Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Hauskauf mit Geschichte Eine Stralsunderin führt die jüdische Familie Blach wieder zusammen Autorin: Alexa Hennings Regie: Anna Panknin Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk/NDR 2022 Erstsendung: Dienstag, 25.10.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Nicola Gründel und Daniel Berger Ton und Technik: Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Atmo Skype-Signal, Telefonat Friederike Fechner, Gaby Glassman Signal - Hallo! Hallo Gabi? Ich seh dich noch nicht. - Oh. - Siehst du mich? - Ich hab jetzt bei dir angerufen, nicht? – Ja… darauf Sprecherin Das Arbeitszimmer einer Musikerin. Am Fenster ein Cello, Notenständer, Regale voller Bücher, der Schreibtisch vollgepackt, gerade noch ist eine Ecke frei für den Laptop. Friederike Fechner versucht mit Gaby Glassman in Kontakt zu kommen, Stralsund - London. Atmo Skype-Signal, Telefonat Friederike Fechner, Gaby Glassman Wie machen wir das dann? - Sollen wir zoomen? – Ja! O-Ton Gaby Glassman Als sie sich gemeldet hat, war ich so aufgeregt! Und ich wusste, woher es kam, ich wusste, dass es die Gefühle meiner Mutter waren, die so aufgeregt gewesen wäre. Es war 14 Jahre nach ihrem Tod - meine Mutter ist ja nie zurück nach Stralsund gegangen. Das konnte sie einfach psychisch nicht, weil sie zu viel unter dem Antisemitismus gelitten hat. Atmo Telefonat Friederike Fechner, Gaby Glassman F: Hast du die Mail gelesen, die ich Tom geschickt habe? Tom Blach? - Ja, ja, und seine Antwort. - Dass er gesprächsbereit ist in London! Hat mich gefreut, dass er geantwortet hat. - O-Ton Gaby Glassman Das Ganze ist immer noch wieder wie ein Traum. Man hört es immer - oder manchmal - dass allen anderen so ein Traum geschieht. Aber jetzt war es ja bei mir! darauf Zitator Hauskauf mit Geschichte - Eine Stralsunderin führt die jüdische Familie Blach wieder zusammen. Ein Feature von Alexa Hennings Atmo Cello, Friederike Fechner spielt Bach Cello-Suite darauf Sprecherin Was gerade diese beiden Frauen miteinander verbindet, das hat eine lange Vorgeschichte. Friederike Fechner, Cellistin aus Hamburg, lebt mit ihrer Familie seit den 90er Jahren in der vorpommerschen Hansestadt an der Ostsee. Ihr Weg zur Musikschule führt sie fast jeden Tag durch die Heilgeiststraße. Auch ihr Mann, der Augenarzt Martin Fechner, muss, wenn er in seine Klinik geht, immer hier entlang. Das Haus Nr. 89 ist eines der letzten unsanierten Häuser. 2012 kaufen die Fechners das mehr als 300jährige hanseatische Bürgerhaus. Für die besonders gelungene Sanierung bekommen sie 2014 den Bauherrenpreis der Stadt. O-Ton Friederike Fechner Diese Übergabe des Preises war aber mit der Auflage verbunden, die Geschichte dieses Hauses zu recherchieren. Und da bin ich ins Stadtarchiv gegangen und habe rausgefunden, dass das Haus von 1883 bis 1934 in jüdischem Besitz war. Und aber der Laden, der jüdische Lederwarenladen, noch bis 1938 weiterbestehen „durfte“ - müsste man ja so sagen. Sprecherin Als letzten jüdischen Besitzer des Hauses kann Friederike Fechner in den Akten des Stralsunder Stadtarchivs Friedrich Blach ermitteln. Er war der Sohn von Julius Blach, der sich 1883 gemeinsam mit seinem Bruder Felix als Lederwarenhändler in Stralsund niederließ und das Haus in der Heilgeiststraße 89 kaufte. Julius vererbte es seinem Sohn. O-Ton Friederike Fechner Friedrich Blach ist aber 1919 nach Berlin gezogen und ist dort Direktor der Charlottenburger Wasserwerke geworden, hat 1933 seine Stellung verloren. Ich hatte erfahren, dass Friedrich Blach 1937 auf der St. Louis Deutschland verlassen hat und geflohen ist nach New York. Somit wusste ich, dass er überlebt hatte. Ja, und dann habe ich auch erfahren, dass dieser Lederwarenhändler Julius Blach sechs Kinder hatte, von denen vier seiner Töchter im Holocaust umgebracht wurden. Und in dem Moment, wo ich das erzählt habe bei der Preisverleihung, da war ich selber so bewegt, dass ich mich entschlossen habe, die Nachfahren ausfindig zu machen. Atmo Cello Sprecherin Wo anfangen? Geburts- und Heirats- und Sterberegister, Datenbanken zu Deportationen, zu Holocaustopfern, zu jüdischen Familien in Vorpommern - all das war Neuland für die Musikerin. O-Ton Friederike Fechner Dann kam erstmal eine ganze Weile gar nichts. Weil ich nicht wusste, wo ich genau ansetzen sollte und auch nicht, dass die ihren Namen bereits geändert hatten, von Blach in Blake. Und eines Tages bekam ich Besuch von einer Freundin, die Erbenermittlerin ist und ganz viel mit Datenbanken arbeitet. Da habe ich einfach spaßeshalber gefragt: Kannst du mal bitte den Namen Friedrich Blach eingeben? Und dann hatte ich am nächsten Tag die E-Mail-Adresse des Enkels von Friedrich Blach - von Casey Blake, der Professor an der Columbia University in New York ist. Musik Zitator Dear Friederike Fechner, vielen Dank für Ihren Brief. Was für eine wundervolle Überraschung. Ja, ich bin der Enkel von Friedrich und Urenkel von Julius Blach. Mein Vater Peter Blach (der seinen Namen in Peter Blake änderte und eine große Karriere als Architekt und Architekturkritiker hatte) und seine Schwester Madi Blach, die Malerin und Bildhauerin war, sind beide bereits verstorben. Mein Großvater Friedrich war das jüngste von sechs Kindern. Nur er überlebte den Holocaust. Mein Vater sprach nie über die Tragödie, die so viele Familienmitglieder auslöschte. Dieses Kapitel war für ihn geschlossen. O-Ton Friederike Fechner 2016 haben mein Mann und ich im Oktober einen Flug gebucht und sind zu Casey rüber geflogen nach New York und haben ihn besucht. Sprecherin Friederike Fechner hatte inzwischen nicht nur nach den lebenden Nachfahren der Blachs gesucht. Spuren dieser jüdischen Familiengeschichte fanden sich auf dem jüdischen Friedhof von Stralsund, aber auch in Hessen. O-Ton Friederike Fechner Sein Urururgroßvater Samuel Blach - die Familie stammt ursprünglich aus Reichensachsen in Hessen - der war dort Lehrer an einer israelitischen Schule und hat Kinderbücher geschrieben. Das habe ich ihm mitgebracht und vorgelesen. Davon wusste er natürlich überhaupt nichts. Sein Vater hat ihm über die Familie praktisch nichts erzählt. Sprecherin Casey Blake und seine Schwester Christina in New York lebten in dem Glauben, dass ihr Großvater Friedrich Blach der einzige Überlebende der Familie war. Sie wussten, dass Friedrichs vier Schwestern in Konzentrationslagern ermordet worden waren. Und sie waren sich sicher, dass auch die Nachkommen von Felix Blach - neben Julius Blach der andere Stammvater der Stralsunder Lederhändler-Familie - nicht mehr lebten. Tatsächlich aber gibt es noch Nachfahren beider Familienzweige. Friederike Fechner fand es heraus. O-Ton Friederike Fechner Wir waren ja in New York und hatten Casey getroffen, und auf dem Rückflug, das Buch hatte ich mir eingepackt, las ich in dem Buch „Flucht oder Tod“ von Wolfgang Wilhelmus. Das sind gesammelte Briefe von ehemals aus Pommern stammenden Juden. Und darin fand ich einen Brief von Rosemarie Simons-Joseph aus Stralsund - und da blitzte es natürlich in mir auf, denn der Name Joseph kam mir bekannt vor. Gertrud Blach hatte einen Max Joseph geheiratet und es ging eindeutig aus dem Brief hervor, dass es da einen verwandtschaftlichen Zusammenhang gab. Und am Ende dieses Briefes schrieb Rosemarie Simons-Joseph 1984, dass ihr Sohn Peter überlebt hat und jetzt mit 51Jahren Leiter einer großen Chemiefirma in Amsterdam sei und fünf Kinder hat. ich dachte sofort: Diesen Kontakt muss ich finden, dann haben Casey und Christina vielleicht doch noch Verwandte! Sprecherin Doch von einer Rosemarie Simons-Joseph gab es nirgends eine Spur. Und nichts führte zu einem Chemiker namens Peter in Amsterdam, von dem Friederike Fechner nicht einmal den Nachnamen wusste. Wieder hatte die befreundete Erbenermittlerin die rettende Idee. O-Ton Friederike Fechner Rosemarie schreibt doch, dass 1932 die Hochzeit stattgefunden hat mit ihrem ersten Mann! Dann musst du jetzt ins Stadtarchiv gehen und nach der Heiratsurkunde suchen! Und darüber habe ich den Nachnamen gefunden: Weishut. Rosemarie war in erster Ehe verheiratet mit Günter Weishut, und ich habe Weishut gegoogelt und bin schließlich bei Daniel Weishut in Jerusalem gelandet. Musik Zitator Dear Friederike Fechner, ja, in der Tat ist Rosemarie Joseph meine Großmutter. Ich leite diese Nachricht mal an meine Tante Gaby Glassman aus London weiter, die das Familienarchiv verwaltet. Mit freundlichen Grüßen Daniel Weishut. O-Ton Friederike Fechner Ich habe Gaby geschrieben, sie schrieb sofort zurück: Datum 2.12. 2016. Dear Friedrike, ich übersetze das mal - vielen Dank, dass du uns kontaktiert hast und vielen Dank für all die Arbeit, die du für unsere Familie gemacht hast- mit drei Ausrufezeichen! Ich bin wirklich very exited about it. Und ich dachte, dass es die schönste Art zu antworten wäre, dich anzurufen. O-Ton Gaby Glassman Die ersten drei Nächte habe ich nicht schlafen können. Am vierten Tag hatten wir dann ein Skype-Gespräch verabredet, und dann haben wir uns angefreundet. Wir hatten beide so Interessen und Persönlichkeiten, die zueinander passten. Sprecherin Gaby Glassman ist Psychotherapeutin, sie lebt seit fast 50 Jahren in London, ist mit einem Engländer verheiratet. O-Ton Friederike Fechner Wir haben uns dann zum Telefontermin mit Christina zusammen als Skype-Konferenz verabredet - denn da traf Christina auch erstmalig auf ihre Cousine Gaby, von der sie ja vorher auch nichts wusste. Das war ein dreistündiges Gespräch, unglaublich. Die Begeisterung und das Erzählbedürfnis war erheblich. Und so bin ich zu Gaby Glassman gekommen. Atmo am Denkmal, Straße Sprecherin Mai 2022, Amsterdam. Friederike Fechner ist aus Stralsund gekommen, Gaby Glassman aus London. Vor 72 Jahren wurde sie hier geboren. Hier ist sie ist aufgewachsen mit dem Gefühl des Verlustes der Familie. Die beiden Frauen laufen an braunen Ziegelmauern entlang. Es ist das neue Holocaust-Mahnmal von Daniel Libeskind. 102 000 Ziegelsteine. Mit 102 000 Namen darauf. Aufgeschichtet zu Mauern, gerade so hoch, dass man die oberen Namen noch lesen kann. Gaby Glassman sucht die Namenssteine ihrer Großeltern. Atmo am Holocaust-Denkmal, Friederike Fechner, Gaby Glassman F: Und wie findet man jetzt die? - Das ist alphabetisch. - Max Joseph? - Ja. - Das ist dein Großvater! - Mütterlicherseits. Der hat das Geschäft in Stralsund geleitet. - Mit Gertrud Blach verheiratet...Atmo weiter, Straßengeräusch... Sprecherin Es sind Gaby Glassmans Großeltern mütterlicherseits. Max Joseph und Gertrud Joseph, eine geborene Blach, waren 1938 von Stralsund nach Holland geflüchtet. Ebenso wie Gaby Glassmans Großeltern väterlicherseits, sie hießen Simons. Atmo am Holocaust-Denkmal, Gaby Glassman, Friederike Fechner So viele Familiennamen erinnern mich an Familiennamen von Nachfahren, die ich gekannt habe, als ich hier aufgewachsen bin. Wo man denkt, das sind Familienmitglieder. Also jetzt „S“. - Wen suchst du jetzt noch? - Meine anderen Großeltern. - Die Simons. - Simons? Hier ist „P“. - Aber ich muss meine Großmutter noch finden. Atmo am Denkmal Sprecherin Der Architekt Daniel Libeskind hat die Mauern so aufgestellt, dass von oben betrachtet in hebräischer Schrift zu lesen ist: „Zur Erinnerung an dich“. Atmo am Holocaust-Denkmal G: In den Konzentrationslagern hatte man nur eine Nummer, man wurde zu einer Nummer reduziert. Meine vier Großeltern sind also nach Westerbork gebracht worden. Da haben sie noch fast ein Jahr gelebt, dann sind sie am selben Tag deportiert worden nach Sobibor und dann wieder am selben Tag, nach drei Tagen, sind sie dann vergast worden. - F: 130 00 waren es? - 140 000 Juden gab es in Holland. 30 000 deutsche Juden und 110 000 holländische. Von den holländischen Juden sind nur 5000 zurückgekommen. Die sind am meisten deportiert worden. Weil die dachten, ihre nichtjüdischen Mitbürger würden ihnen helfen. Der Widerstand hat zu spät angefangen in Holland. Es ist sehr schlimm, wie die jüdische Gemeinschaft einfach vernichtet worden ist. Nach dem Krieg, als ich aufgewachsen bin, hat man gesagt, es gibt noch 20 000 Juden in Holland. Jetzt sind es mehr. Aber viele sind sofort nach dem Krieg ausgewandert nach Palästina, dann Israel - und nach Amerika. Weil die Erinnerungen hier waren zu schlimm. Atmo am Denkmal Sprecherin Gaby Glassman ist zum ersten Mal hier. Das Mahnmal wurde 2021 eröffnet, da mochte sie wegen der Pandemie nicht reisen. Doch sie wollte ihrer Stralsunder Freundin unbedingt den Ort zeigen, der an ihre Großeltern erinnert. Sie haben kein Grab. Die beiden Frauen setzen sich, direkt gegenüber dem Buchstaben J. J wie Joseph. Atmo am Holocaust-Denkmal, Gaby Glassman Mein Großeltern sind beide in Stralsund aufgewachsen. Ich habe ein Bild mit. - F.: Ein Foto hat Gaby definitiv nicht gehabt. Das war eine Abbildung des Hauses von 1910. Mit dem Julius Blach und der Selma Blach im Fenster und auch den vier Töchtern, Paula, Grete, Else und -- Margarete? - Gertrud. - Gertrud, Entschuldigung. Das ist ein ganz besonderes Foto und darüber hat sich Gaby glaube ich auch sehr, sehr gefreut, dass dieses Foto aufgetaucht ist: Was für ein schönes Haus das damals gewesen ist. - G: Ja. Als ich zum ersten Mal in Stralsund war, da habe ich das Haus gesehen. Und das sah so furchtbar aus, dass ich einfach weggeschaut habe! Musik Sprecherin Das Haus der Familie Blach sah Gaby Glassman zum ersten Mal bei einem Stralsund-Besuch Anfang der 1990er Jahre, bevor es Friederike und Martin Fechner sanierten. Heute ist die historische Fassade in einem warmen, orange-roten Ton gestrichen. Sechs moderne Mietwohnungen gibt es hier, im Erdgeschoss einen Wein- und einen Teeladen. Darüber ein Schriftzug, der dort seit der Vertreibung der jüdischen Bewohner 1938 gelöscht war: Gebrüder Blach Lederwaren. Atmo Stralsund, Straße, Haustür Sprecherin Im Hausflur hat Friederike Fechner Tafeln zur Geschichte des Gebäudes und der Familie Blach anbringen lassen. Darauf Fotos der Bewohner, Dokumente und Ansichten des Hauses aus früheren Jahren. Atmo Friederike Fechner Hier ist das Haus, wie es aussah, als wir es gekauft haben. Hallo Frau Meier! - Oh, guten Tag! - Soll ich Ihnen helfen?... Sprecherin Auch einen Auszug aus der Geschäftschronik kann man im Hausflur lesen: den letzten Eintrag vor der erzwungenen Schließung. Diese Zeilen hat Carl Phillip Blach verfasst. Er war der Cousin des letzten Besitzers Friedrich Blach. Weil dieser als Rechtsanwalt in Berlin arbeitete, führte Carl Phillip das Geschäft und bewohnte bis 1938 mit seiner Familie das Haus. Friederike Fechner konnte auch Nachkommen dieses Familienzweiges ermitteln. O-Ton Friederike Fechner, Autorin Ich habe vor drei oder vier Jahren - über WhatsApp witziger Weise - die Schwiegertochter von dem letzten Betreiber des Ladens, des Lederladens Carl Philipp Blach, kontaktieren können. Die hat mich in Stralsund besucht und mir als Geschenk überreicht - was ich dann natürlich später ans Stadtarchiv weitergeben werde: Die Geschäftschronik von 1876-1938. Die handgeschriebene Geschäftschronik. Wo sämtliche Zeugnisse, Fotos, ganz viel Informationsmaterial und Werbung der Firma drin war. Und zum Schluss gibt es halt eine - ich kann Ihnen das gern einmal vorlesen, wenn Sie das möchten? - Ja. Haben Sie das alles abgeschrieben? - Ja, das ist alles digitalisiert und wir wollen daraus auch noch ein Buch machen. Ich les das gerade mal vor. Sprecherin Es ist die Eintragung, die Carl Philipp Blach an seinem letzten Arbeitstag machte. O-Ton Friederike Fechner Mein Wunsch, dass das Geschäft für einen meiner Söhne erhalten bliebe, ist nicht in Erfüllung gegangen. Heute, am 21. Juni 1938, muss dasselbe im 73. Jahr seines Bestehens seine Pforten für immer schließen. Drei Jahre seitdem ich... Musik darauf Zitator übernimmt, liest Brief weiter Drei Jahre, seitdem ich dieses Buch schrieb, sind verstrichen, ich habe mich in dieser Zeit redlich bemüht, das Geschäft meines Vaters zu erhalten. Es ist mir nicht gelungen. Ich mühte mich daher, meine Firma zu verkaufen oder zu verpachten, auch dieses wurde mir nicht genehmigt. So entschließe ich mich zur völligen Auflösung und begebe mich mit meiner Familie nach Berlin, um mich für ein neues handwerkliches Berufsfeld vorzubereiten und dann ins Ausland zu gehen. Während ich dieses schreibe, ist bereits der Keller und der Laden leer und ich sitze in meiner halb ausgeräumten Stube. Und wehmütig gedenke ich der Zeiten, in denen ich als Kind auf meines Vaters Schoß im gleichen Raum gesessen habe und vor einem viertel Jahrhundert von ihm in die Firma aufgenommen wurde. Euch Toten, die ihr eure ganze Kraft dem Geschäft gewidmet habt, rufe ich zu, dass ich schuldlos bin an dem Niedergang eures Lebenswerkes. Dass ich mich stets bemüht habe, dasselbe in eurem Sinn zu erhalten, dass ich aber einer höheren Gewalt weichen musste. So schließe ich denn dieses Buch mit dem Gelöbnis, wie und wo ich mir auch ein neues Leben aufbauen werde, dieses Ganze stets auf der Grundlage eines anständigen und ehrbaren Kaufmanns geschehen wird... O-Ton Friederike Fechner übernimmt, liest weiter ... so wie ich es von euch, ihr lieben Verstorbenen gelernt habe. Stralsund, den 21. Juni 1938, Carl Blach, ehemaliger Inhaber der Firma Gebrüder Blach. Er hat ja überlebt, ist aber 1946 an völliger Abmagerung, schwerer Anämie und einem gebrochenen Herzen gestorben. Sein Bruder und seine beiden Söhne sind nach Auschwitz deportiert worden und in Auschwitz umgebracht worden. Sprecherin Dass Carl Phillip Blach überlebt hat, verdankt er seiner zweiten Ehefrau. er heiratete sie 1935 nach dem Tod seiner ersten Frau. Sie war keine Jüdin, die sogenannte „Mischehe“ schützte ihn vor dem Vernichtungslager. O-Ton Friederike Fechner Er hat sich ganz doll bemüht, ins Ausland zu kommen. Ich habe hier den Original-Ordner mit sämtlicher Korrespondenz, die er in die ganze Welt verschickt hat. Er hat auch an Lederwarenhändler geschrieben, die er gar nicht kannte, er hat an Blach-Namen geschrieben, die gar nicht mir ihm verwandt waren. Und es hat alles nichts genützt. Musik darauf Zitator liest Bittbrief Dear Sir, you will kindly excuse that I write to you but before some days I found your name in the telephone-book of Chicago and as you are my namesake - a namesake of a rare name - and as we are in a great distress I hope that I may be allowed of addressing to you to help me if possible. We have to emigrate within a short time and nothing we would like more as to immigrate to the U.S.A. (...) We all are healthy and we are sure of being able to earn the money for livelihood, so that your aid only would be a formality. Zitator Übersetzung Lieber Herr, bitte sind Sie so freundlich zu entschuldigen, dass ich Ihnen schreibe. Doch vor einigen Tagen fand ich Ihren Namen im Chicagoer Telefonbuch. Und weil Sie mein Namensvetter sind, der Namensvetter eines seltenen Namens, und weil wir in großer Not sind, hoffe ich, mich an Sie um Hilfe wenden zu dürfen. Wir müssen innerhalb kürzester Zeit auswandern und nichts täten wir lieber, als in die USA zu immigrieren... Wir sind alle gesund und ganz sicher, dass wir unseren Lebensunterhalt bestreiten können, so das Ihre Hilfe nur eine Formsache wäre. O-Ton Friederike Fechner Natürlich haben sie ihn nicht rausgelassen, und da mussten seine Kinder sterben und viele aus der gesamten Verwandtschaft. Das ist nach Australien gegangen, nach Ecuador, in die USA, was weiß ich, überall hin. Atmo Straße Stralsund Sprecherin Jeder, der am Haus Heilgeiststraße 89 in Stralsund vorübergeht, muss an den Stolpersteinen für die ermordeten Familienmitglieder vorbei. Friederike Fechner gründete die „Initiative zur Erinnerung an jüdisches Leben in Stralsund“ und regte an, Stolpersteine in der Stadt zu verlegen. Jedes Jahr kommen neue dazu, zuletzt jene für die 13jährige Eva Dorn und ihre Eltern. Sie wurden 1943 nach Auschwitz deportiert. Die Stolpersteine in Stralsund sind blank geputzt, auch die in der Heilgeiststraße. O-Ton Friederike Fechner, Autorin auf der Straße Wir haben hier in Stralsund einen 80jährigen Herrn wohnen, Herrn Kunde. Herrn Kundes Mutter ist im Konzentrationslager Ravensbrück umgebracht worden, als er selber zwei Jahre alt war. Und Herr Kunde hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle vier Wochen in Stralsund sämtliche 55 Stolpersteine zu putzen. Das empfinden wir als unverzichtbar, weil ungeputzte Stolpersteine eine Ohrfeige für die Opfer sind, derer gedacht werden soll. Wenn man Stolpersteine legt, muss man sich um deren Pflege auch kümmern. - Aber wenn es so einen Menschen nicht gibt oder wenn es diesen Menschen einmal nicht mehr gibt, müssten das die Hauseigentümer machen? Ist so etwas geregelt? - Das ist nicht geregelt. Wir sind aber im Kontakt mit den Schulen, dass mittels Schulprojekten und Patenschaften diese Arbeit eine Fortführung findet, auch hoffentlich über Herrn Kunde hinaus. Ich will versuchen, dass Herr Kunde vielleicht die Schüler persönlich anleitet dazu. Das ist ein weiteres Projekt unserer Initiative, er ist auch Mitglied unserer Initiative. Atmo Straße Stralsund, dann verblenden mit Atmo am Denkmal Amsterdam s.o. Sprecherin Wenige hundert Meter weiter, in der Nähe des Stralsunder Marktplatzes, Ossenreyer Straße 53, liegen die Stolpersteine für Gaby Glassmans Großeltern Max Joseph und Gertrud Joseph, geborene Blach. Das Haus gibt es nicht mehr. Es wurde bei einem Bombenangriff zerstört - da waren die jüdischen Bewohner - darunter Gertruds Schwestern - bereits deportiert oder vertrieben worden. Gertrud Blach hatte in das Putz-und Modewarengeschäft Joseph eingeheiratet und führte es mit ihrem Mann Max Joseph. Rosemarie, die Tochter der beiden, wuchs dort auf: Gaby Glassmans Mutter. Von ihrer Jugendzeit in Stralsund hat Rosemarie ihrer Tochter oft erzählt: Antisemitismus war dort schon lange vor der NS-Zeit zu spüren. O-Ton Gaby Glassman, Autorin am Denkmal Meine Mutter wollte, als sie zehn Jahre alt war, Mitglied im Tennisklub werden. Das konnte sie nicht, da wurde sie nicht angenommen. - In welchem Jahr war das? - 1920. Und mein Onkel, der war sieben Jahre älter als meine Mutter, der hat furchtbar gelitten unter Antisemitismus. Der ist dann mit 16 von der Schule ab und zur Lehre nach Berlin gezogen. Meine Mutter hat 1929 das Elternhaus verlassen, weil sie das Studium Medizin angefangen hat. Aber sie hat noch in Stralsund geheiratet, es war eine der letzten jüdischen Hochzeiten in Stralsund. Sprecherin Rosemarie Joseph heiratete Günther Weishut. Auf diese Eintragung war Friederike Fechner bei ihrer Nachfahren-Suche gestoßen O-Ton weiter Das war Mitte Dezember 32, im Januar 33 ist Hitler an die Macht gekommen und dann hat sich alles geändert. Sprecherin Zum Treffen mit Friederike Fechner in Amsterdam hat Gaby Glassman eine alte Kassette mitgebracht. Es ist eine Aufnahme von 1988, da war sie mit ihrer Mutter bei einer deutschen Schulklasse zu Besuch: Rosemarie Joseph-Simons berichtet den Schülern von Wendepunkten ihres Lebens. Atmo Klicken Kassettengerät O-Ton Rosemarie Simons-Joseph von Kassette Und dann kam natürlich 33 Hitler an die Macht und wir haben dann schon gemerkt an der Universität, wenn da Petitionen waren, wenn man z.B. unterschreiben sollte, dass ein Professor, der judenfreundlich war, dass der nicht abgesetzt werden soll, da durften Juden nicht mitunterschreiben. Ich durfte nicht mit christlichen Studenten zusammen sein. Schließlich habe ich dann doch aufgehört zu studieren. Und 1935 ist mein Sohn geboren und wir haben doch schließlich gedacht, dass wir auswandern müssen. Und wohin? Wir haben eine Empfehlung für Rotterdam gekriegt, wo mein Mann in einem Kontor arbeiten konnte. Das habe ich auch getan. Wir sind 37 ausgewandert nach Holland. Wir haben in Haag gewohnt und mein Mann hat in Rotterdam gearbeitet. Das ging, bis 39 der Krieg ausbrach und 40 die Flugzeuge kamen. Wir mussten dann nach der Besetzung natürlich auch die Namen Israel und Sarah annehmen. Und alle Gesetze, die in Deutschland gegen Juden galten, galten in Holland auch. O-Ton Gaby Glassman am Denkmal Sie haben in Haag gelebt und dann 1938, bevor das Novemberpogrom stattfand, ist es gelungen, meine Großeltern nach Holland übersiedeln zu lassen. Mein Großvater war schon krank, er hatte unter Parkinson gelitten. Das war nicht einfach. Und leider konnten sie nicht die Geschwister meiner Großmutter retten, die im selben Haus gelebt haben. Der Abschied muss grauenhaft gewesen sein, denn man wusste schon damals nicht, ob man einander noch sehen würde. Die Korrespondenz ging noch bis nach Piaski, also auch noch nach der Deportation. denn die ersten Deportationen aus Deutschland die haben in Stralsund angefangen, schon im Februar 1940. Das habe ich nicht gewusst, dass das schon so früh war. Atmo vor Denkmal, s.o. Sprecherin Margarete, Paula und Else Blach, die Schwestern von Gabys Großmutter aus Stralsund, wurden in Piaski bzw. in Lodz umgebracht, die Tochter von Paula Blach in Lublin. Ihre Namen sind nirgendwo in Stein graviert. Das Holocaust-Denkmal in Amsterdam führt nur die Namen jener auf, die von Holland aus deportiert wurden. Nur kurze Zeit konnten sich die geflüchteten Juden in Holland sicher fühlen: Im Mai 1940 marschierten die deutschen Besatzer ein. O-Ton Gaby Glassman am Denkmal Die Bedrohung kam immer näher und war natürlich sehr beängstigend. Ende 41, Anfang 42 war wieder eine neue Verordnung und dann mussten alle nach Amsterdam umsiedeln. Die Deutschen waren sehr effizient. Sie wollten die Juden zentralisieren. Es wurde gesagt, wo sie wohnen sollen wegen der Razzias, und dann konnte man einfach aus den Häusern die Juden abholen, und das war öfters nachts. Atmo Klicken Kassettengerät s.o. O-Ton Rosemarie Simons-Joseph von Kassette Jedenfalls mussten wir von der Küste weg und sind dann untergetaucht, aber ohne unseren Sohn. Ein Kind in einem Zimmer - wir wussten ja nicht, wie lange das dauern wird. Und den haben wir zu sehr netten holländischen Menschen gegeben, die hatten einen Sohn verloren. Die haben ihn aufgenommen unter einem falschen Namen, er ist zur Schule mit einer Bibel gegangen. O-Ton Gaby Glassman Simons-Joseph am Denkmal Das waren ganz einfache Leute, sie hießen Kossen. Frau Kossen kam aus Friesland im Norden, und da wurde dann gesagt, dass Peter ein Neffe war aus Friesland. Und sein Name wurde geändert in Piet Wijsmar, also ein friesischer Name. O-Ton Rosemarie Simons-Joseph von Kassette Und die sind verraten worden, und wie mein Sohn aus der Schule kam, ist er in die Arme von der Gestapo gelaufen und ist mitgenommen worden und ist nach Bergen-Belsen deportiert. Das ist das Schlimmste, was ich erlebt habe. Aber er ist glücklich zurückgekommen. O-Ton Gaby Glassman Simons-Joseph am Denkmal Frau Kossen und er sind verhaftet worden und abgeschleppt. Sie ist nach Ravensbrück. Da ist sie umgekommen. Ihr Mann hat den Krieg überlebt und der kam immer zu uns, als Peter bei uns war. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je gesagt hat, dass seine Frau dadurch ihr Leben gegeben hat. Er war einfach ganz alleine nach dem Krieg. Musik vom Band: Gesang holländischer Frauen Ravensbrück darauf dann Sprecherin Gaby Glassman hat noch eine andere Kassette mit nach Amsterdam gebracht. Darauf sind Lieder, die holländische Frauen als Häftlinge in Ravensbrück gesungen haben. Immer wenn sie die Musik hört, kommt ihr Frau Kossen in den Sinn, jene Frau, die in dem deutschen Konzentrationslager ihr Leben verlor, weil sie ein jüdisches Kind gerettet hatte. Musik verblenden mit Atmo Straße Amsterdam, Friederike, Gaby ...F: Wir gehen an der Synagoge vorbei, über den Kanal rüber und durch den Wertheim-Park. Sprecherin Auf der Suche nach dem Widerstandsmuseum durch das einst jüdische Amsterdam. Vorbei am Denkmal zur Erinnerung an den Generalstreik gegen die deutsche Besatzung von 1941: Das einzige große und mutige Aufbegehren der holländischen Bevölkerung wurde blutig niedergeschlagen. Vorbei an der Schouwburg, dem jüdischen Theater, in dem alle Juden unmittelbar vor ihrer Deportation zusammengepfercht und erfasst wurden, auch Gaby Glassmans Großeltern. Heute ist es ein Mahnmal. Es scheint, als sei die Stadt voll von solchen Plätzen der Erinnerung. Atmo Straße Amsterdam, Gaby Glassman G: Nr. 61 ist Widerstandsmuseum, warte mal Friederike...Straße...Ampel... Atmo Museum darauf Sprecherin Auch das Niederländische Widerstandsmuseum ist ein solcher Ort der Erinnerung. Hier wird die Atmosphäre der Kriegsjahre rekonstruiert: Die deutschen Besatzer, die holländische Nazipartei NSB, die vielen Mitläufer, die wenigen, die sich aktiv, aber wirkungsvoll widersetzten, ihr Netzwerk aufbauten, um Verfolgten zu helfen. Verfolgten wie Rosemarie, Günther und Peter Weishut, Gaby Glassmans Familie. O-Ton Gaby Glassman im Museum Es waren mehr Leute im NSB als die Holländer, die hier Juden geholfen haben, um ins Versteck zu gehen. Also die meisten haben einfach nichts gemacht. Und jetzt weiß ich, dass, wenn man nur Zuschauer ist, dass man auch schuldig ist. Denn man erlaubt es dann, dass es stattfindet, dass die schlechten Taten, die Morde stattfinden können. Das kann nur stattfinden, wenn die örtliche Bevölkerung das erlaubt. Man hat davon gelernt, dass man sofort eingreifen muss. Man soll nicht vertrauen und abwarten: Es wird ja nicht so schlimm sein. Wir haben ja die Beispiele der Geschichte. Atmo Raum darauf Sprecherin Am System des Widerstands in Holland waren viele sogenannte kleine Leute wie die Kossens beteiligt: Arbeiter, Bauern, Angestellte, Handwerker, die durch ihr eher unauffälliges Leben nicht so unter Beobachtung standen und Menschen bei sich aufnahmen. Andere wiederum, oft Studenten, Ärzte und Pfarrer, besorgten durch ihre Kontakte neue Versteckadressen, falsche Ausweise, Lebensmittelkarten oder waren als Kuriere tätig. O-Ton Gaby Glassman, Friederike Fechner, Autorin im Museum G: Man musste ihnen natürlich vertrauen können. - F: Wie mutig die Menschen gewesen sind, die geholfen haben und Leute versteckt haben, ich finde das so mutig. - G: Und wenn man daran denkt, war das auch besonders mutig, weil man ja nie wusste, ob Nachbarn die Juden nebenan verraten würden. Die bekamen ja sieben Gulden fünfzig für jeden Juden, den sie angegeben haben. A: Sieben Gulden fünfzig?! - G: Ja. Ich weiß nicht, wieviel Geld das damals war, aber es war doch ein Betrag. Aber es ist ja egal, wieviel Geld es war, es geht ja darum, ob es moralisch in Ordnung ist oder nicht. Und die Angst - man wusste es wirklich nie. Denn es waren so viele, die mitgemacht haben mit den Deutschen. Sprecherin Es gab Verstecke, in denen Gaby Glassmans Mutter und ihr Mann nur wenige Tage bleiben konnten, weil dann schon wieder Gefahr drohte. In anderen konnte man mit einer falschen Identität offener leben, zum Beispiel als Mädchen für alles in einer Pension. Dann wieder gab es winzige Verliese unter Dielenbrettern - ein solches Versteck ist auch im Widerstandsmuseum nachgebaut worden. Gaby Glassman erinnert sich: So etwas hat sie schon einmal im Original gesehen: Bei einer Handweberin, die Rosemarie und Günther Weishut versteckt gehalten hatte. O-Ton Gaby Glassman, Autorin im Museum Meine Mutter hat meine Kinder und mich mal mitgenommen zu dieser Frau, die damals schon sehr krank war mit Multipler Sklerose und kaum noch gehen konnte. Aber sie hat Webegeräte gehabt, Webstühle. Und da waren die Versteckplätze, da musste man aus dem Fußboden so ein Brett heben. Wir haben uns vorstellen können wie das war, das war so ein halber Meter tief, ganz, ganz eng dort. Ja, dann war Gefahr und sie musste sich sofort dort in ihrem Zimmer verstecken. Meine Mutter hat erzählt, als Holland befreit wurde, da hat sie geweint, weil sie nicht wusste, wer überlebt hatte. Und wenn sie an Peter gedacht hat während des Krieges, dann hat sie die Suppe gerührt und ihre Tränen sind in die Suppe gekommen. Denn sie arbeitete in einer Pension, das war im Versteck, und sie war ein unterbegabtes deutsches Mädchen, was da mitgeholfen hat. Man durfte nicht spüren, dass sie ganz traurig war. - Und auch nicht, dass sie klug war. - Nein, bestimmt nicht. Sprecherin Damals war aus Rosemarie Weishut, geborene Joseph, aus Stralsund Carla Johanna de Lange geworden, geboren in Krefeld. Gaby Glassmann hat einen der falschen Ausweise ihrer Mutter mitgebracht. Ähnliche Dokumente finden sich im Amsterdamer Widerstandsmuseum, ebenso wie gefälschte Lebensmittelkarten und: Tulpenzwiebeln. O-Ton Gaby Glassman im Museum Sie hat 42 Kilo gewogen, war wirklich unterernährt und im Hungerwinter von 44 zu 45 hat sie von Zuckerrüben und Tulpenzwiebeln gelebt. Wenn man so bedürftig ist, nimmt man alles, was man bekommen kann. Sprecherin Peter Weishut war im Alter von acht Jahren allein ins KZ Westerbork deportiert worden, eines der beiden sogenannten Durchgangslager in den Niederlanden. Von dort aus wurden die meisten Juden in die Vernichtungslager geschickt. Peter Weishuts großes Glück war, dass er dort seine Lehrerin aus der jüdischen Schule wieder traf. Sie nahm sich seiner an, auch später im KZ Bergen-Belsen, wo er ein weiteres Jahr leiden musste. Von dort aus wurde am Kriegsende ein Zug voller Häftlinge Richtung Osten geschickt. Darin Peter, wieder allein. Der Zug wurde dann in Tröglitz, einem Ort im heutigen Sachsen-Anhalt, von der Roten Armee befreit. Atmo Klicken Kassettengerät O-Ton Rosemarie Simons-Joseph von Kassette Was war das furchtbar, als der Krieg vorbei war, da waren in Holland auf der Straße die Drehorgeln, alle waren froh, aber mir liefen die Tränen runter. Denn wir hatten noch keine Nachricht, ob unser Soff noch lebte. O-Ton Gaby Glassman, Friederike Fechner im Museum Und dann hat meine Mutter am 13. Juli gehört, das war 13. Juli 45, das er noch lebt, noch am Leben war. F: Das habe ich hier im Handy das Dokument, das Telegramm! Kannst du es lesen? - G: Pietje gezond in Losdrecht angekomen, Watermann. Sprecherin Friederike Fechner hat auch das Antworttelegramm der Mutter parat. Sie bekam eine Kopie davon von Peter Weishut, als sie ihn 2018 für ihre Forschungen zur Familiengeschichte der Blachs befragen konnte. Heute fühlt sich der 87jährige, der in Amsterdam lebt, gesundheitlich nicht mehr für ein Interview in der Lage. O-Ton Gaby Glassman, Friederike Fechner im Museum F: Da steht: Overgelukkig...G: liest auf holländisch, dann deutsch: Überglücklich, dich wieder in Holland zu haben, Ankunft Sonntag Abend 18.16 Hilversum mit dem Zug aus Amsterdam. Musik Gesang holländischer Frauen Ravensbrück Sprecherin Viele Menschen haben zur Rettung ihres Bruders beigetragen, eine Frau gab dafür ihr Leben. Gaby Glassman erzählt von der Schuld, die ihre Mutter ein Leben lang empfunden hat. O-Ton Gaby Glassman Meine Mutter hat weniger Schuld, weil sie ihre Eltern noch rausholen konnte. Aber sie hat viel Schuld, weil sie ihren Sohn nicht retten konnte und dass er alleine nach Bergen-Besen gehen musste. Ich weiß von keinem Kind, das allein deportiert worden ist. Manche Kinder haben natürlich dort ihre Eltern verloren. Was hätte sie machen sollen? Otto Frank beispielsweise wird öfter angekämpft, weil er, wie man sagt, so blöd war, seine Familie zusammen ins Versteck gehen zu lassen und dass das viel zu risikovoll war. Die meisten sind also getrennt ins Versteck gegangen. Die Hoffnung war, dass mein Bruder Peter ein relativ normales Leben haben würde, weil es zwar schlimm war ohne Eltern, aber weil er bei einer Familie war. Hoffentlich würde da keine Gefahr sein. Der arme Junge, was könnte er machen? Er war keine Gefahr für niemanden. Nachdem er bei den Kossens eingezogen war, hat er seine Eltern doch noch ab und zu sehen können. Aber er musste dann immer Tante und Onkel zu ihnen sagen, weil es sonst als zu gefährlich erachtet wurde. Und in Bergen-Belsen war er auch so vernünftig, das ist mir erzählt worden. Er hat ein paar Mal Pakete bekommen mit Zuckerwürfeln, so eine Hilfe, um am Leben zu bleiben. Und da war er so vernünftig, dass er das nicht alles sofort gegessen hat. Und er immer gedacht hat: Das soll ich bewahren, bis ich wirklich hungrig bin. Und natürlich ist das für ein Kind, das so wenig zu essen bekommt, einfach so eine Selbstbeherrschung, die er gezeigt hat. Atmo Begrüßung, Pauline und Kees Pilaar ...holländisch... darauf Sprecherin Ein Vorort von Amsterdam. Gaby Glassman und Friederike Fechner besuchen Pauline Pilaar, auch ihr Sohn Kees ist gekommen. Die fast 90jährige ist eine langjährige Freundin von Gaby Glassman. Ihre Familiengeschichte verbindet sie: Pauline Pilaars Vater, Paul Wouter war der Hausarzt der Familie in Haag. Er war es, der dem geflüchteten jüdischen Paar aus Deutschland insgesamt fünf Versteck-Adressen besorgte. O-Ton Pauline Pilaar Mutter, Sohn Keek, in de Oorloog - in dem Krieg, werden die Menschen in Angst. Dann fragen sie oft die Doktoren: Können Sie etwas tun für unsere Kinder? Für uns? - Sohn: Die Ärzte und die Pfarrer geworden sind, die haben einander geholfen, um die Adressen von Bauern und einfachen Leuten in ihrer Gegend zu nennen, von denen sie wussten, dass sie betraubar waren. Also das war die Art Organisation. Und die Mithilfe waren auch Studenten, junge Studenten ohne Familie. Sie konnten größeres Risiko machen. Und darum hat meine Großmutter ja gesagt: Großvater war kein Held, er hatte immer Angst. Sprecherin Gaby Glassman hat ein Schreiben mitgebracht, dass der Arzt nach Kriegsende aufgesetzt hatte. Denn Rosemarie und Günther Weishut mussten nun gegenüber den niederländischen Behörden nachweisen, dass sie als Deutsche nicht etwa mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatten, sondern dass sie Verfolgte des Regimes waren. Nach dem Krieg war ihre Ehe geschieden worden, Rosemaries zweiter Mann René Simons war ebenfalls ein aus Deutschland geflüchteter Jude. O-Ton Gaby Glassman, liest Hier hat dein Vater geschrieben: Ich, Dr. P.A.V., Arzt in Den Haag, erkläre Folgendes an Eides Statt. Ich kenne Frau R. Simons, geborene Joseph - also meine Mutter war damals schon wieder verheiratet dann - seit 1937. Als sich dann... Zitator übernimmt Als dann in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 die Verhältnisse für die in Holland lebenden Juden infolge der deutschen Verfolgungsmaßnahmen sehr kritisch wurden, beschloss Frau Simons mit ihrem damaligen Mann, Herrn Dr. Günther Weishut, unterzutauchen. Es ist mir bekannt, dass Frau S. vom 8.8.42 an bis zum Ende des Krieges am 4.5.45 ununterbrochen illegal gelebt hat. Frau Simons und ihr Mann waren gezwungen, lange Zeit in einem unterirdischen Verlies ohne Licht und Heizung, in dem man nicht stehen und nur zur Not sitzen konnte, im Versteck zu verbringen. Auch hier sind sie... Auch hier sind sie in den neun Monaten, die sie bei der Familie van Ij nicht an die Luft gekommen. Der Sohn und die Tochter der Frau van Ij wurden nacheinander wegen illegaler Aktivität verhaftet. Herr van Ij junior wurde zum Tode verurteilt. Auch ich selbst wurde verhaftet. Sprecherin Der Arzt Paul Vouter und seine Frau Margarete kümmerten sich nicht nur um Versteckadressen für die Flüchtlinge aus Deutschland. Sie retteten auch viele jüdische Kinder, die von Mitgliedern des Widerstands in Amsterdam in Sicherheit gebracht werden konnten. Kuriere, darunter die Schwester von Margarete Vouter, begleiteten dann die Kinder bis ins Haus der Arztfamilie nach Den Haag. Dort blieben sie einige Tage, bis Dr. Vouter eine Familie auf dem Land gefunden hatte. Menschen, die den Mut aufbrachten, ein jüdisches Kind unter falschem Namen aufzunehmen. Selbst in der eigenen Familie musste das ein Geheimnis bleiben. Tochter Pauline, damals zwölfjährig, durfte nichts wissen. O-Ton Pauline Pilaar, Mutter, Sohn Ich sagte: Warum sind die Kinder hier? Meine Mutter sagte: Das sind kranke Kinder, die haben den Doktor nötig. Das war das einzige, was sie sagte. - Sohn: Die hatten Courage, sie mussten das tun. Das habe ich auch meine Großmutter oft gefragt, sie hatte eine Familie mit drei Kindern: Wusstest du nicht, was dann könnte passieren, wenn sie werden verhaftet und entdeckt? Und sie hat auf Englisch gesagt - sie ist Kanadierin: Ignorance is a bliss when it is folly to be wise - beide lachen - Ignorance ist a bliss, also: Sich nicht realisieren, was konnte passieren. Wenn man darüber nachdenkt, soll man das nicht machen. Aber wir haben das nicht realisiert, das hat uns die Courage gegeben und die Überzeugung: Wir sollen das machen! Atmo Raum, Gaby Glassman, Pauline Pilaar darauf Sprecherin Pauline Pilaar hat eine gerahmte Urkunde auf den Tisch gelegt und ein kleines Kästchen, darin eine Medaille: Die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“. Ihre Eltern bekamen sie posthum. Eine Ehrung des Staates Israel für nichtjüdische Einzelpersonen, die ihr Leben einsetzten, um in der NS-Zeit Juden vor der Ermordung zu retten. Bei der Übergabezeremonie war auch Gaby Glassman mit dabei, sie und andere Nachkommen geretteter Familien füllten einen kleinen Saal: Menschen, die ohne den Mut von Margarete und Paul Vouter nie geboren worden wären. Pauline Pilaar nimmt vorsichtig die Medaille aus dem Kästchen. O-Ton Pauline Pilaar Mutter, Gaby Glassman Hier haben Sie die Namen von Paul-Antoine, meinem Vater, und Margaret-Quien Vouter. Und hier ist das hebräisch. Und das sagt: Le peuple juif reconnaissant. It means: The Jewish people in thankfulness. Thankfulness, is that English? - G: Gratitute... Sprecherin Und der Spruch auf der Urkunde: O-Ton hoch He who saves a life…Wer ein Leben rettet, rettet the whole of the universe.- G. Wer ein Leben rettet, rettet das Leben der ganzen Welt. Musik Cello Friederike Fechner Bach Sprecherin Bei dem Besuch in Amsterdam sind für Friederike Fechner viele Mosaiksteinchen zusammengekommen. Das Bild der aus Stralsund vertriebenen Familie Blach wird immer vollständiger, gefüllt mit Menschen, Geschichten, Eindrücken, Bildern. Inzwischen fand Fechner Nachfahren in vier Ländern, besuchte viele von ihnen, wurde besucht, organisierte Treffen in London und Stralsund. Und sie war Zeugin vieler virtueller Treffen der Familienmitglieder. Atmo Skype-Signal s. vorn O-Ton Friederike Fechner Ganz besonders nett fand ich, dass die mich immer in Kopie gesetzt haben, und mich immer sozusagen teilhaben ließen. Es waren auch oft einfach Mails, aber es gab auch Skype-Konferenzen - die gar nicht aufhören wollten, die unglaublich lange gedauert haben. Das war mir total wichtig, dass ich das miterleben durfte, das waren unglaubliche Familienstorys, die da stundenlang hin und her geworfen wurden. Ich habe dazu gar nichts gesagt, ich war nur Zaungast. Ich fand das sehr berührend und toll. Sprecherin Inzwischen wurde die Cellistin für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt und mit dem Obermayer-Award - einer Auszeichnung, die eine Stiftung in den USA an Menschen vergibt, die sich der Erforschung jüdischer Geschichte widmen. O-Ton Friederike Fechner Wir haben sozusagen alle Blachs ermittelt. Wir sind noch an einer Familie in Südamerika dran, die noch nicht so richtig Zutrauen gefasst hat. Dann habe ich gesagt: Das hat so eine Welle ausgelöst, das kann jetzt nicht einfach aufhören! Wir wollen das eigentlich für alle Familien versuchen, Nachfahren zu kontaktieren und die nach Stralsund einzuladen und ihnen ihre familiären Wurzeln, wenn sie sie nicht schon von selbst gesucht haben, anbieten. Und eine von unseren Mitgliedern hatte die Idee, ein digitales Gedenkbuch zu erstellen für sämtliche Stralsunder Juden. Sämtliche Stralsunder Juden, die ab 1856 in Stralsund gelebt haben, dort geboren sind oder auch zugezogen sind und von dort deportiert wurden. Wir haben alle recherchiert, es sind über 200, mehr als im Stadtarchiv. Wir haben auch Mischehen mit hineingenommen, die haben ja genauso gelitten. Das ist glaube ich ein tolles Projekt, auf dass dann Schulen zugreifen können für ihren Unterricht, aber auch Nachfahren nach ihren familiären Wurzeln forschen können. Das ist glaube ich ein sehr sinnstiftendes Projekt. Sprecherin Seit November 2021 ist das digitale Gedenkbuch der Stadt Stralsund online. Friedchen Blach und Carl-Philipp, Gertrud, Margarete, Paula, Ernst, Friedrich, Gerd, Paul-Samuel, Hans, Rosemarie. So viele Gesichter aus der Familie Blach schauen den Betrachter aus dem Gedenkbuch heraus an. Fotos von Bürgern einer deutschen Stadt. O-Ton Gaby Glassman Sie sind wieder Menschen geworden. Sie leben wieder. Sie sind wieder ein Teil der Bevölkerung in Stralsund. Da sieht man: Wenn man bestimmte Gruppen aus der Gemeinschaft trennt, dann existieren sie nicht mehr. Und dann denken andere: Die gehören nicht zu uns. Aber die Tatsache war, dass die schon viele Jahre dort gelebt hatten, gute Kontakte hatten. So ein digitales Monument im Web, das ist etwas Unglaubliches, da sind alle Geschichten auch zu lesen. Und so kann die Familie Blach weiterleben. Das ist eine Riesen-Arbeit, um das alles zu forschen. Friederike kennt jetzt fast meine Familie besser als ich selber - und ich wurde immer als diejenige beachtet, die am besten Bescheid wusste! Atmo Cello Friederike Fechner, Bach O-Ton Friederike Fechner Das ist wirklich einfach sehr bewegend, wie positiv diese Arbeit von den Nachfahren wahrgenommen wird. Und ich glaube, das trägt auch sehr zur Heilung bei dieser Arbeit. Weil die Wunden mitnichten geheilt sind. O-Ton Gaby Glassman Für mich jetzt, was es bedeutet: Es hat mir enorm bei meiner Identität geholfen. Mein Jüdisch-Sein sehe ich jetzt als eine Linie, die zurückgeht bis 1730, wo das älteste Dokument zum Vorschein gekommen ist. Jetzt ist kein Bruch zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Früher konnte ich nur zurückgehen bis zum Holocaust und dann war eine Lücke. Und jetzt ist es einfach: Es fließt und ich habe das Gefühl, dass ich eine große Familie habe. Atmo Cello hoch darauf Zitator Hauskauf mit Geschichte - Eine Stralsunderin führt die jüdische Familie Blach wieder zusammen. Ein Feature von Alexa Hennings Es sprachen: Nicola Gründel und Daniel Berger Am Cello: Friederike Fechner Ton: Oliver Dannert Regie: Anna Panknin Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Norddeutschen Rundfunk 2022. ENDE 24