Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Der verlorene Frieden Deutschlands Einsatz in Afghanistan 6-teilige Serie - Folge sechs: (6/6) Countdown Autor: Marc Thörner Regie: Matthias Kapohl Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2021 Erstsendung: Dienstag, 02.03.2021 Wiederholung: Dienstag, 04.01.2022 Es sprachen: Jean Paul Baeck, Martin Bross, Jochen Langner, Marion Mainka, Volker Risch, Katerina Wolter und der Autor Ton und Technik: Gunther Rose und Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton Potzel: Wir haben über die Jahre die Amerikaner immer wieder dazu gedrängt, direkte Gespräche mit den Taliban aufzunehmen. Autor: Markus Potzel, Afghanistan-Sonderbeauftragter der deutschen Bundesregierung. O-Ton Potzel: Konkret haben wir im Juli 2019 in Doha eine Dialogkonferenz organisiert, wo es tatsächlich erstmals gelungen ist, Vertreter der Taliban mit Regierungsvertretern, mit Vertretern der Zivilgesellschaft Afghanistans zusammenzubringen. Autor: Botschafter Markus Potzel hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Friedensgespräche zwischen Taliban, US- und afghanischer Regierung jetzt stattfinden. O-Ton Potzel: Da ist eine Dynamik in Gang gekommen, die mich sehr überrascht hat. Zwei Tage lang haben dann Taliban und Afghanen aus Afghanistan zusammengesessen und haben sich kennengelernt und haben sich ihre Standpunkte um die Ohren gehauen, um das mal salopp zu sagen und - ja, da ist schon was aufgebaut. Ansage: Der verlorene Frieden - Deutschlands Einsatz in Afghanistan Feature-Serie von Marc Thörner Folge 6 Countdown Autor: Doha, Katar, Anfang 2021. Eine Skyline rund um eine Bucht. Auf engem Raum drängen sich Hochhäuser aus Glas, Sandstein und Beton, gebaut nach allen denkbar möglichen Stilen und Traditionen. Maurisches Dekor umrankt knallharten Beton. Pop Art trifft Wüste. Drehscheibe Katar. Hier sprechen Iraner mit Arabern, Araber mit Israelis - und deutsche Diplomaten mit den Taliban. O-Ton Potzel: Viele von denen waren in Guantanamo. Ich sitze da mit Leuten zusammen, die zehn, zwölf Jahre in Guantanamo gesessen haben. Das merkt man denen auch teilweise an. Autor: Inzwischen finden sich in den Hotelzimmern ringsum die Mitglieder der Verhandlungsdelegationen. Khaled Atta Nur vertritt eine Partei der so genannten Nordallianz, die der amtierenden afghanischen Regierung nahesteht. Khaled Atta Nur: Übersetzer: Allein die Tatsache, dass wir verhandeln, ist bereits ein Erfolg. Zum ersten Mal sitzen die Taliban einem Verhandlungsteam wie unserem gegenüber, einem Team, das die afghanische Republik, das afghanische Volk vertritt, und, was am wichtigsten ist: die Taliban sprechen mit Leuten, die das neue pluralistische und vielfältige Afghanistan repräsentieren. Autor: Aus einem anderen Hotelzimmer lässt der Vertreter der Taliban, Muhammad Naeem Wardak, seine selbstbewussten Statements per Skype und Whats App in die Welt hinaus scheppern. Atmo: Muhammad Naeem Wardak: Autor Zwanzig Jahre lang, so stellt er fest, dauere der Krieg schon. Die Kämpfe würden erst dann endgültig vorbei sein, wenn die Ursachen beseitigt seien. Zwei Jahre lang hätten die Verhandlungen mit den Amerikanern gedauert. Es werde weitere Zeit in Anspruch nehmen, bis man sich nun mit der afghanischen Regierung verständigen könne. Klar sei: Zu Ende könne der Krieg erst dann sein, wenn sämtliche ausländischen Besatzer aus Afghanistan abgezogen sind. Mit der Organisation der Doha-Friedensgespräche schließt sich für Deutschland ein Kreis. Schon vor zwanzig Jahren, im Winter 2001, hatte die Bundesregierung am Bonner Petersberg, die entscheidende Konferenz über Afghanistans Zukunft ausgerichtet. O-Ton Potzel: Die Petersberg-Konferenz 2001 hatte ja den Webfehler, dass die Taliban daran nicht teilgenommen haben. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Sicherlich hätte man damals nicht davon ausgehen dürfen, dass die Taliban geschlagen waren. Aber das war damals die allgemeine Auffassung. Autor: Deutschland, das Land, das Pate für ein Afghanistan ohne die Taliban stand - jetzt steht es wieder Pate. Für ein Afghanistan mit den Taliban. Auf der afghanischen Regierungsseite sind im Wesentlichen dieselben vertreten, die schon vor zwanzig Jahren, 2001 in Bonn dabei waren. Nur mit ein paar mehr Falten im Gesicht. O-Ton Potzel: Also Hamid Karsai zum Beispiel, der frühere Präsident. Sayyaf der Islamistenführer. Dostum, der ehemalige Erste Vizepräsident und Usbeken-Führer, also illustre Namen, die wir aus den letzten 40 Jahren Krieg in Afghanistan durchaus kennen. Autor: Das gilt auch auch für Mohammed Atta, noch immer mächtiger Strippenzieher im Norden und langjähriger Gouverneur am deutschen Truppenstandort Mazar-e-Sharif. O-Ton Potzel: Atta hat schon noch Einfluss. Nicht zuletzt über seinen Sohn Khaled Nur, der Teil des Verhandlungsteams ist. O-Ton Khaled Atta Noor: Übersetzer: Ich weiß, wir haben einen schweren und steinigen Weg vor uns. Wir stehen vor sehr schwierigen Verhandlungen. Aber ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir zu einer politischen Vereinbarung kommen könnten, zu einer Friedensvereinbarung. Wir glauben, dass dieser ganze Krieg sinnlos ist und dass die einzige Lösung in Verhandlungen besteht. Autor: So Attas Sohn, Khaled Atta Nur. Er ist nicht der einzige Sohn, der in Doha die alte Warlordgeneration der Nordallianz vertritt. O-Ton Potzel: Der Sohn oder ein Sohn von Dostum übrigens auch, Batur Dostum. Autor: Der ersten Warlordgeneration folgt also bereits diejenige der Kinder: Weltläufig, polyglott, auf internationalen Unis ausgebildet. Und noch etwas ist seit 2001 aufseiten der afghanischen Regierung hinzugekommen. Atmo: Flugzeug / Palmeninsel-Motiv Wenige Minuten vor der Landung zeigt sich im Meer vor Dubai die Palmeninsel, das Jumeirah-Island. Sandbänke, mit Baggern künstlich aufgeschüttet in Form einer riesigen Palme, gespickt mit Luxusvillen. Entstanden in den letzten zehn Jahren. Auch dank Investitionen aus Afghanistan. O-Ton Thomas Ruttig: Wenn man zwischen Kabul und Dubai hin- und herfliegt, trifft man halt immer wieder Politiker und Geschäftsleute, die da rüberfahren, die da Besitz haben, die da wohnen, die da investiert haben. Autor: Thomas Ruttig, Mitbegründer und Co-Direktor des renommierten Afghanistan Analyst Network mit Sitz in Kabul und Berlin. Er geht davon aus, dass afghanische Regierungspolitiker das Geld für diese Immobilien aus internationalen Hilfsgeldern abgeschöpft haben. Thomas Ruttig: Und wenn die dort auch Besitz da haben, dann ist klar, dass das nicht aus ihren offiziellen staatlichen Funktionen herrühren kann. Das könnten sie sich dann nicht leisten. Es ist bekannt, dass einige von denen, unter anderen ein früherer Vizepräsident, Zia Masoud, Grundstücke auf dieser Palmen-Jumeirah, künstlichen Inselgruppe dort besitzen. Das ist nun wirklich das absolute Top-End-Quartier in Dubai. Da haben Leute wie der Fußballer Beckham Wohnungen. Autor: Auf die Palmeninsel einkaufen konnten sich auch Führungspersönlichkeiten der tadschikisch und usbekisch geprägten Nordallianz von Verhandlungsführer Abdel Hafis Mansur. Dabei geben gerade sie sich als die Siegelbewahrer von Rechtsstaat und Demokratie. Als Streiter für einen gesellschaftlichen Gegenentwurf zum religiösen Staat der Taliban. Als diejenigen, die Gleichheit zwischen Männern und Frauen anmahnen. Abdel Hafis Mansur, ein weiterer Verhandlungsführer der Nordallianz. O-Ton Abdel Hafis Mansur: Übersetzer: Als islamische Republik ist für uns der Schutz von Frauenrechten enorm wichtig, der Rechte von Benachteiligten und faire Wahlen. Bei diesen Punkten gibt es aus unserer Sicht keinen Spielraum für Verhandlungen. Autor: Die Rechte afghanischer Frauen. Wie kein anderer Punkt steht dieser Punkt für den Ausgang der Verhandlungen. Wenn in den letzten zwanzig Jahre etwas erreicht wurde - so jedenfalls weltweit die öffentliche Wahrnehmung - dann wenigstens in den Sektoren Frauenbildung und Frauenrechte. Und deshalb verweist der deutsche Afghanistan-Sondergesandte Markus Potzel gerade bei diesem Punkt auf eine rote Linie. O-Ton Potzel: Wenn die Taliban an der Regierung beteiligt sein werden und versuchen durchzusetzen, Verhältnisse zum Beispiel, die zwischen 1996 und 2001 geherrscht haben, so dass Frauen nicht allein das Haus verlassen dürfen - dann wird es wohl sehr schwer werden, deutsche Steuerzahler davon zu überzeugen, Steuergeld als Entwicklungshilfe in Afghanistan einzusetzen. Autor: Dass verglichen mit der Taliban-Herrschaft bis 2001 die Bildungschancen für Mädchen und Frauen sprunghaft angestiegen sind, ist unbestritten angesichts der Vielzahl von neuen Schulen und Universitäten. Doch wie sieht es mit den Frauenrechten aus? Autor: Mazar-e-Sharif, Nordafghanistan, Haftanstalt für Frauen, Frühjahr 2019. Harun, unser afghanischer Mitarbeiter, bittet um Einlass. Und erklärt dem wachhabenden Polizisten, dass der Gefängnisdirektor die Recherche für das deutsche Radio schon abgesegnet hat. Die Eisentür geht auf. Die Frauen, die hier rund um einen Innenhof untergebracht sind, ergreifen sofort die Gelegenheit, ins Mikrophon zu sprechen. Die afghanische Regierung habe sie an diesem Ort vergessen, klagen sie. In einem mit Teppichen überdachten Verschlag sitzen zwei Frauen, die noch sehr jung zu sein scheinen. O-Ton "Schwester": Übersetzerin: Das ist meine Schwester. Sie ist von zu Hause, von unserer Familie weggelaufen. Ich bin ihr hinterher, um sie zurückzuholen. Ich weiß nicht, was mir vorgeworfen wird, und weshalb sie mich in diesem Gefängnis festhalten. Autor: Ihre jüngere Schwester kauert mit abgewandtem Gesicht auf ihrer Matte. Sie möchte sich nicht äußern. O-Ton "Schwester": Übersetzerin: Unser Bruder hat uns zusammen aufgegriffen. Dann wurden wir hierher gebracht. Der Mann, der mit meiner Schwester zusammen ausgerissen ist, ist inzwischen wieder frei gelassen worden. Aber wir beide sind noch immer hier, seit zwei Tagen. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier noch bleiben müssen. Autor: Sich als Frau von zu Hause zu entfernen, unverheiratet und noch dazu mit einem fremden Mann, ist in Afghanistan nach wie vor verboten. Seit dem Sturz der Taliban hat sich daran in der derzeit real existierenden islamischen Republik Afghanistan nichts geändert. Verletzung von Anstand und guten Sitten. - Bei vielen der hier Einsitzenden geht es genau darum. Und noch etwas anderes fällt auf in diesem Frauengefängnis nur wenige Minuten vom deutschen Bundeswehrstandort Mazar-e-Sharif entfernt: Die Frauen, die hier einsitzen, stammen ausschließlich aus ärmeren Verhältnissen. Ein Zeichen für das, was sowohl Menschenrechtsorganisationen als auch internationale Geberländer seit Jahren monieren: Die Korruption in der Justiz. Reinhard Erös. Ex-Offizier der Bundeswehr und nun Entwicklungshelfer im Osten des Landes: O-Ton Erös: Afghanistan ist nach Angaben von Transparency International das drittkorrupteste Land auf diesem Globus. Und das, nachdem wir 18 Jahre jetzt schon dort sind. Und Korruption heißt, es funktioniert alles nur, wenn man Geld hat. Und wenn ich wiederum jetzt dort mit meinen afghanischen Mitarbeitern, den Lehrern und Ingenieuren und Ärzten, die wir dort haben, spreche - dann sagen sie: Wenn wir ein juristisches Problem haben, dann gehen wir doch nicht zum afghanischen Polizisten oder Staatsanwalt oder zum Richter, dann gehen wir zum Taliban-Richter. Und der spricht dann Recht auch in unserem Sinne. Der ist nicht korrupt. Wenn ich zu einem staatlichen - in Anführungszeichen also "normalen" Richter gehe, da gewinnt dann immer der den Prozess oder die Verhandlung mit dem Richter, der ihn am meisten schmiert. Autor: Sind die Taliban also am Ende nicht so schlimm, wie sie aus westlicher Perspektive stets erscheinen? Könnten sie sich aus ihrer Stärke heraus, zu Kompromissen bereit erklären? Markus Potzel, deutscher Sondergesandter für Afghanistan: O-Ton Potzel: Man muss auch einen Unterschied machen zwischen denen, die in Doha sitzen und quasi das Außenministerium der Taliban bilden mit denen, die dann im Feld sind, die Kommandeure, die da Krieg betreiben oder auch diejenigen, die in Quetta oder Karatschi oder Peschawar sitzen, Miran Shah. Das sind ja auch oftmals gebildete Leute, die durchaus auch eine Ahnung davon haben, wie sich die Gesellschaft in Afghanistan verändert hat. Die Taliban sagen, dass sie Mädchen in Zukunft den Besuch der Schule erlauben wollen, dass sie auch erlauben wollen, dass Frauen bestimmte Berufe ausüben. O-Ton Mahsa Taee: Ehrlich gesagt, meine Meinung ist: Ich finde, die Taliban haben sich nicht geändert. Überhaupt nicht. Autor: Mahsa Taee, Publizistin aus Afghanistan, lebt seit mehr als zehn Jahren im Exil in Hamburg, zusammen mit ihrem Mann Ahmed Hashemi, dem ehemaligen Chefredakteur einer Tageszeitung. O-Ton Mahsa Taee: weiter Wir sehen jetzt in den Friedensgesprächen in Doha, was passiert. Sie wollen immer alles wie früher machen, weil: sie finden sich stärker als früher. Und das ist die Schuld von unserer Regierung. Die letzten 20 Jahre. Vor 18 Jahren waren die Taliban nichts. Sie haben sich wieder stark gemacht nur wegen unserer Fehler. Wir haben nichts gemacht. Jeder, als er einen Platz in der Regierung gekriegt hat, denkt über sich nach, nur über die Familie. Nur für sich selbst. Deshalb haben sich die Taliban wieder stark gemacht. Autor: Aus Sicht von Vertretern der afghanischen Zivilgesellschaft weist die afghanische Regierung in Sachen Meinungsfreiheit, Menschenrechte und Demokratie eine vernichtende Bilanz auf. Mahsa Taee sagt, sie und ihr Ehemann seien dafür die besten Beispiele. Dass sie beide nicht als Publizisten in Afghanistan arbeiteten, sondern als Flüchtlinge in Deutschland sein müssten, habe nichts mit den Taliban zu tun. Das liege an der afghanischen Regierung. Irgendwann nämlich sei es dem damaligen Präsidenten Hamid Karzai lästig geworden, dass ihre Zeitung ‚Payman Daily' immer wieder die mit Karzai verbündeten Machteliten kritisierte. Daraufhin habe der damalige Präsident mithilfe einiger Religionsgelehrter ein Gutachten lanciert. Die Religionsgelehrten erklärten sie und ihren Mann darin öffentlich zu "Feinden des Islam". Atmo: Ulema-Rat Autor: Kurz darauf seien Polizisten in die Räume ihrer Zeitung eingedrungen. Als sie das erzählt, wechselt Mahsa Taee in ihre Muttersprache Dari. O-Ton Mahsa Taee: Übersetzerin: Wir hielten den Beamten vor, dass sie dafür mindestens einen Haftbefehl brauchen. Aber die verantwortlichen Polizisten erklärten uns, das sei überhaupt nicht nötig. Sie hätten gerade telefonisch mit dem Präsidenten gesprochen, damals Hamid Karzai. Und der Präsident selbst habe ihnen mündlich die Anweisung erteilt, uns zu verhaften. Deshalb weiß ich, dass der damalige Präsident selbst hinter der Sache steckte. Karzai hat auch die Demonstrationen gegen uns und unsere Zeitung lanciert. ‚Payman Daily' war sehr populär, wir verfügten auch über eine Internet-Seite und überall in Afghanistan konnten die Leser drauf zugreifen. Und darin und in unserer ständigen Kritik sah Karzai eine Gefahr für sich. Autor: Ihr Mann, der ehemalige Chefredakteur Ahmed Hashemi: O-Ton Hashemi: Übersetzer: Als Präsident Karzai mich zu einem Gespräch über die aufgeheizte Situation empfing, sagte er mir: "Persönlich habe ich gar keine Probleme mit der Zeitung ‚Payman Daily'. Ich bin der Präsident eines demokratischen Landes und freue mich über kritische Stimmen. Aber der Rat der Religionsgelehrten toleriert die Zeitung nicht. Er hat ein Gutachten erstellt, nach dem die Zeitung gegen den Islam gerichtet ist - und wer gegen den Islam ist, kann umgebracht werden." So hat Karzai es immer gemacht. Er benutzte den Rat der Religionsgelehrten als ein Instrument. Wenn er irgendjemanden in seinem Staat nicht haben will, sagt er niemals: Ich will dich nicht. Er sagt: Der Rat der Religionsgelehrten will dich nicht. Autor: 2010, nach dem religiösen Schuldspruch, mussten Ahmed Hashemi, Mahsa Taee und ihre Kinder aus Afghanistan fliehen. Während der damalige Präsident Hamid Karzai heute in Doha wieder als Elder Statesman an den Friedensverhandlungen mitwirkt, hält sich der ehemalige Chefredakteur in Hamburg mit verschiedenen kleinen Gelegenheitsjobs über Wasser, unter anderem als Paketbote. O-Ton Hashemi: Ich stehe um fünf Uhr auf, ich gehe fast um sechs Uhr raus. Um sieben Uhr fange ich an mit der Arbeit und ich komme fast um 18 Uhr nach Hause. Den ganzen Tag weg. wegen gar nichts. Ich bringe am Ende des Monats ein bisschen Geld zum Leben, das reicht auch für meine Familie. Und ich bin gar nicht zufrieden und jeden Tag versuche ich, einen anderen Job zu finden. Das ist mein Leben. Autor: Dabei haben er, seine Frau und ihre Kinder noch Glück gehabt. Ihnen blieb wenigstens das Leben. Zehn Jahre später hat sich die Lage nicht etwa gebessert, sondern deutlich verschlimmert. Seit dem Herbst 2020 rollt durch Afghanistan eine regelrechte Mordwelle durchs Land. Innerhalb weniger Monate wurde ein halbes Dutzend bekannter Journalisten umgebracht. Zitator Yama Siawash. Elyas Dayee. Malala Maiwand. Fardin Amini. Rahmatullah Nikzad, ? Freshta Kohistani. Bismillah Adel Aimaq. Autor: Morde an unbequemen Chronisten der aktuellen Situation. Morde, die internationale Beobachter teils den Taliban anlasten. Teils aber auch Gruppen, die mit der afghanischen Regierung in Kontakt stehen. Power Brokern, Geschäftsleuten, Milizenführern. Die öffentliche Ordnung weicht einem Zustand der Gewalt, in dem zusehends unklar ist, wer und in welchem Auftrag wen beseitigt und warum. Hat die afghanische Regierung überhaupt noch Einfluss? Ist das Projekt des Nation Building endgültig gescheitert? O-Ton Guido Steinberg: Der militärische Sieg der Taliban, der zeichnet sich bereits ab. Es ist in der internationalen Diplomatie häufig die Rede davon, dass die Taliban in die jetzige Regierung integriert werden. Das sehe ich so nicht. Das werden sie nicht akzeptieren. Autor: Guido Steinberg, Spezialist für den politischen Islam, von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, dem Think Tank der Bundesregierung O-Ton Guido Steinberg: Ich befürchte aber, dass, selbst wenn es zu einer Verhandlungslösung kommt, die Ergebnisse nicht lange Bestand haben werden. Die Taliban wollen die ganze Macht. Und im Moment hindert sie niemand daran, die ganze Macht zu übernehmen. O-Ton Potzel: Natürlich sind die Taliban militärisch stark. Aber ich würde nicht sagen, dass sie gewonnen haben. Die haben nur nicht verloren. Autor: Markus Potzel, Afghanistan-Sondergesandter der Bundesregierung: O-Ton Markus Potzel: Während wir als Allianz mit teilweise 150.000 Soldaten, also vor allem die Amerikaner, eben nicht gewonnen haben. Aber es gibt in so einem Krieg, glaube ich, keine Gewinner. Es gibt, glaube ich, nur Verlierer, und daher ist es wichtig, dass es eine verhandelte Lösung gibt, die dem Krieg ein Ende setzt. Das heißt, in den Gesprächen wird sich auch die Verhandlungsdelegation der Republik nur so weit bewegen, wie sie ihre roten Linien halt nicht aufgeben wollen. Also, das wird noch ziemlich lange dauern, bis beide sich so weit angenähert haben, dass sie bereit sind, Kompromisse einzugehen. Autor: Zudem ist in Afghanistan seit 2015 ein Akteur aktiv, der nicht am Verhandlungstisch in Doha sitzt: Der Islamische Staat IS. Atmo: Dorf Überall im Land haben sich diese neuen Kämpfer eingenistet, auch im einst deutschen Verantwortungsbereich, in Kundus. In einem Dorf unweit der Provinzhauptstadt sitzen im Winter 2016 Vertreter der umliegenden Gemeinden beieinander, in einem der ortsüblichen Versammlungshäuser, einem Lehmbau, der mit Teppichen ausgelegt ist. Habibullah Kaukar, ein Dorfältester: O-Ton Habibullah Kaukar Übersetzer: Der IS ist in unserer Gegend sehr aktiv. Die IS-Leute haben etwa 30 Mann und bewegen sich in zwei Geländewagen. Sie sind sehr gut organisiert. Ihre Gesichter verstecken sie hinter Tüchern. Meistens operieren sie nachts. Und was immer sie tun wollen, das tun sie auch. Autor: Von den Taliban, so der Dorfälteste, unterscheide sich der IS erheblich. Die Taliban seien von hier, teilweise seien es sogar Verwandte. Die Taliban respektierten die lokalen Eigenheiten der Bevölkerung, die Stammessitten und in Ansätzen sogar die Ausbildung von Frauen. Sie gehörten sozusagen zur Familie. Man wisse, wie mit ihnen umzugehen sei, so der Dorfälteste. O-Ton Habibullah Kaukar Übersetzer: Die vom Islamischen Staat aber sind sehr schlecht, sie sind hart. Sie erlauben niemandem, Zigaretten zu rauchen, sie erlauben Frauen nicht ohne männliche Begleitung aus dem Haus zu gehen, sie verbieten Männern, sich zu rasieren. Autor: Der Islamische Staat verfolge eine Ideologie; keine lokale Agenda, sondern eine internationale. Deshalb sehe man unter den IS-Kämpfern auch viele Ausländer, erzählt Habibullah Kaukar. O-Ton Habibullah Kaukar Übersetzer: Unter ihnen gibt es Tadschiken, Usbeken, Tschetschenen. Allein 50 tadschikische Familien sind zusammen mit den Kämpfern hierhergekommen. O-Ton Guido Steinberg: Das Besondere am IS in Afghanistan ist aber vor allem, dass er seinen Anhängern verspricht, dass ein globaler Dschihad weitergeführt werden kann. Autor: Guido Steinberg, Experte für den politischen Islam von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik: O-Ton Guido Steinberg: Wenn die Taliban das Land übernehmen, dann wird es einige geben, die den bewaffneten Kampf weiterführen wollen. Es gibt einen ordentlichen Prozentsatz von Taliban-Kämpfern, die nicht an den Grenzen Afghanistans stehen bleiben wollen. Da sprechen wir von mindestens zehn bis zwanzig Prozent. Das sind auch diejenigen, die dafür verantwortlich sind, dass internationale Gruppen aus ganz unterschiedlichen Ländern, angeführt von al Kaida, im Osten von Afghanistan immer noch aktiv sind. Und es ist zu befürchten, dass, wenn die Taliban einmal an die Regierung kommen, mit Verhandlungen oder ohne Verhandlungen, dass dann diejenigen, die den bewaffneten Kampf über Afghanistan hinaus weiterführen wollen, dass die die Nähe des IS suchen. Autor: Die Taliban im Bündnis mit dem IS? - Wird Afghanistan - nach 20 Jahren internationalem Engagement - wieder die Rekrutierungsbasis des internationalen Dschihadismus? - Der Entwicklungshelfer und ehemalige Bundeswehroberst Reinhard Erös sieht das anders. O-Ton Erös: Bei uns im Osten führen die Taliban so gut wie keine Anschläge durch. Wenn überhaupt, dann ist es der IS. Das ist wiederum etwas ganz anderes als die Taliban. Der IS, der im Osten des Landes sehr stark ist und auch in anderen Teilen des Landes, der macht dort wirklich Dinge, die die Bevölkerung nicht nur nicht versteht, die sie verabscheut. Und deshalb hat der IS auch im Osten des Landes als Hauptgegner nicht die Amerikaner, die amerikanische Luftwaffe oder Bodentruppen. Sondern die Hauptgegner des IS in Afghanistan, der dort wirklich schlimme Sachen macht bei uns im Osten, sein Hauptgegner sind die Taliban. Autor: Eins jedenfalls steht fest: Sollte die US-Armee, wie in der ersten Etappe der Doha-Verhandlungen geplant, tatsächlich im Frühjahr 2021 ihren vollständigen Abzug einleiten, dann wären ohne deren Transportkapazitäten auch die Tage für die Bundeswehr gezählt. Militärisch gesehen, so meint Thomas Ruttig vom Afghan Analysts Network, wäre es ohnedies unerheblich, ob deutsche Truppen noch da sind oder nicht. O-Ton Thomas Ruttig: Deutschland hat ja auch in den Kämpfen gegen die Taliban nicht wirklich sehr viel gemacht. Das Eigentliche ist, dass sie die eigenen Soldaten schützen. Dass sie die Afghanen schützen ist ja schon seit 15 Jahren nicht mehr der Fall. Im Moment gibt es ja keine Kampftruppen mehr. Es gibt ein paar Berater. Aber ich glaube, dass selbst vieles dieser Ausbildung wirklich nur symbolisch ist. Man sieht immer wieder Polizeiausbildung, so ein bisschen Anti-Riot, Demonstrationsbekämpfung, Schießausbildung, Marschieren, Ich glaube, da braucht man nicht wirklich deutsche Berater für. Die deutsche Mission in Afghanistan inklusive der Militärmission ist im Grunde immer noch die Mission eines Verbündeten, um die Beziehungen mit den USA aufrecht und positiv zu halten. Für Afghanistan bringt das unterm Strich leider nicht sehr viel. Autor: Franz Josef Jung, ehemaliger Verteidigungsminister, zieht nach 20 Jahren deutscher Hilfe für Afghanistan dennoch eine positive Bilanz. O-Ton Jung: Mir gibt Hoffnung, wenn ich die gesamte Entwicklung sehe in Afghanistan,. Die wesentlich positiver ist als sie bei uns in der Öffentlichkeit beschrieben wird. Auch und gerade im zivilen Bereich. Ich sage noch einmal: ich hab das in den Schulen erlebt. Ich hab das in den Krankenhäusern erlebt. Ich hab das erlebt, wie sich die Infrastruktur verbessert. Und das Entscheidende ist jetzt, dass wir die Voraussetzungen schaffen, dass Afghanistan in der Lage ist, selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Das heißt, sowohl was Streitkräfteausbildung anbetrifft als auch Polizei. Da sind wir auf einem guten Weg aus meiner Sicht. Der muss nur entsprechend auch zum Abschluss geführt werden. Autor: Knapp 3.600 Soldaten der westlichen Allianz sind seit Beginn der Mission, 2001 in Afghanistan ums Leben gekommen. Unter ihnen 59 Angehörige der Bundeswehr. Die Zahl der getöteten Afghanen ist unbekannt. Sie dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Seit 2001 hat Deutschland, laut einer Auskunft des Auswärtigen Amtes rund 16,4 Milliarden Euro in Afghanistan investiert, die USA etwa 100mal soviel. Das Ziel war nicht nur Terrorbekämpfung. Es bestand vor allem auch in einem Gegenentwurf zum religiösen Totalitarismus: Meinungsfreiheit, Rechtsstaat, Gleichberechtigung von Mann und Frau. Bildung für alle. Was sich der Buchhaltung entzieht, das ist das Engagement aller die in Afghanistan für diese Ideale eingetreten sind. Und unbeirrt weiter für diese eintreten. Egal wie die Friedensverhandlungen ausgehen - Reinhard Erös glaubt, seine Projekte so aufgestellt zu haben, dass sie auf jeden Fall weiter arbeiten könnten. Ganz ohne Militärschutz, Mauern oder Stacheldrahtverhaue. Und auch in einer so unsicheren Gegend wie Ostafghanistan. O-Ton Erös: Auch da läuft die Arbeit von beiden Seiten. Was meine Gespräche mit den Kommandeuren der US-Truppen betrifft. Und mit den Taliban haben wir sowieso all unsere Projekte vorher immer abgesprochen. Absage: Der verlorene Frieden - Deutschlands Einsatz in Afghanistan Feature Serie von Marc Thörner Folge 6 - Countdown Es sprachen Jean Paul Baeck, Martin Bross, Jochen Langner, Marion Mainka, Volker Risch, Katerina Wolter und der Autor Ton und Technik: Gunther Rose und Oliver Dannert Regie: Matthias Kapohl Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2021 Alle Folgen auf hoerspielundfeature.de 1