Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Überleben nach dem Bürgerkrieg Libyens junge Generation sucht den Frieden Autorin: Bettina Rühl Regie: Matthias Kapohl Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk/WDR 2022 Erstsendung: Dienstag, 11.01.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Helene Grass, Lisa Bihl, Judith Jakob, Daniel Werner, Bruno Winzen und Jonas Baeck Ton und Technik: Gunther Rose und Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Erzählerin: Einige junge Männer sitzen in einem Hinterhof auf dem nackten Asphaltboden, zwischen sich ein Handy. Darauf spielen sie "Ludo", auf Deutsch "Mensch ärgere Dich nicht". Sie spielen das Nacht für Nacht, viele Stunden lang. In der Ecke stehen drei Krankenwagen. OT Asaad Jafer This yard was full of ambulances during the war...he can show you pictures right now. Sprecher 01: Während des Krieges war der Hof voller Krankenwagen. Aeneas kann Dir Fotos zeigen. Erzählerin: Die Männer arbeiten ehrenamtlich für den libyschen Roten Halbmond. Sieben von ihnen sind sich besonders nah, sie nennen sich "Seven Up", wie die Limonade. Asaad Jafar stellt seine Freunde vor. OT Asaad Jafer This one is Serraji, the one who can smell the blood. Sprecher 01 Das hier ist Serraji, der kann Blut riechen. OT Asaad Jafar Absi, the casanova, he is part of the seven up. Mohamed Imam, the Lion, he is part of the seven up, Aeneas is part of the seven up, ... and his name, Comersa, and the other one Karim. And me. Sprecher 01: Absi, unser Casanova, Mohamed Imam, der Löwe. Aeneas, Comersa, Karim. Und ich. Asaad: Now he asks me: Why do you call me the lion? Autorin: So why do you call him "the Lion"? OT Asaad Because of, every time we go, like, in evacuation or something like that, he's a man, like, he walks like a lion in the field. He walks like his head always forward, and looking up while if we were in evacuation, for our safety, we always, like, going with our heads down because of the bullets of any explosions. And once, we were in Ain Zara, we were, like, evacuating Egyptian workers, we had an airstrike next to us. Everyone went underground, except him. He was, like working as nothing happened. Sprecher 01: Weil er immer furchtlos wie ein Löwe voraus geht, wenn wir Menschen evakuieren müssen. Erhobenen Hauptes, während wir anderen uns ducken, um Kugeln oder Detonationen auszuweichen. Einmal waren wir in Ain Zara im Süden von Tripolis, wir wollten ägyptische Arbeiter evakuieren, direkt neben uns schlug eine Rakete ein. Alle gingen in Deckung - nur er nicht. Er arbeitete weiter, als wäre nichts passiert. OT Autorin What is important for you? How would you like to present yourself? Erzählerin Was ist Dir wichtig, was würdest Du gerne über Dich selbst sagen? OT Asaad Jafar I would like to present myself as a youth, Libyan man, 32 years old, with 100 years experience, and pain, and moving on ahead in experience that not all the youth of people could have. From here, I am Assad, my name in Arabic, which is mean in Arabic the most happiest man, and I couldn't show that. Sprecher 01: Ich bin ein junger Libyer, 32 Jahre alt, mit 100 Jahren an Erfahrung und Leid. Erfahrungen, die viele junge Menschen nicht kennen. Außerdem: Ich heiße Asaad, was auf Arabisch bedeutet: der glücklichste Mensch. Aber bis jetzt konnte ich dem nicht gerecht werden. Sprecher Ansage: Überleben nach dem Bürgerkrieg. Libyens junge Generation sucht den Frieden. Ein Feature von Bettina Rühl. Erzählerin: Wir gehen durch Tripolis, Asaad Jafar und ich. Mir fallen die vielen Milizionäre auf, die mit ihren massiven Pickups überall positioniert sind: schwer bewaffnet, in blauen, schwarzen oder militärischen Uniformen, manche mit Sturmhauben über dem Gesicht. Sie beherrschen Straßen, Kreuzungen und Plätze. OT Asaad Jafar Here in Tripoli, you're always looking for protection. So, if you are not with a big group, you'll be smashed. Sprecher 01: Hier in Tripolis sucht man immer nach Schutz. Wenn Du nicht zu einer größeren Gruppe gehörst, wirst Du zertreten. Erzählerin: Asaad habe ich vor zwei Jahren kennen gelernt, bei einer Recherche in Libyen. Damals wurde gerade um Tripolis gekämpft, Asaad war Sprecher des libyschen Roten Halbmonds. Außerdem leitete er eine Notunterkunft für gestrandete Migranten, barg die Verwundeten und Toten, evakuierte Zivilisten aus den umkämpften Gebieten. Nach meiner Abreise blieben wir in Kontakt. Manchmal sprachen wir über Asaads Erfahrungen während der Revolution gegen Muammar al-Gaddafi, Asaad hatte sich 2011 am Aufstand beteiligt. Einmal fragte ich ihn, was Libyen am dringendsten braucht. "Wir sind alle traumatisiert", sagte er. "Wir brauchen alle psychische Unterstützung". Erzählerin: Ich bin wiedergekommen, um mehr über Asaad und seine Generation zu erfahren: Was ist aus den revolutionären Träumen der Aufständischen geworden? Wie gehen diejenigen miteinander um, die einander während der Revolution bekämpften? Sind sie zur Versöhnung bereit? Wo steht die libysche Gesellschaft mehr als zehn Jahre nach Gaddafis Sturz? Erzählerin: Wir gehen zu Asaad nach Hause. Es ist Freitag, der wöchentliche muslimische Feiertag. Das Mehrfamilienhaus steht im Zentrum von Tripolis, fünf Stockwerke hoch. Ein älterer Bau, die Stufen ausgetreten. Asaad wohnt ganz oben, zusammen mit seinen Eltern und den meisten seiner Geschwister. OT Asaad Jafar I got a lot of times that I went, I have my own home. In Tunis, I worked for 2 years maybe, I had my own property. I live in Misrata from my own. I lived here even in Tripoli for my own. I have my own apartment in Tajura once. And after that, I just sold it out because I didn't use it. I actually got 4 brothers, their ages are under me, and I have to take care of them, because, life in Tripoli for youth people is so much dangerous. Like, if they are making the problems, I am the one who is responsible. I am the one who is going to fix it. So, whenever I go outside of home, I got phone calls to solve problems. So, I decided it is better to stay there, to handle it, to control it. Sprecher 01: Ich bin schon ein paar Mal ausgezogen, aber immer zurückgekommen. Zwei Jahre lang habe ich in Tunis gearbeitet und dort gewohnt, dann in Misrata, auch in Tripolis hatte ich schon eine eigene Wohnung, aber die habe ich wieder aufgegeben, weil ich sie sowieso nicht genutzt habe. Ich muss mich um meine jüngeren Geschwister kümmern, für junge Menschen ist das Leben in Tripolis ziemlich gefährlich. Ich habe vier jüngere Brüder, wenn sie Probleme machen, bin ich der derjenige, der zur Polizei oder zur Miliz gehen und sie raushauen muss. Wenn ich ausgezogen war, bekam ich jedes Mal ständig Anrufe und musste irgendwas regeln. Es ist einfacher, wenn ich gleich ganz zu Hause bleibe. OT Asaad Jafar And actually, being there in my parents' home, it's helping me, kind of, like to protect my mum. And, what I'm afraid about is my young sisters, because, like, I'm trying to educate my father and my mother, like, those girls needs to have a good life, and happy life. And I don't want my sisters to get used that this is the marriage life, because, like, they are still too young. And, I'm there just to make it, the things stable. Sprecher 01: Und ehrlich gesagt ist es dann auch leichter, meine Mutter vor meinem Vater zu schützen. Außerdem sorge ich mich um meine jüngeren Schwestern. Ich sage meiner Mutter und meinem Vater immer wieder, dass diese Mädchen ein gutes und glückliches Leben verdient haben. Ich möchte nicht, dass sie jetzt schon verheiratet werden, sie sind noch zu jung. Ich bleibe zu Hause, um Stabilität in die Familie zu bringen. Erzählerin: Eslam, sein ältester Bruder, ist mittlerweile verheiratet, hat eine eigene Familie. Auch zwei seiner Schwestern sind schon aus dem Haus. Asaad ist immer noch Single. Er kleidet sich jugendlich, trägt meist Jeans, scheint aber immer auf die passenden Farben zu achten. Sein Blick ist warmherzig und intensiv, oft mit einer Spur Traurigkeit. OT Asaad Jafar Here in Libya, in traditional, if you get above 30 and you didn't marry, they say it's kind of shame. But, it's choice. It's not something that I couldn't do it. It's something that I decided not to do it yet. Because, I believe now, my life is not stable. I got a lot of pains, I got a lot of distractions in my life, I got a lot not comfortable behaviors that I'm still doing. So, I'm not getting myself to struggle with family, or with wife till I feel that I'm a stable man, I have no bad behaviors in my life, I can concentrate on making a good family. Sprecher 01: Wenn Du in Libyen die 30 überschritten hast und noch nicht verheiratet bist, gilt das als eine Art Schande. Trotzdem habe ich mich bewusst dafür entschieden, noch alleine zu bleiben, Möglichkeiten für eine Ehe hätte ich gehabt. Aber mein Leben ist nicht stabil genug. Ich habe viel erlitten, und manchmal verhalte ich mich nicht gut. Ich möchte keine Frau und keine Familie, bevor ich nicht stabil bin und mich nicht mehr seltsam benehme. Erzählerin: Der geräumige Flur dient als Wohnzimmer, entlang der Wände liegen Matratzen, sie werden als Sofas genutzt. Auch eine von Asaads älteren Schwestern ist mit ihrer Familie zu Besuch, die Frauen sind bei der Mutter in der Küche. Asaads jüngerer Bruder Mohamed sitzt auf einer der Matratzen im Wohnzimmer, vor sich das Tablett mit seinem Essen, es gibt Couscous mit Gemüse und Fleisch. Asaads Bruder Mohamed ist 21, vor ein paar Tagen hat er seine Ausbildung an der Polizeiakademie abgeschlossen. Sein künftiger Platz: eine Miliz, die offiziell dem Innenministerium untersteht, aber unabhängig operiert: die "Rada Special Deterrence Forces". Die Miliz besteht aus regulären Polizisten, die teils noch aus Gaddafis Zeiten stammen, und aus streng islamistischen Milizionären. Gegründet wurde sie 2011, während der Revolution unterstützte sie die Aufständischen gegen Gaddafi. Amnesty International wirft der Spezialtruppe schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Sie geht gegen Kriminalität aller Art vor, darunter Kidnapping und Drogenschmuggel. Ihre Markenzeichen: streng islamistische Prinzipien und ein hartes Vorgehen gegen vermeintlich unmoralisches Verhalten. Äußerlich scheint Mohamed nicht zu der Spezialeinheit zu passen: Er ist schlacksig und eher scheu, trägt eine Jeans mit tiefhängendem Hosenboden. Asaads Frage nach seinem künftigen Job quittiert er mit einem verlegenen Grinsen, dann bringt er sein Tablett in die Küche. Auch Asaads ältester Bruder Eslam ist Mitglied einer Miliz, die offiziell dem Innenministerium untersteht. Als wir später unter uns sind, wird Asaad dazu sagen: OT Assad Jafar The younger brother, the oldest one are getting used to those militias. I'm always in conflict in my own home because, like, I know even that if you don't do that much bad thing with the RADA militia or, and the Alnwasi militia, so you still have the same guiltiness that they are doing. They are doing it because they have the most number of people. Sprecher 01: Für meinen jüngeren und meinen ältesten Bruder sind diese Milizen inzwischen völlig normal. Deshalb streite ich mich zu Hause ständig mit ihnen herum. Auch wenn sie selber nicht viel Schlimmes tun, sind sie trotzdem für die üblen Taten der Rada- oder Alnwasi-Miliz mitverantwortlich. Sie machen da mit, weil das die größten und mächtigsten sind. AT Auszug Nachrichten 2011... Beginn Revolution am 17. Februar 2011 Erzählerin: Seit elf Jahren bestimmen Waffen und Milizionäre das Leben in Libyen. 2011 begann der Aufstand gegen Langzeitherrscher und Diktator Muammar al-Gaddafi. Nach monatelangen Kämpfen wurde Gaddafi gestürzt - nicht zuletzt, weil die NATO mit Kampfflugzeugen eingegriffen und die Revolutionäre unterstützt hatte. AT Collage mit Meldung zum Sturz Gaddafis Nachrichten vom 10. März 2011: Frankreich erkennt Nationalen Übergangsrat an. 20. Oktober 2011: Gaddafi wird gefasst und getötet Erzählerin: Seitdem wird um Libyens Reichtum gekämpft. Das Land verfügt über Erdgas und die größten Erdölvorkommen Afrikas, bei einer Bevölkerung von nur sieben Millionen Menschen. In keinem Land des Kontinents war vor dem Krieg das Pro-Kopf-Einkommen höher. Seit dem Sturz Gaddafis hatte Libyen zwei, zwischenzeitlich drei Regierungen. Milizionäre, Kriminelle, islamistische Extremisten, ausländische Söldner, regionale Großmächte und Europa kämpften um Einfluss, Geld und Macht. Ende 2020 gab es plötzlich doch etwas Hoffnung auf Frieden, dank des zähen Drängens der Vereinten Nationen. AT Nachrichten: Vom 5. Februar 2021: Neue Einheitsregierung für Libyen gewählt Erzählerin: Erst im Oktober 2020 einigten sich die beiden verfeindeten Lager auf einen Waffenstillstand. Eine Übergangsregierung wurde eingesetzt, die das Land in Wahlen führen soll. Der ursprünglich für den 24. Dezember 2021 angesetzte Termin wurde kurzfristig verschoben, zunächst auf unbestimmte Zeit. Erzählerin: Die Wohnungstür geht noch einmal auf, Asaads Nichte stürmt herein, sein ältester Bruder Eslam und dessen Frau folgen. Eslam war schon zu Gaddafis Zeiten bei der Polizei. OT Asaad Jafar I was, like, kidding on and saying, "Eslam, when did you join the revolution?" And he said, like, "You can tell her that I'm not a pro-revolution." Sprecher 01: Ich habe ihn gerade - nicht ganz im Ernst - gefragt: "Eslam, wann schließt Du Dich endlich der Revolution an?" Und er: "Du kannst ihr ruhig erzählen, dass ich nicht für die Revolution war." OT Asaad / Eslam 0:45 He's pro-Gaddafi. OT Eslam Jafar Because I know the revolution guys doesn't have a lot of technique to control of all the Libya. Sprecher 02: Weil mir klar war, dass die Revolutionäre nicht in der Lage sein würden, ganz Libyen zu kontrollieren. OT Autorin / Asaad / Eslam 0:59 So, you were against your brother? Erzählerin: Also waren Sie gegen Ihren Bruder? OT Asaad Jafar No, we're not against each other. Sprecher 01: Nein, wir waren nicht gegeneinander. OT Eslam Jafar Yeah. And I talked to him... Sprecher 02: Ja, und ich habe ihm geraten... OT Asaad Jafar He told me not, like, not to join the revolution. But had some, like, hard discussions before. Sprecher 01: ... dass ich mich der Revolution nicht anschließen sollte. Wir hatten einige harte Diskussionen. Assad Stupid. Eslam: I told to him before that if you need to joining in this revolution, you should go out of Libya from Tunis, Tunisia, and join with the mount, enter Libya... Autorin: Mountain. Eslam: Yeah. Assad: He was, like, arguing with me. "If you want to join the revolution, don't do anything here in Tripoli. You have to escape the country, flee it, and then maybe you can go from the mountains with the fighters." Erzählerin "Was für ein Idiot", habe er gedacht, als sein Bruder tatsächlich anfing, gegen Gaddafi zu agieren, sagt Eslam. Asaad lacht jetzt, Eslam spricht weiter: Er habe seinem Bruder geraten, aus Libyen zu fliehen, falls er sich unbedingt am Aufstand gegen Gaddafi beteiligen wolle. Er solle sich jenseits der Grenze anderen Rebellen anschließen und von Tunesien aus über die Berge nach Tripolis zurückmarschieren. OT Asaad Jafar I felt fear in the first Gaddafi statement in 2011, when he said, "We can follow everyone who went to the streets and smash them." Sprecher 01: Ich hatte zum ersten Mal wirklich Angst, als Gaddafi 2011 seine erste Rede nach dem Beginn des Aufstands hielt. Er sagte: "Wir werden jeden, der auf die Straße geht, aufspüren und vernichten." OT Muammar al- Gaddafi Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=69wBG6ULNzQ Sprecher 03: Wir werden zu Tausenden marschieren, um Libyen zu reinigen: Zentimeter für Zentimeter, Haus für Haus, Wohnung für Wohnung, Straße für Straße, Mensch für Mensch. Bis das Land frei ist von allem Schmutz und allen Unreinheiten. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir Libyen ohne Grund verlieren. OT Assad Jafar So, I just feel so much fear, because, like, the day before it, I was protesting in the street, and my faced was showing off. So, I just feel so much fear. But after that, when I saw the television, I saw a lot of Libyan has been died in Benghazi, in Derna, I saw, like, I thought, like, my life is priceless. So, I'm just going to be another number, and I won't live in a country that ruled by someone like Gaddafi. So, I started to contact people that I trust them, and I started to share information with the international community. I sent a lot emails. Sprecher 01: Ich war voller Panik, weil ich noch am Tag davor demonstriert hatte, und jeder hatte mein Gesicht erkennen können. Dann sah ich im Fernsehen, wie viele Menschen in Benghazi und Derna gestorben waren, und mir wurde klar, dass mein Leben für dieses Regime keinerlei Wert hat. Ich wäre einfach nur einer mehr. Ich wusste, dass ich nicht in einem Land leben möchte, dass von jemandem wie Gaddafi regiert wird. Ich fing an, Menschen zu kontaktieren, denen ich vertraute, und Informationen mit der Internationalen Gemeinschaft zu teilen. Ich habe etliche Mails verschickt. Erzählerin: Das Internet war in vielen Landesteilen unterbrochen worden, doch Asaad schaffte es, sich durch einen Trick als Unterstützer Gaddafis auszugeben und Zugang zum staatlichen Fernsehsender zu bekommen. Dort funktionierte das Internet noch. Asaad nutzte eine gesicherte VPN-Verbindung und schickte Fotos von Demonstrationen, Namen und Zahlen von Toten, verriet Waffenlager des Gaddafi Regimes und informierte über alles, was er selbst in Erfahrung brachte. Aber er hatte das Regime unterschätzt. OT Assad Jafar I didn't say (know) they had a French system that France delivered to Gaddafi to... Sprecher 01: Ich wusste nicht, dass sie ein System haben, das französische Firmen an Gaddafi geliefert haben um... Autorin: Supervise. Assad: Not supervise. It's much like perfect Keylogger. You know Keylogger? Everything that you type in your computer, they have it as screenshot. So, they have this system from France, so they can trick everyone using the internet in Libya. They has captured me, after, like, 21 days of tracking me. Sprecher 01: Nein, nicht zu überwachen. Es ist so etwas wie ein perfekter Keylogger. Weißt Du was ein Keylogger ist? Alles, was du in deinen Computer tippst, bekommen sie als Bildschirmfoto. Damit konnten sie jeden, der in Libyen das Internet benutzt, verfolgen. Sie haben mich verhaftet, nachdem sie mich 21 Tage lang beobachtet hatten. OT Eslam Jafar Sprecher 02: Als Asaad nicht nach Hause kam, habe ich Kollegen gefragt, wo er ist. Sie sagten mir, dass er verhaftet wurde. OT Asaad Jafar They took me to the intelligence basement, located in Tripoli in a place called Adhrebi [SP]. So, here the party starts. That day I slept in the intelligence location, 3 days. And, it was like hell there because they were beating me in their investigation. Everywhere. Everywhere. Everywhere. They're beating everywhere, especially, like, between your legs, in your eyes here, in my nose. If you notice that my nose has a little, like, to the left or right. It was broken, like, a lot of times, not just one time. Sprecher 01: Sie brachten mich zum Sitz des Geheimdienstes in Tripolis, dort verhörten sie mich drei Tage lang im Keller. Da ging die Party richtig los. Sie fingen an mich zu schlagen und zu treten, wahllos am ganzen Körper. Es war die Hölle. Sie schlugen mich immer wieder, überall hin. Vor allem zwischen die Beine, auf die Augen, die Nase. Siehst Du, dass meine Nase nicht mehr gerade ist? Sie war nicht nur einmal gebrochen. OT Asaad Jafar And after that, I met with my brother. My brother was working in, we call it ANGA, Anti-Drug National Police. So, he got a chance to talk with me for, like, 10 minutes. Sprecher 01: Nach einer Woche kam mein Bruder. Er arbeitete für Gaddafis Anti-Drogen-Polizei. Weil er Polizist war, konnte er mich für etwa zehn Minuten im Gefängnis besuchen. OT Eslam Jafar Sprecher 02: Ich fand es so bitter, dass ich meinen Bruder nicht hatte schützen können. Obwohl ich bei der Polizei war, konnte ich nichts für ihn tun. OT Autorin Did that change your perception of the old regime? Erzählerin: Hat das Ihren Blick auf das Gaddafi-Regime verändert? OT Eslam Jafar Sprecher 02: Ich kannte das Regime schon vorher gut, weil ich ja dafür gearbeitet hatte. Ich wusste, wie kriminell es ist. Ich habe nie behauptet, dass es gut war. Es war schlecht. Aber unter lauter Kriminellen waren das noch die besten. Erzählerin: Nach den ersten Tagen in der Geheimdienstzentrale wurde Asaad in das Gefängnis von Ain Zara im Süden der Hauptstadt gebracht. Es gab kaum etwas zu Essen, das wenige Wasser war fast ungenießbar, waschen konnten sich die Gefangenen nicht. Ihre dicht belegten Zellen durften sie nur für die Verhöre verlassen. Obwohl jedes Verhör mit dem Tod enden konnte, sei er jedes Mal auch froh gewesen, wenn er abgeholt wurde: Es zeigte, dass er noch nicht vergessen war. An den Wänden seiner Zelle hatte er die Inschriften früherer Gefangener gesehen, sie waren über Jahre weggeschlossen geblieben, ihre Peiniger hatten das Interesse an ihnen verloren. Erzählerin: Ich frage ihn, an welchen Geruch er sich im Gefängnis erinnert. OT Asaad Jafar After spending 2 or 3 weeks without taking a shower, you forget what smell it is, and you become a dirty, you get used to your dirty perfume. The smell that just stuck in my nose, that is the smell of the man who has passed away, because, like, it was very bad smell because of the injury and the blood. It just got stuck in my nose. I memorize that smell after I joined the Libya Red Crescent. I know what is the smell of blood. Sprecher 01: Nachdem Du zwei oder drei Wochen nicht mehr geduscht hast, vergisst Du, was Geruch ist. Du bist so dreckig, dass Du es nicht mehr riechst. Aber bis heute habe ich den Geruch des Mannes in der Nase, der in meiner Zelle starb. Seine Wunden und das Blut rochen furchtbar. Nachdem ich angefangen habe, für den libyschen Roten Halbmond zu arbeiten, erkannte ich ihn wieder: den Geruch von Blut. Erzählerin: Tausende jubeln in den Straßen von Tripolis: Am 22. August 2011 haben die Aufständischen ´ die libysche Hauptstadt eingenommen. Die Rebellen öffnen die Gefängnisse, Asaad kommt nach dreieinhalb Monaten frei. OT Asaad Jafar The funny thing that my cousins came to the prison, like, next to the mosque, and I was standing, and they were asking for my name. And, they didn't recognize me. I was like, "How the hell he did not recognize me?" And after that, I look at myself in the mirror. I didn't even recognize myself. I was like, so skinny, very white, because we don't have that much sunshine there, and very big beard, very big hair. Sprecher 01: Das lustige war, dass mir meine Cousins entgegenkamen, sie suchten mich und fragten nach mir. Sie erkannten mich nicht. Ich dachte: "Wie zum Teufel ist das möglich?" Später guckte ich in den Spiegel und erkannte mich selbst nicht. Ich war sehr dünn, sehr weiß, weil wir kaum Sonnenlicht abbekommen hatten, hatte einen langen Bart und sehr lange Haare. Erzählerin: Asaads Mutter Fathia war ihrem Sohn entgegengerannt. OT Fathia Sprecherin 01: Er war nicht mehr er selbst. Er war sehr mager. Psychisch zerstört. OT Autorin How did you realize this? OT Fathia Sprecherin 01: Er war sehr schreckhaft, ständig angespannt. Man sah, dass er voller Angst war. OT Asaad Even when they opened the door while I am sleeping, I was standing up, shocking, and the stress was very clear in my actions and behaviors, and I was really afraid. Because, the first time I went out from jail, I had dreams, and sometimes I didn't want to sleep because I had dreams about people still torturing me, or, it is a dream that I get out from home. So, they didn't believe that I'm out, I'm free. Sprecher 01: Wenn sie nur die Tür zu meinem Zimmer aufgemacht haben während ich schlief stand ich senkrecht im Bett, voller Angst. Mein ganzes Benehmen war so, immer voller Angst. Weil ich in der ersten Zeit nach meiner Befreiung viel geträumt habe. Es war so schlimm, dass ich manchmal gar nicht schlafen wollte, weil ich geträumt habe, dass sie mich immer noch foltern. Manchmal habe ich geträumt, dass ich nur träume, wieder zu Hause und frei zu sein. OT Fathia Sprecherin 01: Ich habe Gott gedankt, dass er noch am Leben ist. Erst nach zwei oder drei Tagen habe ich wirklich begriffen, dass mein Sohn wirklich nicht mehr im Gefängnis ist. Erzählerin: Asaad ging zum ersten Mal wieder duschen, blieb zwei Stunden lang unter dem Wasserstrahl. Das Shampoo roch nach Erdbeeren, immer wieder probierte er einen kleinen Schluck, obwohl es nur Shampoo war. Weil gerade Ramadan war, fastete er und blieb drei Tage lang im Bett, körperlich ohnehin geschwächt. Wenn er aufstand, wurde ihm schwindelig, manchmal fiel er hin. Nach drei Tagen stand er auf. OT Asaad Jafar I take my AK-47, and I had a choice about going to the house of the man who put me in the jail. It was, like, in the middle of Tripoli. I went to his home, and I found him, like, taking his luggage and stuff like this, and trying to flee the area. So, I saw him with his children and stuff, and just hid my Kalashnikov behind my back, and just back up. I didn't want him to see me with the Kalashnikov. And I went home. I really had a good and long conversation with myself. Like, "Are you going to kill someone? Is it for yourself, or is it for the nation?" I couldn't have the courage, like, to do something like this. Like, I didn't want to be criminal. And, I didn't believe that I'm the man that, who can pull trigger. Sprecher 01: Ich habe meine Kalaschnikow genommen und bin zu dem Mann gegangen, der mich ins Gefängnis gebracht hatte. Er wohnte mitten in Tripolis. Als ich ankam, packte er gerade ein paar Sachen zusammen, er wollte offensichtlich fliehen. Ich sah ihn inmitten seiner Kinder, des Lebens, das er sich aufgebaut hatte. Ich versteckte die Kalaschnikow hinter meinem Rücken und zog mich wieder zurück. Ich ging nach Hause und hatte eine lange Auseinandersetzung mit mir selbst: "Willst Du wirklich jemanden töten? Willst Du das für Dich tun, oder dient es der Nation?" Ich spürte, dass ich zum Töten nicht den Mut hatte. Ich wollte nicht kriminell werden, und ich sah mich nicht als jemanden, der den Abzug zieht und jemanden tötet. Erzählerin: Asaad und ich gehen wieder durch die Stadt. Er hat kein Auto, wir sind oft zu Fuß unterwegs. Viele Häuser in der Innenstadt sind heruntergekommen, manche noch vom Bürgerkrieg beschädigt. Die schickeren Vororte mit Designerläden und hippen Cafés sind eine andere Welt, zu Gaddafis Zeiten lebten dort Mitglieder seiner Familie und andere Günstlinge. Wir kommen an einem der vielen Straßencafé vorbei, die Tische draußen sind gut besetzt - aber nur von Männern. Sie trinken starken italienischen Kaffee, diskutieren und rauchen. Die Frauen eilen vorbei, keine würde sich alleine zwischen die Männer setzen, noch nicht einmal an einen der freien Tische. Libyen ist ein islamisches Land, die Gesellschaft ausgesprochen konservativ, auch im Vergleich zum benachbarten und ebenfalls islamischen Tunesien. In einem geparkten Auto warten zwei Kinder auf ihren Vater. Der Junge spielt Krieg, sein Arm ist das Gewehr, minutenlang imitiert er die Geräusche von Schüssen. Unter dem Spielzeug, das Straßenhändler zum Verkauf anbieten, sind neben Barbie-Puppen viele Waffen. Erzählerin: Als wir kurz darauf in seinem Büro sind - Asaad arbeitet unter anderem in der Grafikabteilung des libyschen Fernsehens - zeigt er mir Videos im Internet, es geht um die alltägliche Gefährdung durch Milizen. Ein Beispiel: der 16. Mai 2019, nach einem Verkehrsunfall in Tripolis eskaliert die Situation. OT Asaad Jafar There's a graphic. Look at this one. It has been just shot. They took now the voice of the footage, and they just put the Koran with it. It was a car accident. So, someone went from this car, and start to clashes... Have you seen this Kalash, Kalashnikov? Now, he's holding it, this one. Did you see the Kalashnikov? And he's pointing it against the man, and he shot him. He went down, and now this is his brother come to help him. And look what happening. He has been shot again. And he now just sit and, the body of his brother, and try to protect him. The other one went with 9 millimeters. And, they are the one now still like holding the Kalashnikov. Do you see this gun? And now, they are yelling at the people. Like, take him out and just go somewhere with him. So, when we say that even for a car accident, militia will harm you, I do mean it, like, they will harm you. Sprecher 01: Sorry, die Aufnahmen sind krass. Siehst Du den da am Boden? Auf den ist gerade geschossen worden - diejenigen, die das Video ins Netz gestellt haben, haben statt des Originaltons geistliche Musik über die Bilder gelegt. Das ist nur ein harmloser Verkehrsunfall, aber sofort springt jemand mit der Kalaschnikow aus dem Auto, zielt auf denjenigen, der ihn gerammt hat und erschießt ihn! Siehst Du, jetzt springt jemand aus dem Hintergrund ins Bild, wirft sich über den, der am Boden liegt, um ihn zu schützen. Jetzt steigt der Beifahrer aus, er hat eine neun-Millimeter-Waffe. Und siehst Du, der Fahrer hat immer noch die Kalaschnikow im Anschlag! Jetzt schreit er die Passanten an, sie sollen die Leiche wegräumen. Wenn wir also hier in Libyen sagen, dass wir nur wegen eines Verkehrsunfalls getötet werden können, dann meinen wir das genau so. Erzählerin: Nach Gaddafis Sturz hatten Aufständische und Anhänger des Regimes die übervollen Waffenarsenale des Diktators geplündert, ungezählte Milizen entstanden. Sie wurden und werden von der Zentralbank bezahlt, egal auf welcher Seite sie kämpfen - die Erdöleinnahmen erlauben eine solche Großzügigkeit. Die unterschiedslosen Zahlungen sollen die Gesellschaft befrieden und die Bevölkerung vor den Plünderungen ausgehungerter Bewaffneter schützen. Faktisch bekamen die Milizen dadurch aber immer mehr Zulauf, denn bei ihnen ließ sich Geld verdienen, während die übrige Wirtschaft unter den Kämpfen litt. Inzwischen wurden viele Milizen in Institutionen integriert, deren Namen nach Staatlichkeit klingen, wie Polizei, Armee oder Küstenwache. Faktisch sind diese so genannten Sicherheitskräfte kaum mehr als ein Flickenteppich unterschiedlicher Kampfverbände ohne zentrale Kommandostruktur. Denn der Staat ist bis heute nicht wieder auf die Beine gekommen, es gibt keine zentrale Regierung, die das ganze Land kontrolliert. Während wir über das Geländes des Fernsehsenders gehen, kommen uns Kollegen von Asaad entgehen, grüßen freundlich. Einige gehen Hand in Hand, wie in der arabischen Kultur unter Männern üblich. Das lässt Asaad an einen seiner heutigen Kollegen denken, von dem er mir schon mal erzählt hat: Er kennt ihn aus dem Gefängnis. OT Asaad Jafar He tortured me, not just me. There's a lot of people. In the prison we called him al muhash, the Monster. Like, he was like never smiles, and have a lot of keys here, his back. And, when he deals with you, I think he deals with you like, as it's personal issue. Like, he's very loyal to Gaddafi, till now. He's very loyal to Gaddafi. And after that, he come back to work in the Libyan National Channel. And after that, he came to me. He say, like " I wasn't the regime. I was part of the regime." Once, he was the head of the news media in that channel, and he came for me in the graphic office that you went to there, and he sat in the next chair that you sit. And, we started to take it like normal. Even people in all the channel, when they see me with him, they, like, say, like, "I never see, the guilty and his victim, like, going alongside with each other. Sprecher 01: Er hat mich gefoltert, und nicht nur mich, sondern viele Menschen. Im Gefängnis nannten wir ihn al Muhesh, das Monster. Er lächelte nie und trug immer jede Menge Schlüssel mit sich herum. Wenn er mich folterte, hatte ich immer den Eindruck, dass er persönlich etwas gegen mich hätte. Er war Gaddafi gegenüber absolut loyal, bis heute. Nach der Revolution arbeitete er wieder im nationalen Fernsehen. Eines Tages kam er zu mir und sagte: "Ich war nicht das Regime. Ich war Teil des Regimes." Danach war es für mich okay. Während er die Nachrichtenredaktion leitete, kam er öfter zu mir in mein Büro, wenn er eine Grafik brauchte. Er saß dann immer auf dem Stuhl neben dem, auf dem Du jetzt sitzt. Mit der Zeit gingen wir ganz normal miteinander um. Sogar viele Menschen im Sender verstehen das nicht, wenn sie ihn und mich zusammen sehen. Sie sagen: "Ich habe noch nie den Täter und sein Opfer so nebeneinander hergehen sehen." Erzählerin: Ich bitte Asaad seinen ehemaligen Folterer zu fragen, ob er mit mir reden würde. Ich biete Anonymität an. Aber Asaads ehemaliger Peiniger lehnt ab: Er schäme sich und möchte nicht bloßgestellt werden. OT Asaad Jafar We all have a dark side for our lives. Like, he shouldn't be the guilty one, like, for the rest of his life. I mean, like there is people who was good in the revolution, now are doing worst than him. I believe that he was working as a system. // This is the point that under the regime of the Gaddafi, no one can say no. And now, he's a good man. So, why should I still, like, make him looks like the guilty one? As this, as, I forgive him from my side. It's more than keeping the hate against someone. He doesn't deserve that to occupy a size of my feelings. Sprecher 01: Wir haben alle unsere dunklen Seiten. Er sollte nicht bis an sein Ende mit seiner Schuld leben müssen. Einige Menschen haben sich während der Revolution gut verhalten und sind jetzt schlimmer als er. Ich glaube wirklich, dass er einfach Teil des Systems war. Unter Gaddafi konnte niemand einfach "nein" sagen. Jetzt ist er ein guter Mensch, warum sollte ich also immer noch seine Schuld betonen? Ich habe ihm vergeben. Das ist besser, als den Hass gegen jemanden ständig weiter zu schüren. Und er hat es nicht verdient, so viel Raum in meinen Gefühlen einzunehmen. Erzählerin: Wir besuchen eine Freundin von Asaad, Sara und er haben schon als Kinder miteinander gespielt. Sara trägt T-Shirt, Leggins, Kapuzenjacke. Sie serviert Kaffee, setzt sich und zündet sich eine Zigarette an. Dann erzählt sie Asaad von einer Frau, die kürzlich verhaftet wurde, sie hatte in ihrem Auto geraucht. Autorin: Who captured her? Sara lacht .. Rada Erzählerin: Sara lacht so wie wenn man nach etwas gefragt wird, was man eigentlich nicht sagen soll. Dann sagt sie: Rada. Das ist die islamistische Miliz, zu der nun auch Asaads jüngerer Bruder Mohamed gehört. Sara Sprecherin 02: In was für einem Land leben wir! Erzählerin: Sara ist 32, ebenso alt wie Asaad. Eine sympathische, warmherzige Frau, aber ihre Bedrücktheit ist spürbar. Seit drei Monaten arbeitet sie auf Kommission in einem neu eröffneten Schönheitssalon. OT Sara Sprecherin 02: Ich wollte nicht mehr als Journalistin arbeiten, wegen der Schwierigkeiten, die ich nach der Revolution damit hatte. Deshalb habe ich ein paar Kosmetikkurse gemacht, zum Beispiel Mesotherapie, Liposuktion und so etwas. Das bieten wir jetzt in dem Studio an. Bisher verdienen wir noch nicht viel, weil wir noch so neu sind und uns kaum jemand kennt. Erzählerin: Ihre frühere Arbeit, sagt Sara, sei mehr als nur ein Job gewesen: eine Leidenschaft. Zu Gaddafis Zeiten war sie zunächst Nachrichtensprecherin beim staatlichen Fernsehen. Nach dem Beginn der Revolution wollten immer weniger Kolleginnen und Kollegen vor die Kamera, wollten nicht mehr verbunden werden mit dem Sender des Diktators. Sara übernahm immer mehr Aufgaben, zeigte weiterhin ihr Gesicht: moderierte eine politische Talkshow, fuhr einmal sogar für die Berichterstattung an die Front. Sie sah die Verbrechen des Diktators und glaubte trotzdem an das Regime. OT Sara Sprecherin 02: In Libyen gibt es viele unterschiedliche Stämme, die alle etwas Verschiedenes wollen. Eine harte Hand war nötig, um dieses Land zusammen zu halten. Ich dachte mir, dass bei uns Stabilität besonders wichtig ist. Besonders, weil Libyens Geschichte von vielen politischen Konflikten geprägt ist, durch die unterschiedlichen Einflüsse der Italiener, Türken und Engländer. Jede Kolonialmacht hat ihre eigene Kultur mitgebracht. Ich glaube, dass das zur zerrissenen Identität der Libyer beigetragen hat. Ich ahnte, dass wir in dem Moment, in dem die ganze arabische Welt Konflikte erlebte, besonders teuer bezahlen würden. Denn bei uns kam noch der Mangel an Bildung und Kulturangeboten hinzu. Der neue Konflikt traf uns in einem denkbar schlechten Moment. Erzählerin: Sara war für eine Reform des Regimes, wollte ein Ende der Verbrechen an der Bevölkerung, war aber gegen den Sturz Gaddafis. OT Asaad My relation with Sara, like, was something that bigger than the politics can affect on, or something gathered. I know Sara while I was like 9 years old or 10 years old. So, and the way that Sara thinking, like, she's just so open-minded, so, that doesn't affect, like, our relation. Sprecher 01: Meine Freundschaft zu Sara ist etwas Besonderes, die Politik kann ihr nichts anhaben. Ich kenne Sara, seit ich neun oder zehn war. Und ich schätze ihre offene Art zu denken sehr. Erzählerin: Als Asaad verhaftet wurde versuchte Sara, sich für ihn einzusetzen - ohne Erfolg. Nachdem die Rebellen Tripolis eingenommen hatten, wendete sich das Blatt: Nun stand Asaad auf der Seite der Sieger, Saras Leben war in Gefahr. Trotzdem ging sie weiter zur Arbeit, wohin sollte sie fliehen? Vier Tage nach der Eroberung von Tripolis kamen die Rebellen in ihr Büro. Sie seien ihr wie Außerirdische erschienen, sagt Sara, so dreckig und verroht, als hätten sie nicht Monate, sondern Jahre im Krieg verbracht. OT Sara Sprecherin 02: Allerdings gab es auch einige Milizen, die sich islamisch kleideten und Bärte trugen, die waren absolut radikal islamistisch. Und streng. Jedes Mal, wenn sie wieder für ein Verhör in mein Büro kamen, dachte ich, dass ich den Sender nie wieder lebend verlassen würde. Die Milizionäre beleidigten und bedrohten mich, bis ich schließlich floh. Was mich gerettet hat war die Tatsache, dass einige Leute von meiner Freundschaft mit Asaad wussten, und von meinem Bruder Najib. Sie wussten, dass die beiden gegen Gaddafis Regime waren. Erzählerin: Am 1. September 2011 floh Sara nach Ägypten, also gut eine gute Woche nach der Einnahme von Tripolis. Zwei Jahre später kam Sara nach Libyen zurück, weil ihre Mutter krank war und ihre Hilfe brauchte. OT Sara Sprecherin 02: Dann passierte das gefährlichste, was ich je erlebt habe. Zwei Bewaffnete sprangen in mein Auto, hielten mir eine Kalaschnikow vor das Gesicht und versuchten, mich zu kidnappen. Sie schrien mich an: Du bist Teil des Gaddafi-Regimes! Einer saß hinter mir auf der Rückbank, der andere neben mir auf dem Beifahrersitz. Sie sagten, ich solle weiter geradeaus fahren. Dann passierte genau vor uns ein Unfall. Ein Krankenwagen kam und Milizionäre von einer anderen Brigade. Als sie die Sirenen hörten, sprangen sie aus meinem Auto und rannten weg. Das war ein Tag! OT Asaad She is asking me to draw a young girl. Sprecher 01: Sie hat mich gebeten, ein kleines Mädchen zu malen. Erzählerin: Mounira ist ins Wohnzimmer gekommen, Saras Nichte. Das Mächen hat ein Heft und Stifte mitgebracht, Sara ist in die Küche gegangen, um etwas zu holen. Mounira ist neben Asaad auf das Sofa gesprungen, der halb darauf liegt, um besser malen zu können. Mounira guckt ihm konzentriert zu. Asaad will wissen, was er genau malen soll, Mounira sagt, das Mädchen solle Zöpfe haben, so wie sie selbst. Als Sara wieder ins Zimmer kommt, springt Mounira auf und läuft ihr entgegen. Sara ist für das Mädchen wie eine Mutter, ihre leibliche Mutter ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben, ihr Vater Najib seit fast vier Jahren im Gefängnis. OT Sara Sprecherin 02: Ich habe am Telefon erfahren, dass Najib in Haft ist, und immer wenn ich frage warum, kriege ich eine andere Antwort. Mal hieß es, er handele mit Dollar, was verboten ist. Dann behaupteten sie, er unterstütze Haftar. Wir wissen nicht, was wirklich los ist. Aber ich bin sicher, dass das alles nicht stimmt. Mein Bruder ist ein friedlicher Mensch, er hat mit dem Handel von Haustieren sein Geld verdient. OT Autorin / Asaad Who is they? You said, "they captured him. They told us". OT Asaad It is the same Islamic militia that I told you with, al Rada. Sprecher 01: Das ist dieselbe islamistische Miliz, über die wir schon gesprochen haben, die Rada. OT Autorin /Asaad So, the militia has the power to detain people? OT Asaad They are going... It's like a typical type of judicial court, so where the judge has nothing to say and he just has the sentences on the people. It's kind of like a role play more than it's a court or judgment. And even the people that they have papers that they should be released from the prison that they are controlling, they didn't be released. Like, they have a lot of people has been taking the paper of releasement, and they didn't just let them out. So, this is kind of like obeying the government for something and denying them for the other thing. Sprecher 01: Es gab ein Gerichtsverfahren, aber das lief ganz typisch ab: Der Richter muss das gewünschte Urteil verlesen. Es ist mehr ein Rollenspiel als ein Gerichtsprozess. Und selbst wenn ein Gerichtsurteil mal ein Freispruch ist, halten die Milizen die Gefangenen in den Haftanstalten, unter ihrer Kontrolle trotzdem weiter fest. Dann hat das Ganze zwar durch das Gerichtsverfahren den Anschein von Staatlichkeit, aber die Milizen beugen sich dem nicht. OT Sara Sprecherin 02: Ich habe große Angst. Als ich nach Libyen zurückgekommen habe ich gesehen, wie sehr sich das Land verändert hat. Die Gesellschaft ist noch immer gespalten, in Unterstützer und Gegner von Gaddafi. Es kursieren lauter Feindbilder, vor allem von uns, Gaddafis Anhängern. Ich kenne viele Menschen, die ähnliche Probleme haben wie ich. Zuerst dachte ich, dass es nur an mir und meinem Verhalten lag - Du weißt ja, wie ich lebe Asaad, Du kannst ihr das ruhig erzählen. Die letzten fünf Jahre hatte ich kein soziales Leben mehr. Das hält niemand aus. Ich habe deshalb gesundheitliche Probleme und stark zugenommen. OT Autorin: When you go out, do you go like this, or do you cover your hair? OT Sara Covered. (lacht) Everything covered. Sprecherin 02: Komplett bedeckt. Ich trage eine Abaya, ein traditionelles islamisches Gewand. Anfangs habe ich auch einen Gesichtsschleier getragen, aber den brauche ich nicht mehr. Ich habe so stark zugenommen, dass mein Gesicht ganz anders aussieht. Viele Leute, die mich von früher kennen und denen ich auf der Straße begegne, erkennen mich nicht mehr. Das habe ich erst wieder in den letzten Tagen erlebt. OT Sara Erzählerin: Sie habe 60 Kilo zugenommen und ihr Gewicht damit etwa verdoppelt. Vor einem Jahr fing sie mit den Kosmetikkursen an, bis dahin habe sie nur gegessen, geschlafen und ferngesehen. Dabei könne Asaad bestätigen, dass sie vor der Revolution eine ausgesprochen aktive Frau gewesen sei. Jetzt lebe sie wie im Gefängnis und könne über ihre Zukunft nicht frei entscheiden. Erzählerin: Abends trifft sich Asaad fast immer mit seinen Freunden unter den ehrenamtlichen Helfern des libyschen Roten Halbmonds. Sie sitzen in dem Innenhof, in dem auch die Krankenwagen parken, reden, rauchen, trinken Kaffee und spielen "Mensch ärgere Dich nicht". AT Collage aus Nachrichten Erzählerin: Die Helfer bergen Opfer des Krieges und Opfer von Flucht und Migration. Von der libyschen Küste aus versuchen jedes Jahr tausende Menschen, in völlig überfüllten Booten über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Viele überleben die Überfahrt nicht. Asaad und andere Helfer müssen die Leichen bergen, die an den Stränden angeschwemmt werden. Allein im vergangenen Jahr haben nach Schätzungen etwa 1700 Menschen die gefährliche Überfahrt nicht überlebt. Erzählerin: Asaad zeigt Videos solcher Einsätze, die er auf seinem Handy gespeichert hat. OT Asaad Jafar Yes, we got calls from the coastguard, and after that we went to the place. And take the bodies out. This was just one body, but two plastic bag, because it was slising (meint wohl: sich auflösen), and some of the acid (Körperflüssigkeit) came out of the body. Sprecher 01: Die Küstenwache ruft uns an, dann fahren wir raus und bergen die Leichen. Bei diesem Einsatz war es nur eine, aber wir brauchten zwei Leichensäcke. Sie war schon dabei, sich zu zersetzten. Erzählerin: Ich kenne das von Freunden und Bekannten in Deutschland, das Teilen von fotografierten oder gefilmten Erinnerungen ist Teil des Alltags geworden. In Deutschland sehe ich meist verlockend gefüllte Teller, Haustiere, Urlaubsbilder. Hier sehe ich Kriegsszenen, Leichen und Leid. AT Asaad zeigt Tajoura There is another footage from Tajoura detention center. Bodies. Autorin: He recongnizes after one short view, he knows it 's Tajoura. Asaad: yeah. Because we have stuck memories with the places, so from one glance we can recognize what was the event. Sprecher 01: Hier sind Aufnahmen vom Internierungslager Tajoura. Leichen. Erzählerin: Absi, einer der Helfer, hat bis jetzt konzentriert mit den anderen "Ludo" gespielt. Dann ist er aufgestanden, guckt jetzt kurz über Asaads Schulter auf den Handybildschirm und sagt: "Tajoura". Dabei sind in der Szene, die er gesehen hat, nur einige Helfer von hinten zu sehen. Es ist Nacht, ihre Warnwesten reflektieren das Licht der Scheinwerfer und Handykameras. Autorin: He recognizes after one short view, he knows it's Tajoura. Asaad: Yeah. Because we have stuck memories with the places, so from one glance we can recognize what was the event. Sprecher 01: Ja, die Erinnerungen an diese Einsätze brennen sich uns ein. Deshalb erkennen wir die Videos auf den ersten Blick. OT Absi Sprecher 02: Der Einsatz in Tajoura war einer der schlimmsten. Weil die Leichen in Stücke zerrissen waren, einige Teile lagen unter dem Schutt. Erzählerin: In der Nacht auf den 3. Juli 2019 wurde das Internierungslager von Tajoura im Süden der Hauptstadt von einer Rakete getroffen. Mindestens 50 Migranten und Flüchtlinge starben, etwa hundert weitere wurden verletzt. Asaad hat mir schon einige Tage vorher am Computer Aufnahmen von dem Einsatz gezeigt. AT Assad Sprecher 01: Dieses Video habe ich nie im Internet gepostet. Autorin: Because they're too graphic. Erzählerin: Weil es zu drastisch ist? Asaad: Yeah. Erzählerin: Im Juli 2019 wurde in Libyen wieder einmal besonders heftig gekämpft. General Khalifa Haftar, der den Osten des Landes kontrolliert, hatte im April 2019 eine groß angelegte Militäroffensive begonnen. Er wollte die Hauptstadt erobern und damit ganz Libyen unter seine Kontrolle bringen. Die Erdnölnation war zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges geworden - trotz eines Waffenembargos der Vereinten Nationen: Haftar wurde unter anderem von Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Frankreich unterstützt. Aus dem Ausland bekam Haftar Söldner, Drohnen und Kampfjets. Aber auch die Regierung im Westen hatte viele ausländische Unterstützer, vor allem die Türkei, Katar, Italien und die EU. Wem genau der Kampfjet gehörte, der die Rakete auf das Internierungslager in Tajoura abfeuerte, blieb trotz eine UN-Untersuchung unklar. Sicher ist nur: Er flog zur Unterstützung Haftars. OT Asaad I still remember the smell of the place, you know. It was, like, for fresh body, fresh blood. You just try to walk very carefully between the place because you could, like, just step on someone's hand, or someone's body any time. So, you cannot... This is other blood here. (AT Video) Sprecher 01: Ich erinnere mich noch genau an den Geruch dort: es roch nach frischen Leichen, frischem Blut. Wir haben versucht, uns möglichst vorsichtig zwischen dem Schutt zu bewegen, um nicht auf eine Leiche oder einen menschlichen Überrest zu treten. Hier siehst Du noch mehr Blut. Erzählerin: In dem Internierungslager hielt die vom Westen unterstützte libysche Regierung mehr als 600 Migranten und Flüchtlinge gefangen. Die meisten von ihnen waren zuvor von der Küstenwache auf dem Mittelmeer festgenommen worden, während sie versucht hatten, nach Europa zu kommen. OT Asaad It was like bodies everywhere. Like, it was like about 7 days of work, collecting people. And, it was very, very, very hot and sunny. We followed the smell. I have never seen that much of people before. Nobody can see the scene and go back to his home with his mental health. This is something unbelievable. And, there was blood everywhere. There was blood everywhere. Uncountable number of bodies. Sprecher 01: Überall waren Leichen. Wir haben sieben Tage gebraucht, um alle menschlichen Überreste zu bergen. Es war extrem heiß und sonnig. Bei der Suche gingen wir dem Geruch nach. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viele Leichen gesehen. Nach so einem Einsatz geht niemand psychisch gesund nach Hause. OT Autorin / Asaad What do you do to, with all the situations you live, you see, the pain you see, you undergo? Erzählerin: Was machst Du mit diesen Erfahrungen, dem Leid, das Du siehst und selbst empfindest? OT Assad Jafar We just let it go by another job, find other people who need us. So, if we stayed, explained that we need physical (meint psychisch) treatment, but no one is there to give it to us. We're not waiting for anything. But, we are humans. Like, this thing has to end some day, because, like, we're just scared, we're just fed up from that situation by collecting peoples, and taking peoples. Those are humans where were someday having dreams like us, were some day having an attitude, were some day have a family, some day have a boyfriends, or girlfriends. So, dealing with those people like numbers, like we deal with them, and collecting more and more and more from bodies, from... It's just something that nobody can take it. Sprecher 01: Sie werden vom nächsten Einsatz überlagert. Es warten ja schon die nächsten, die uns brauchen. Klar könnten wir eine Pause machen und sagen: "Wir brauchen erstmal psychische Unterstützung." Aber es ist niemand da, der sie uns geben würde. Es ist nicht so, als würden wir das fordern, aber man darf nicht vergessen, dass wir wie Menschen empfinden. Das alles hier muss irgendwann aufhören, wir haben Angst, dass wir immer mehr Leichen bergen müssen. Wir haben genug davon! Die Toten waren Menschen, die genau wie wir ihre Träume hatten. Vielleicht wollten sie eine Familie haben, einen Freund, eine Freundin. Es ist schrecklich, diese Menschen eines Tages nur noch wie Zahlen zu behandeln, aber genauso gehen wir mit ihnen um: wir sammeln und zählen die Toten. Niemand hält das auf Dauer aus. OT Autorin Do you have a girlfriend? Erzählerin: Hast Du eine Freundin? OT Asaad Jafar I do, but I really like I'm exhausted, and I cannot take any more. Sprecher 01: Ja, aber ich bin müde. Autorin: Does your girlfriend understand your work? Asaad: Well, she's too young to understand it. Nobody can understand. Autorin: How old is she? Assad: She's about 25. But, it's not about the age. It's about, my mum even doesn't understand. She say it like, "Why you would sacrifice your life to save others." I just want someone to grab my body when I die. So, I grab other's bodies. Sprecher 01: Sie ist 25, aber es ist keine Frage des Alters. Nicht einmal meine Mutter versteht mich. Sie sagt: "Warum opferst Du Dein Leben, um anderen zu helfen?" Ich möchte einfach, dass jemand meine Leiche birgt, wenn ich tot bin. Deshalb mache ich das. Erzählerin: Absi, den wir am Abend mit den anderen treffen, war bei allen diesen Einsätzen dabei. Er ist 25, sehr schlank, wirkt verletzt und verletzlich. Und noch melancholischer als Asaad. OT Absi Sprecher 02: Es gibt keinen Ort, an dem Du dem Gedanken an die Leichen, die Du gesehen hast, entkommen kannst. Ihre Bilder sind in mein Gehirn eingebrannt. Dem entgehst Du nicht, wenn Du solche Einsätze machst. OT Autorin / Absi/ Asaad Do you feel you lost your youth? Erzählerin: Hast Du das Gefühl, Deine Jugend verloren zu haben? Absi: Sprecher 02: In gewisser Weise ja. Weil sie uns gezwungen haben, in so einer Welt zu leben. Einer Welt aus Krieg und Töten und Tod. Und wegen der Krise in unserer Heimat. Autorin: What are your dreams? OT Absi Sprecher 02: Mein einziger Traum ist, dass dieses Land vorankommt, so dass wir zusammen mit diesem Land weiterkommen können. Bis dahin lassen uns die Umstände, in denen wir leben, keinen Raum für Träume. Erzählerin: Immerhin haben sie alle neben dem ehrenamtlichen Dienst eine Arbeit oder studieren. In Libyen ist das nicht selbstverständlich, viele junge Menschen sind arbeitslos. Absi verdient sein Einkommen als medizinischer Helfer im Gefängnis. Abdelruf studiert Medizin, während er auf ein Visum für Großbritannien wartet. Denn eigentlich möchte er Medizintechniker werden, der Studiengang wird in Libyen nicht angeboten. Mohamed "The Lion" ist Buchhalter, verdient sein Geld aber als medizinischer Assistent, zurzeit betreut er Covid-19-Patienten. Asaad hat neben seinem Job als Grafiker beim libyschen Fernsehen zusammen mit einem Freund eine Firma gegründet, die Mediendienstleistungen aller Art anbietet. Erzählerin: Wir fahren in die Firma, die Asaad mit einem Freund gegründet hat: Creative Ideas. Sie machen Werbefilme, Beiträge für die politische Kampagnen, entwerfen Plakate und Flyer, betreuen Internetseiten und anderes mehr. Einen ihrer Räume stellen sie zur Zeit einer Gruppe von Jugendlichen kostenlos zur Verfügung. OT Malik Adel Gassar My name is Malik, the last name is Gassar, but you can call me Malik. I'm 16 and I'm a high school student in the second year. Also, I'm learning coding, programming. It's kind of like my hobby. And here we are Baxter team. Simply, Baxter team is a sub-team from Lybotics. Lybotics is robotic community in Libya. It's a new community in the past two years. Sprecher 03: Ich heiße Malik Gassar, aber Du kannst mich einfach Malik nennen. Ich bin 16 und im zweiten Jahrgang der Oberschule. Nebenbei lerne ich zu programmieren, das ist mein Hobby. Unser Team heißt "Baxter" und wir gehören zu Lybotics, das ist eine Gemeinschaft von Roboter-Fans, die in den vergangenen zwei Jahren entstanden ist. OT Aya Oun My name is Aya. Aya Oun. I am 18. And, I just graduated from high school. So, I just saw the post on Facebook about joining Lybotics team, that will teach you graphic design, coding and some building skills. So, yeah. I came. Ok. So, my future dream was to become a pilot, I am passionate about it. I have taken aviation course online. It's take place in Spain. Sprecherin 01: Ich heiße Aya Oun. Ich bin 18 und habe gerade die Oberschule abgeschlossen. Auf Facebook habe ich den Post gesehen mit der Einladung zu diesem Lybotics-Team. Man würde dabei ein paar Fähigkeiten in Design, Programmieren und Bauen erlernen. Deshalb mache ich mit. Ich träume davon, Pilotin zu werden, das möchte ich wirklich leidenschaftlich gern. Online habe ich schon an ein paar Lehrgängen teilgenommen, sie wurden in Spanien angeboten. OT Autorin / Aya Oun So, what is the next step to become a pilot? OT Aya Oun To leave Libya, actually. We don't actually have airports here. Our first airport was destroyed. We have small ones. Not an actual one in my eyes. Actually, I'm thinking to go to study in New Zealand. I have family members there. Sprecherin 01: Dafür muss ich Libyen verlassen. Wir haben hier keine Flughäfen, unser größter Flughafen wurde im Krieg zerstört. Jetzt haben wir nur noch kleinere, die in meinen Augen nicht zählen. Ich möchte in Neuseeland studieren, dort leben Verwandte von mir. Erzählerin: Shaima zieht die Schrauben an dem Roboter-Greifarm fest, Aya reicht ihr die nächsten Teile. Die Jugendlichen haben mehrere Tische in der Mitte des Raumes zusammengeschoben, darauf stehen Bauteile und ihre Computer. Insgesamt hat ihr Team 15 Mitglieder, die zwischen 15 und 23 Jahren alt sind. In ganz Libyen gibt es 21 Teams, international beteiligen sich viele weitere Länder. Die Gewinner der nationalen Vorausscheidungen werden schließlich in den USA gegeneinander antreten. Es geht darum, welcher Roboter am schnellsten unterschiedliche Gegenstände durch einen Parcours von A nach B bringen kann. OT Malik I mean, Libya have went through a lot of wars and worse problems. But me as a kid, yes, I mean, I've suffered a lot from this. We all did, but you have to go on after this. Continue learning. Continue your life. My country is not fully supporting me, doesn't give me some scholarships, doesn't teach me anything. But, my mission here is not to complain about my country. My mission is to make this country better. Sprecher 03: Libyen hat unter vielen Kriegen und anderen Problemen gelitten. Natürlich habe ich als Kind darunter gelitten, das haben wir alle. Aber wir müssen darüber hinwegkommen und weiter machen. Das wichtigste ist, immer mehr zu lernen. Es stimmt, dass mein Land mich kaum unterstützt, mir kein Stipendium anbietet, mir nichts beibringt. Aber mein Ziel ist es nicht, mich über mein Land zu beklagen. Mein Ziel ist es, dieses Land zu einem besseren Ort zu machen. OT Eslam Jafar OT Asaad Jafar He was, like, he's asking me now, "If the date goes back before the 7th of February, would you join again, or not?" Sprecher 01: Er hat mich gefragt: "Wenn wir die Zeit vor den 7. Februar 2011 zurückdrehen könnten, würdest Du Dich nochmal am Aufstand beteiligen?" OT Asaad Jafar I said, "Yes, I will join." He said, "No, you're lying." Sprecher 01: Ich habe gesagt: "Ja, ich würde wieder mitkämpfen." Er hat gesagt: "Du lügst." OT Autorin Why do you think he's lying? OT Eslam Jafaar Sprecher 02: Die jetzige Situation ist viel schlechter, als zu Gaddafis Zeiten. Nichts funktioniert. Und zu Gaddafis Zeiten gab es eine überschaubare Zahl von Kriminellen. Jetzt kannst Du sie nicht mehr zählen. OT Asaad Me, and a lot of people, who we believe that we're fighting for getting the country for better place, we have sometimes feeling of guilty because people are interested about food and money and more than their freedom. Because, like, a lot of people now shouting and saying, "You made the revolution. And what the hell I'm going to do with my freedom? I just want to eat. I just want to raise my family." So, we feel a lot of guilt, and feel we are lonely in this, like, in some kind of bad way. But as much as we gather together and make a support for each other, say it like, we're not responsible, but we're having the revolution. Sprecher 01: Ich und viele Menschen die glaubten, wir würden für ein besser Land kämpfen fühlen uns manchmal schuldig. Die Menschen interessieren sich viel mehr für Essen und Geld, als für ihre Freiheit. Viele Menschen beklagen sich jetzt und halten uns vor: "Ihr habt die Revolution angezettelt, aber was zum Teufel soll ich jetzt mit meiner Freiheit anfangen? Ich will einfach nur genug zu essen und meine Familie großziehen." Wir fühlen uns einsam mit unserem Schuldgefühl. Aber dann kommen wir zusammen und sprechen uns Mut zu. Wir sagen: "Wir sind nicht für alles verantwortlich, und immerhin hatten wir eine Revolution." Absage Überleben nach dem Bürgerkrieg Libyens junge Generation sucht den Frieden. Ein Feature von Bettina Rühl. Es sprachen Helene Grass, Lisa Bihl, Judith Jakob, Daniel Werner, Bruno Winzen und Jonas Baeck Ton und Technik: Gunther Rose und Oliver Dannert Regie: Matthias Kapohl Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Westdeutschen Rundfunk 2022 1