Schublädchen, Fahnen wie Abzeichen die selbstverständlich dazu gehören. Autorin: Ein anderer Aspekt der Geschichte der Teilung Irlands in die Republik und Nordirland wird nur selten betrachtet. Und dennoch ist er wichtiger als es auf den ersten Blick erscheint. Als ich 1973 zum ersten Mal nach Irland kam, fragte ich etwas naiv, wie viele Protestanten es in der Republik wohl gäbe? Protestanten, fragten mich meine neuen irischen Freunde ungläubig? `Keine´ war die Antwort. Die Wahrheit lag damals bei 3 % der Gesamtbevölkerung. John Banville hält das für fatal für die Entwicklung der irischen Gesellschaft in der Republik. Take 22 John: Partition was desastrous for this country. 4.Sprecher: Die Teilung war für das Land eine Katastrophe. Denn dadurch haben wir auch die protestantische Kultur des Widerspruchs, der abweichenden Meinung bei uns verloren. Die Wahrheit, auch wenn sie unbequem ist, ist nämlich, die meisten Rebellionen und Aufstände in unserer Geschichte gegen die Briten sind von Protestanten angeführt worden. In meiner katholischen Schule wurde das selbstverständlich übergangen und verschwiegen. Was Leute wie Parnell oder Wolf Tone, die Aufstände gegen die Briten anführten, was diese protestantische Beteiligung für Irland bedeutet hat! Sie sind immens beliebt hier und als man das Land teilte, verloren wir diesen Teil des Widerspruchsgeists den der Norden jedoch behielt. Beckett ging ins Exil. Kein irischer Künstler ist je ausgewandert. Die sind alle ins Exil gegangen. Das ist ein Unterschied. Und die die blieben, schwiegen. Ein fürchterlicher Verlust. Take 22 Edwina: Of course the British stopped the dancers. 3.Sprecherin: Natürlich war unter den Briten irischer Tanz verboten. Aber die Leute haben weiter getanzt. Heimlich auf den Feldern, verborgen in Scheunen. Aber dann kam 1935 die katholische Kirche. Die hat dann all das verboten, wofür die irische Kultur stand. In dem Jahr wurde das Anti-Tanz-Gesetz verabschiedet. Autorin: Nein, wir sind nicht in eine Sendung über Afghanistan gerutscht. Wir reden über die Republik Irland und die katholische Kirche, die bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts die irische Politik bestimmte und entscheidend deren Gesetze beeinflusste. Tänzerin Edwina Guckian. ATMO Tanz Take 22 3.Sprecherin: Das steht bis heute in unserer Verfassung. Es ist verboten zu tanzen, es sei denn man besitzt eine besondere Lizenz dafür. Das heißt konkret, man darf nicht zuhause in den eigenen vier Wänden tanzen, sondern nur im Gemeindesaal. Dafür muss man bis heute eine Liste der geplanten Tänze einreichen, die ein Priester absegnen muss. Damit der Heilige Geist seinen Platz findet. Take 23 Gabi: In rural Ireland even now people have a narrow perspective 4.Sprecherin: Bis heute haben die Menschen hier besonders auf dem Land eine sehr enge Vorstellung von dem was richtig und was falsch ist. Das war früher noch schlimmer. Man wurde kontrolliert. Wenn zum Beispiel jemand außerhalb der Ehe ein Kind bekam, dann musste die Frau mit der Schande umgehen, die nur sie traf. In vielen Fällen musste sie ihr Dorf verlassen. Autorin: Gabrielle Coyne hat es selbst erfahren. Ihre Mutter wurde als junge Frau Anfang der neunziger Jahre ungewollt schwanger. Doch sie hatte Glück. Die Großeltern stellten sich hinter die Mutter, trotzten im Dorf der "Familienschande" und halfen der Tochter, die Zwillinge im Heimatdorf großzuziehen. Take 23 Gabi: 4.Sprecherin: Das passiert heute Gott sei Dank nicht mehr, aber so etwas geschah hier noch sehr lange. Der Einfluss der katholischen Kirche war immens und besonders die Frauen haben darunter leiden müssen in Irland. Autorin: Das war die Situation Anfang der siebziger Jahre: Ein Land - die sechsundzwanzig Grafschaften - das wirtschaftlich unterentwickelt war und seine Einwohner nicht ernähren konnte. Gegängelt durch die rigorose Herrschaft einer unbarmherzigen kirchlichen Hierarchie. Und der Norden - die restlichen sechs Grafschaften - gespalten in zwei unversöhnliche Lager, von denen der eine Teil vom `Mutterland" für seine Loyalität begünstigt und hoch subventioniert wurde. Donal Gallagher. Take 24 Donal: He wanted to get back to Derry. 3.Sprecher: Mein Vater wollte damals zurück nach Derry um für seine Familie ein Haus zu kaufen. Aber das ging ja nicht. Er durfte nur mieten, denn Hauseigentum war mit dem Recht zu wählen gekoppelt. Nur wer ein Haus besaß, nicht mietete, durfte in Nordirland wählen. Kein Haus, keine Stimme. Das heißt, das System dort basierte auf Diskriminierung eines Teils der Bevölkerung und daran kann man erkennen, warum sich dort die Bürgerrechtsbewegung formierte. Was gleichzeitig in den Vereinigten Staaten mit den Schwarzen passierte, inspirierte hier in Irland die Menschen Wir sollten wählen dürfen das war doch ein menschliches Grundrecht. MUSIK Take 25 Stephen: When the Catholics insisted on civil rights and were refused... Autorin Stephen Rea 1.Sprecher: Als die Katholiken im Norden auf ihren Bürgerrechten bestanden und abgewiesen wurden, das war der Punkt an dem die Unruhen begannen. Man macht gern die Nationalisten dafür verantwortlich, aber das Problem lag bei der britischen Regierung und den Unionisten aus dem Norden. Das Ganze war illegal. Nordirland war illegal, es gab über die Teilung ja nie ein Referendum. Autorin: (im Take) Wenn ich den Begriff Nordirland verwende, dann um diesen Teil der Insel zu benennen. 1.Sprecher: Das kann man auf andere Weise. Autorin: (Im Take) Und wie? 1.Sprecher: Reden Sie vom Norden oder den sechs Grafschaften. Wenn Sie Nordirland sagen, legitimieren Sie doch das Gebilde und die Nationalisten stört das. Es ist falsch, ganz falsch! Weil es nicht rechtmäßig war! Was ist denn der Staat den Sie Nordirland nennen? Das ist der Teil Irlands von dem die Unionisten immer noch glauben, sie könnten ihn kontrollieren. Autorin: (im Take) Hat sich denn nichts geändert? 1.Sprecher: Nicht ein Jota. Alles über was die Unionisten reden sind ihre Rechte und nur ihre. Wie man Dinge kontrolliert und wie man die Katholiken kontrolliert. Die akzeptieren keine Demokratie. Take 26 Abby: What hit me about Derry was 2.Sprecherin: Was mich an Derry verblüffte, als ich von Port Stewart nicht weit von Derry herzog, war, mit welcher Leidenschaft die Menschen hier in Derry sprachen, wie politisiert alles war, im Gegensatz zu meinem früheren Wohnort. Derry lag an der Front. Sie waren alle sehr viel rigider in ihren politischen Überzeugungen. Wo ich früher lebte, da merkte man von den Unruhen so gut wie gar nichts. Polizeirazzien, Bombenalarm, das gab´s da nicht. Und die Menschen redeten auch nicht darüber. Autorin: Außer Derry gab es auch noch Belfast, die größte Stadt des `Gebildes´ Nordirland. Dort wuchs der Schriftsteller Glenn Patterson auf, Jahrgang 1961, den ich in der Lobby des Hotel Europa treffe, dem Hotel, dem in jenen Jahren der zweifelhafte Ruhm anhing, das meist bombardierte Hotel der Welt zu sein, wie man heute in jedem Reiseführer lesen kann. Take 27 Glenn: There used to be security gates outside. 2.Sprecher: Da vorne gab es Sicherheitszäune, nachdem man erst durch eine Sicherheitskabine geschleust wurde. Dann erst konnte man hier rein, es war wirklich sehr schwer. Belfast war ein komplett isolierter Ort in den Siebzigern. Egal wo man hinging, man wurde von Soldaten oder der Polizei angehalten und durchsucht, befragt. Das Gleiche, wenn du mit der Fähre rüberfuhrst, nach Liverpool oder Schottland. Dann natürlich, wenn du in die Republik wolltest. Du hast dich permanent beobachtet und kontrolliert gefühlt und es kam kaum jemand hierher. Autorin: Damals, so erzählt Glenn, gab es kaum Hotels, man brauchte ja auch keine. Es kamen ja keine Besucher. Heute gibt es in Belfast zahllose neue, schicke Unterkünfte, die Gäste aus aller Welt beherbergen. Selbst im kühlen März, als ich mich in Belfast aufhalte, pilgern trotz Corona internationale Touristengruppen durch das Zentrum der Stadt. Sie waren schon im Titanic Zentrum und bestaunen nun die wunderschönen Pubs in der Altstadt. Clare Dwyer Hogg hat genau wie Patterson bis heute nicht die Realität vor dem Karfreitagsabkommen von 1998 vergessen, das Nordirland endlich Frieden brachte, ein Frieden der real, wenn auch fragil ist. Take 28 Clare: As a child I used to cross the border. 1.Sprecherin: Ich kann mich noch gut erinnern, wie oft ich als Kind diese Grenze in die Republik überquerte. Nie werde ich die Checkpoints mit den Soldaten vergessen. Lange Schlangen, Suchscheinwerfer, es war grauenhaft. Das war die harte Grenze. Und dann lese ich heute, dass einige Journalisten und Politiker behaupten, es habe hier nie eine harte Grenze gegeben. Autorin: Werfen wir noch einmal einen raschen Blick auf das, was unten und oben passiert ist. Oben war der Norden, ein Splitter des liberalen Großbritanniens mit sechs Grafschaften, unten war der Süden, die Republik, das "unabhängige Irland" mit den restlichen sechsundzwanzig der insgesamt zweiunddreißig Grafschaften die die Grüne Insel ausmachen. John Banville. Take29: John: The Ireland I grew up in was hideous 4.Sprecher: Das Irland meiner Kindheit war hässlich. Hier regierte die Kirche und sie besaß die absolute Macht. Ich bin vor 89 nach Osteuropa gereist und dachte sofort: das ist ja Irland! Die kommunistische Partei kontrollierte dort die Menschen von der Wiege bis ins Grab, diesen Part erledigte bei uns die katholische Kirche. Take 30 Glenn: The republic, south of the border has changed much. 2.Sprecher: Belfast war ja in den siebziger und achtziger Jahren schon ein übles Pflaster, aber wir wussten, so schlimm wie im Süden ist es bei uns nicht. Unsere Gesellschaft hier oben war freier. Und wir dachten immer, wir leben im moderneren Teil der Insel! Da war es für uns ein großer Schock, als wir feststellen mussten, dass mittlerweile wir die Rückständigen waren. Der Süden besitzt eine viel progressivere Gesetzgebung zur Abtreibung und zur gleichgeschlechtlichen Ehe als wir! Und beide Lager, sowohl die Nationalisten als auch die Unionisten haben eine völlig veraltete Vorstellung davon, wie der Süden heute aussieht! Autorin: Und unten lebten die "armen Verwandten", oben - bis auf den katholischen Anteil der Bevölkerung - der wohlhabendere, weil hoch subventionierte Teil der Inselbewohner. Heute ist es genau umgekehrt. Take 31 Glenn: The change is slower here. 2.Sprecher: Bei uns läuft alles langsamer, aber möglicherweise auch als Resultat der jahrelangen Unruhen, verändert sich hier im Norden alles langsamer als im Süden. Hier gibt es immer noch paramilitärische Organisationen. Wir haben immer noch, wenn auch nicht häufig, Konflikte mit Schusswaffengebrauch, da läuft noch einiges unter der Hand. Auch wenn der Einfluss solcher Gruppen sicher geringer ist als zwischen 1970 und 1990. Gewalt ist selten, aber der Wille dazu ist noch vorhanden. Als Schriftsteller und Bürger verfolge ich das sehr genau. Nordirland ist heute ein viel `normalerer´ Ort als in dem ich damals aufgewachsen bin. Aber es ist nicht der Ort von dem ich hoffte, dort einmal leben zu können, als ich damals für das Karfreitagsabkommen gestimmt habe. Autorin: Mit dem Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 zwischen der der Regierung der Republik Irland, der Regierung des Vereinigten Königreichs und den Parteien Nordirlands fand der Bürgerkrieg mit über 3000 Toten ein vorläufiges Ende. Am selben Tag stimmten die Menschen in beiden Teilen der Insel in einem Referendum mit einer Mehrheit dafür. Es besagt in seinen wichtigsten Bestandteilen: 1.Sprecher: Die Regierung der Republik Irlands verzichtet auf die Forderung nach einer Wiedervereinigung. 2.Sprecherin: Die Möglichkeit der Widervereinigung wird nicht ausgeschlossen, wenn sich die Mehrheit im Norden dafür ausspricht. 1.Sprecher: Irische und nordirische Behörden arbeiten zusammen. 2.Sprecherin: Die paramilitärischen Truppen beider Lager erklären ihre Bereitschaft zur Entwaffnung. 1.Sprecher: Die Entlassung der Untergrundkämpfer wird in Aussicht gestellt. 2.Sprecherin: Großbritannien sagt eine Verringerung seiner Truppenpräsenz in Nordirland zu. 1.Sprecher: Nordiren ist es möglich, einen irischen Pass zusätzlich zum Britischen zu beantragen. Autorin: Ließ das nicht die Möglichkeit für eine Widervereinigung Irlands offen? - Der Schriftsteller Glenn Patterson Take 32 Glenn: It was not about that. 2.Sprecher: Darum ging es nicht. Das Karfreitagsabkommen schließt lediglich die Möglichkeit mit ein, dass Nordirland Teil eines vereinigten Irlands werden könnte, wenn die Mehrheit der Bevölkerung Nordirlands sich dafür entscheiden sollte. Das steht drin. Am selben Tag muss im Norden wie im Süden dazu ein Referendum stattfinden. Was ich mir davon erhoffte war, dass es zu einer neuen Art Politik zu machen führen würde. Dass wir lernen, Respekt füreinander zu zeigen statt Gegnerschaft. Das genau beherrschte ja bisher unsere Politik. Dass wir endlich kapieren, wir können divers und unterschiedlich sein, aber nicht immer weiter das Spiel spielen: Wenn die eine Seite gewinnt, verliert automatisch die andere Seite. Vierundzwanzig Jahre nach dem Karfreitagsabkommen habe ich nicht erwartet, dass das Sektierertum unsere Politik immer noch dominiert! Das hier ist immer noch ein Ort der Spaltung! Gehen Sie doch mal aus dem Stadtzentrum von Belfast! Es dauert nicht lange und man stößt auf dieselben Mauern wie früher. Aus dem Gedicht "Randalstown" von Clare Dwyer Hogg Take33 Clare: twenty years of no border is an extremely short time. 1.Sprecherin: Zwanzig Jahre ohne diese Grenze ist ja nicht lange. Hier im Norden sind wir seit dem Karfreitagsabkommen in der ungewöhnlichen Lage, dass wir beide Nationalitäten, das heißt, beide Pässe beantragen können. Vor Brexit hatten wir ja alle einen EU Pass und das hat meiner Meinung nach, unsere Identität transzendiert. Wir waren alle Europäer und konnten uns sehr bequem in unserer Identität entweder britisch oder irisch fühlen. Autorin: Gibt es überhaupt so etwas wie eine irische Identität, die in der politischen Zukunft der Insel eine Rolle spielen könnte? - John Banville Take 35 I believe that and hope so. John: 4.Sprecher: Das glaube und hoffe ich. Ich fände es schrecklich, wenn die Welt in einer einzigen gleichförmigen Kultur versinken würde. Wir Iren halten uns ja für den Nabel der Welt. Dieser Illusion haben wir uns lange hingegeben und unsere Kultur ist bis heute sehr stark ausgeprägt. Autorin: Ich frage die junge DJ und Tatoo Künstlerin Gabrielle Coyne was für sie heute irische Kultur bedeutet? MUSIK Take 36 Gabi: For me it is traditional music. 4.Sprecherin. Das ist traditionelle Musik für mich. Die Menschen hier treffen sich immer noch in den Pubs und erzählen sich was. Unsere Poesie ist auch ein Teil unserer Kultur. Mein Vater spielt traditionelle Musik, meine Großeltern haben einen Pub. So bin ich aufgewachsen, das war immer um mich herum. In den Pub zu gehen und sich Geschichten zu erzählen, das ist bis heute ein großer Teil unserer Kultur. Hier in Irland findest du Stories und Folklore die du sonst nirgendwo findest. MUSIK Autorin: In Belfast frage ich den Schriftsteller Glenn Patterson ebenfalls nach einer irischen Identität. Take 38 Patterson: There are probably multi Irish identities. 2.Sprecher: Wahrscheinlich gibt es verschiedene irische Identitäten, auf jeden Fall trifft das auf den Norden zu. Hier gab es ja immer einen Wettstreit zwischen verschiedenen nationalen Möglichkeiten und schon dadurch wurde die Frage nach der Identität sehr komplex. Wir reden von Unionismus und Nationalismus, von Loyalität und Republiktreue. Selbstverständlich gibt es hier zwei Formen des Nationalismus: eine irische und eine britische. Letztere sieht Nordirland als untrennbaren Teil des Vereinigten Königreichs. Und Vertreter beider Varianten haben ein Bekenntnis von allen hier verlangt: Entweder gehörst du zu uns oder zu den anderen. Etwas Anderes gab es hier nicht. Take 39: Abby Oliveira liest aus ihrem Gedicht " The other" 2.Sprecherin: "Wir sind die anderen. Uns findet man nicht auf den alten Bildern im Sepia der Geschichte Alte weiße Männer in Sepia erkennt man nur weil es uns gibt..." Take 40 Abby: People want to know what religion you are 2.Sprecherin: Hier wollen die Leute immer sofort wissen, welche Religion man hat, aus welcher Familie man kommt. Ich war, als wir nach Nordirland zogen, weder protestantisch noch katholisch und jetzt bin ich immer noch nichts davon. Wenn man jünger ist, ist wer man ist und zu wem man gehört, wichtiger, aber heute als Erwachsene, macht es mir nichts aus, hier herumzulaufen und unter die Kategorie "Sonstige" zu fallen. Autorin: Die Dichterin und Performerin Abby Oliveira ist mittlerweile Anfang 40 und lebt seit vielen Jahren mit Mann und Kind in Derry. Take 41 Abby: Do I feel other? 2.Sprecherin: Fühle ich mich als "Sonstige"? Wenn ich Formulare ausfüllen muss, kreuze ich immer "other" an. Ob das die Religion betrifft oder meine ethnische Herkunft. Eigentlich betrifft `sonstige´ alle Kategorien die abgefragt werden. Dafür genieße ich aber die Freiheit, bestimmte Fragen zu stellen und mich anders zu verhalten, eben weil ich nicht hier geboren bin und nicht mit dieser Last der Herkunft herumlaufen muss. Wir Sonstigen sind der am schnellsten wachsende Teil der Bevölkerung und damit der Wählerschaft in Nordirland. Hier gibt es keine andere Wahl als Veränderung. Autorin: Die Prozentzahlen der "Sonstigen", also des Teils der Bevölkerung, der ursprünglich nicht aus einem Teil von Irland stammt, liegen sowohl in der Republik als auch in Nordirland ungefähr gleich hoch: zwischen 10 und 12 %, Tendenz steigend. Take 42 Edwina: We now have Irish dancers 3.Sprecherin. Es gibt eine Menge irischer Tänzer die von überall herkommen und ihre Kultur mitbringen. Wir vermischen ihre Kultur mit unserer. Ich habe neulich in Belfast mit einem Mann getanzt, der seinen afrikanischen Tanzstil mit unserem vermischt hat. Das war echt cool. Nicht nur der Tanzstil verändert sich, unsere gesamte Gesellschaft hat sich in den letzten fünfzehn Jahren verändert. Take 43 Glenn: You are talking to `other´. 2.Sprecher: Wie die "Sonstigen" wählen werden, das wird interessant sein. Die sind ja eben nicht davon beeinflusst, ob sie aus einem protestantischen oder katholischen Elternhaus kommen, ob sie Unionisten oder Nationalisten sind. Sie werden sich von einer anderen Form der Politik leiten lassen. Wenn man sich hier um eine Arbeitsstelle bewirbt, musst du dich noch heute als Protestant oder Katholik identifizieren oder als "Sonstiger". Ich bin politisch betrachtet schon lange "Sonstiger" und wir wachsen rapide. Autorin: Bei der Wahl für das nordirische Parlament im Mai 2022 erhält die republiktreue Sinn Fein zum ersten Mal in der hundertjährigen der Geschichte Nordirlands die Mehrheit im Parlament. Unmittelbar danach sieht es so aus, als würden die eindeutigen Verlierer der Wahl, die DUP - democratic unionist party -eine Einigung mit ihnen zur Bildung einer funktionsfähigen Regionalregierung blockieren. Ebenfalls zugelegt haben die zu keiner Fraktion gehörenden liberalen Sozialdemokraten. Sie wurden hauptsächlich von den "Sonstigen" gewählt. Tendenz steigend. John Banville: Take 45 John: If I was living in Northern Ireland I would be very worried about the future. 4.Sprecher: Die Unionisten tun mir leid. Da erklären sie lautstark ihre Loyalität zu einem Britannien das gar nicht mehr existiert. Falls es jemals existiert hat. Ich bin Künstler und weiß nicht viel über Politik. Aber sie sind da oben in einer schwierigen Situation scheint es mir. Eingepfercht zwischen Dublin und London. Beängstigend. Autorin: Doch gibt es möglicherweise noch einen weiteren, unsichtbaren Spieler, der die Zukunft Nordirlands und damit Irlands mitentscheiden könnte. Donal Gallagher. Take 46 Donal: The actual unionists are people from Scotland 3.Sprecher: Die beinharten Unionisten stammen ja ursprünglich aus Schottland. Da wird es spannend, dass Schottland nun seine eigene Situation nach dem Brexit mit Großbritannien hat. Schottland will nämlich in Europa bleiben und so haben sie, genau wie Nordirland, mit einer Mehrheit auch abgestimmt. Doch die politische Partei, die an der Macht ist, ignoriert das, was die Menschen gewählt haben. Fast 70 % dort haben für Europa gestimmt. Wenn jetzt Schottland in einem weiteren Referendum sich entscheidet, Großbritannien zu verlassen und in der EU zu bleiben, was würde dann passieren? Ich hatte darüber eine Diskussion mit einem der reaktionärsten Unionisten Nordirlands. Ich fragte ihn, was würde passieren, wenn Schottland geht? Was würde dann mit der Union mit dem Vereinigten Königreich passieren? Und er nahm mich zur Seite und schärfte mir flüsternd ein: "Eins darfst du nie vergessen: Wir folgen unseren schottischen Brüdern. Und zwar immer." MUSIK Autorin: Aber es wird noch komplexer bei der Frage nach der Identität oder sollte man besser sagen, noch irischer? Take47 Donal: The sense of identity from somebody from the north of Ireland 3.Sprecher: Deine Identität veränderte sich in dem Moment wo du nach England rübergingst. Es war dabei völlig egal ob du aus der Republik oder aus Nordirland kamst. Ab dem Moment warst du Paddy. Autorin: Die bis heute in England benutzte diskriminierende Bezeichnung für Ire. Take47 3.Sprecher: Es war interessant, Leute aus Nordirland in England zu treffen und zu hören wie sie darauf bestanden, dass sie Briten seien und man lachte sie aus und sagte, nein ihr seid Paddys. Ein Dilemma. Autorin Clare Dwyer Hogg Take 48 Clare: whatever your identity, irish or british Egal, ob du hier nun deine Identität als Brite oder als Ire definierst, immer hast du das Gefühl, nicht "legitim" zu sein. Nicht dazuzugehören. Autorin: (im Take) Das verstehe ich nicht. 1.Sprecherin: Ich komme aus dem Norden von Irland, also werde ich als britisch angesehen. Meine Regierung ist britisch, aber wenn du dich hier im Norden als britisch begreifst, weißt du, dass gleichzeitig viele Menschen sich hier historisch betrachtet in einer anderen, nicht legitimen Position befinden. Westminster, also die Regierung, hält dich nicht für britisch. Das mögen sie zwar sagen, aber man hat hier nicht das Gefühl wirklich Teil des Vereinigten Königreichs zu sein. Viele meiner Freunde, die sich hier immer als britisch definiert haben, merkten sofort, als sie nach England zogen, dass man sie dort ausschließlich als Iren betrachtete. Dass sie nicht dazugehörten. Immer machte sich ein Gefühl der nicht Rechtmäßigkeit in uns breit. Das genau ist das Erbe des Empire. Wir sind seine Kinder. Take 49 Donal: They still want the old empire up there! 3.Sprecher: Sie wollen das alte Empire immer noch da oben! Das heißt, die Politiker wollen das. Als wir damals vom Norden in den Süden zogen, sagte der Lehrer über mich vor allen Kindern: Dieser arme Junge kommt aus dem Norden Irlands, dem schwarzen Norden. Schaut ihn euch an, was sie mit denen da machen. Er kann kein Wort irisch. Man behandelte uns wie Abschaum damals in den fünfziger Jahren. Und wenn wir unsere Verwandten im Norden besuchten, war ich das Kind aus dem düsteren Süden. Take50 John: Our country has been destroyed by Britain. Autorin Der Schriftsteller John Banville 4.Sprecher: Unser Land wurde durch Britannien zerstört. Unsere Sprache wurde unterdrückt und die Teilung war eine Katastrophe für die Republik und Nordirland. Wenn man ein Irland aus allen 32 Grafschaften behalten hätte, dann wäre es sehr wohl zu Spannungen und Kämpfen gekommen, aber vereinigt und zusammen hätten wir unser protestantisches wie katholisches Erbe miteinander geteilt und von beidem profitieren können. Jede der beiden Traditionen hätte die andere im Zaum gehalten. Es hätte keinen katholischen Süden und keinen protestantischen Norden gegeben, sondern eine Mischung aus beidem. Dafür ist es jetzt leider zu spät. Autorin: Die Zukunft der Grünen Insel nach Brexit. Oder: ergibt 26 plus 6 eins oder keins? Obwohl das Karfreitagsabkommen von 1998 die Möglichkeit einer Wiedervereinigung beider Teile Irlands auf der Basis eines Referendums einräumt, war das vor 2016 auf der Grünen Insel außer in eingefleischten republikanischen Kreisen in Nord wie Süd kein Thema. Der Brexit und damit die Bedrohung einer neuen, alten "harten Grenze" zwischen dem Teil Irlands der noch in der EU war und dem Teil der sie verlassen würde, veränderte das. Take 52 Glenn: It should have been apparent before 2.Sprecher: Das wurde vor der Abstimmung zum Brexit überhaupt nicht thematisiert, dass diese Grenze auf der Insel Irland ein Problem darstellen würde. Niemand dachte ernsthaft, dass es zum Brexit käme. Die DUP, die den Brexit unterstützte, dachte das auch nicht. Niemand war darauf vorbereitet. Autorin: Donal Gallagher und seine Frau Cecilia hatten vor dem Brexit für sich entschieden, dass falls das völlig Unerwartete eintreten würde, sie nach fast 50 Jahren in London nach Irland zurückkehren würden. Das taten sie vor zwei Jahren, genau zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus Europa. Take 54 Donal: Bad news for everyone. 3.Sprecher: Das war für uns alle ein Schock. Seitdem könnte man meinen, die wichtigste, völlig unbeabsichtigte Konsequenz aus dem Brexit wäre die irische Wiedervereinigung. Zumindest sehen das einige so. Aber man sollte sich nicht täuschen, denn es ist ein fragiler Frieden. Es wird viel über dieses Referendum geredet, aber das klappt nur, wenn die Menschen untereinander harmonisieren. Und ich glaube wirklich, was man den Menschen in Nordirland in Aussicht stellen muss, ist nicht ein vereinigtes Irland, sondern ein vereinigtes Europa an dem sie teilhaben können. Ich habe fast mein ganzes Leben in London gelebt und meine vier Kinder sind dort geboren und aufgewachsen. Ich kann nicht sagen, oh, die Briten sind so und so und ich bin Ire. Nicht noch mehr Krieg! Kinder und ihre Zukunft, das zählt! Take 53: Abby: After Brexit people were angry and pissed off. 2.Sprecherin: Nach dem Brexit waren die Menschen hier in Nordirland unglaublich wütend und sauer. Sie hatten das Gefühl machtlos zu sein, nichts bestimmen zu können hier in Nordirland. Das hat uns der Brexit gerade wieder mal vorgeführt. Was sollten wir denn anderes tun als Westminster zu gehorchen? Die Menschen sind immer noch wütend und verwirrt. Die allgemeine Stimmung hier, bei fast allen Menschen die ich hier kenne ist, dass eine Wiedervereinigung unter den gegebenen Umständen unvermeidlich ist. Das halte ich auch für das Wahrscheinlichste. Take 54: John: It wont happen for two generations 4.Sprecher: Das wird nicht passieren. Noch lange nicht. Es existiert hier ein Graben der Verbitterung, die völlig verständlich ist. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor kurzem gab es in Nordirland eine öffentliche Veranstaltung mit Politikern aus beiden Teilen und es ging um die Wiedervereinigung. Da stand eine Frau auf und sagte: "Ich will mit denen keine Wiedervereinigung. Dieser Mann, der dort drüben sitzt, der hat meinen Sohn ermordet." Take 56 Stephen: Not once have they apologized 1.Sprecher: Nicht einmal haben sie sich bei den Katholiken entschuldigt für das was sie ihnen angetan haben. Man hat sie hierhergeholt damit sie die Iren vernichten, die irische Kultur zerstören. Alles im Norden ist politisch und das hat sich nicht geändert. Die Unionisten können es gar nicht erwarten, die Grenze wieder zu haben. Autorin: (im Take) Aber die Menschen wollen das nicht. 1.Sprecher: Aber wer fragt schon die Menschen, ob sie das bekommen was sie wollen? Autorin: (im Take) Sind Sie gar nicht optimistisch? 1.Sprecher: Nein und es ärgert mich, dass Sie so optimistisch sind. Natürlich sollte auf dieser kleinen Insel keine Grenze sein! Ich bin hier mit dieser Grenze aufgewachsen! Soldaten haben mich als Kind angehalten und durchsucht. Damit haben die Menschen hier so lange leben müssen! Und die Erinnerungen verschwinden nicht, nur weil die Briten es so wollen! Hier gab es den Bloody Sunday! Warum zum Teufel geben sie das nicht zu? MUSIK Take 57 Glenn: Will the six counties go into the 26 of the republic? 2.Sprecher: Werden die sechs Grafschaften Nordirlands zu den sechsundzwanzig der Republik stoßen? Und eins sein? Was mich interessierte war, wie vorbereitet wäre denn der Süden, also die Republik auf eine solche Widervereinigung? Ich habe dort mal nachgefragt: Seid ihr vorbereitet? Was würdet ihr bei euch oder an euch deswegen ändern? Vieles hat sich ja hier oben in Nordirland verändert. Wie wir mit Fahnen und anderen Abzeichen umgehen, wie wir über unsere Identität sprechen. Und es liegt nahe, dass der Süden auch etwas verändern muss, damit man einer Million Nordiren etwas zu bieten hat, die sich bisher in erster Linie für Briten hielten. Autorin: (im Take) Und welche Antworten haben Sie erhalten? 2.Sprecher: Warum sollten wir uns denn bitte ändern? Die Republik hat sich doch schon so stark verändert. Wir sind doch heute viel liberaler und diverser aufgestellt als der Norden. Der düstere Norden. Aber ich muss mich doch wiederfinden können? Wo bin denn ich in dieser Flagge? Was reflektiert nach einer Wiedervereinigung meine Identität? Klingelt da bei den deutschen Hörern vielleicht etwas? MUSIK Donal Gallagher, Bruder der Rocklegende Rory Gallagher. Take 58 Donal: I want to see a united Europe 3.Sprecher: Ich will ein vereintes Europa sehen. Ein vereinigtes Irland wird immer Narben tragen, egal welche Flagge im Wind weht, auch wenn die Fahne kariert ist. Man kann keine Fahnen essen, wenn Bomben auf dich fallen und deine Familie verhungert. Autorin: Discjockey, Tätowierungskünstlerin und Weltbürgerin Gabrielle Coyne Take 60: we have talked about it 4.Sprecherin: Klar haben wir im Freundeskreis auch über die Möglichkeit einer Wiedervereinigung Irlands geredet, aber ehrlich gesagt, ist das jetzt nicht so dringend. Autorin: Abby Oliveira, Dichterin und Performerin Take 61 Abby: My instinct is to say 2.Sprecherin: Das Problem ist, dass die Diskussion über Identität so stark mit politischem Nationalismus verknüpft ist. In all unseren nationalen Identitäten gibt es so viel was man feiern und teilen kann. Was passiert denn in einer globalisierten Welt, wenn das wegfällt? Eine homogene Kultur? Ich bin eine "Sonstige" aber das heißt doch nicht, dass ich nicht Teil von etwas bin. Autorin: Schauspieler Stephen Rea. Take 63 Stephen: My identity, my identity? 1.Sprecher: (mit zwei verstellten Stimmen) Meine Identität, meine Identität? Ihr habt den anderen ihre Identität genommen! Gebt wenigstens zu, dass ihr einen Fehler gemacht habt! Auch wenn es nicht perfekt ist, aber ich fühle mich als Europäer. Autorin: Schriftsteller John Banville. Take 64: John: I think it is best to keep the border. 4.Sprecher: Ich glaube, wir sollten die Grenze vorerst behalten und sie vor sich hinwelken lassen. Dann wird niemand kommen und sagen: lass uns wieder eins sein. Denn das bedeutet Gewalt, ein weiterer Bürgerkrieg. Die Grenze ist noch da! Das hält die Fanatiker bei Laune. Die Loyalisten können sagen: die Grenze bleibt und Ulster gibt es noch. Und Sinn Fein, die Nationalisten, haben immer noch etwas für das sie kämpfen können, die irische Einheit. Und niemand nimmt weiter Notiz von ihnen. Wunderbar! Menschen die an Gewalt glauben, sollten unwichtig werden. Wenn die Grenze unwichtig sein wird, dann haben wir die Wiedervereinigung. Absage 2. Sprecherin: 26 Plus 6 gleich 1? - Über irische Identität und die Wiedervereinigung. Ein Feature von Hannelore Hippe Es sprachen: Kerstin Fischer, Frauke Poolman, Lisa Bihl, Justine Hauer, Tom Jacobs, Axel Gottschick, Josef Tratnik, Wolf Aniol und die Autorin Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Oliver Dannert Regie Hannelore Hippe Redaktion Wolfgang Schiller Take 66 Donal: We are talking about a Star Treck Theory 3.Sprecher: Es gibt da eine Star Treck Episode. Die spielt weit in der Zukunft. Planeten die einander bekämpfen. Dr. Spock macht einen Vorschlag, wie die schwierige Situation gelöst werden könne und zitiert den Fall Irlands als Blaupause. Da habe man nach achthundert Jahren intensiver Kämpfe endlich zur Wiedervereinigung und Frieden gefunden. Das war im Jahre 2024. Ich halte diese Aussage für so gut wie jede andere politische Vorhersage zum Thema. Abspann Eine Sendung des Deutschlandfunks mit dem Westdeutschen Rundfunk 2022. 4